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Innenpolitik

Alle sind verdächtig

Von Harry Tuttle | 01.04.2009

Immer tiefer greifen Staat und Unternehmen in das Privatleben ein. Denn die Marginalisierten sollen schärfer kontrolliert, die Lohnabhängigen zu Leistungssteigerung und Demut gezwungen werden.

Immer tiefer greifen Staat und Unternehmen in das Privatleben ein. Denn die Marginalisierten sollen schärfer kontrolliert, die Lohnabhängigen zu Leistungssteigerung und Demut gezwungen werden.

Auch Linke und Bürgerrechtler sind sicherlich der Ansicht, dass „die Herbeiführung einer nuklearen Explosion“ eine Straftat ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob dies eigens festgestellt werden muss, da Massenmord ja ohnehin verboten ist. Schwerer ersichtlich ist, warum mit Gefängnis bestraft werden kann, wer sich für seinen Esel keine gültigen Papiere besorgt hat oder ein ausländisches Eichhörnchen verkauft.

Neben diesen drei hat die britische Labour-Regierung seit ihrem Wahlsieg im Jahr 1997 noch 1 033 weitere Vergehen erfunden, die mit Gefängnis bestraft werden können. Dies teilte die Regierung auf eine Anfrage von Baroness Stern, einer Abgeordneten im House of Lords, mit. Etwa 2 000 weitere neue Vergehen gelten als weniger schwerwiegend, in diesen Fällen drohen den Tätern Geldstrafen oder Arbeitsauflagen. Zunächst mag es erscheinen, als werde hier die ehrenwerte Tradition des britischen Spleens gepflegt. Doch längst nicht alle neuen Gesetze sind Kuriositäten.

Vergleichsweise große Aufmerksamkeit erregen repressive Maßnahmen im „Krieg gegen den Terror“, doch die Labour-Regierung führt auch andere Feldzüge, so gibt es einen „Krieg gegen die Jugend“ und einen „Krieg gegen die Unangepassten“. Mehr als vier Millionen (!) Überwachungskameras gestatten es den Ordnungshütern, weite Bereiche des städtischen Großbritannien zu beobachten. Wer Kameras, Polizisten oder auch denunziationsfreudigen Nachbarn und Passanten auffällt, muss mit einem „Erlass gegen antisoziales Verhalten“ (Asbo) rechnen. Als „antisozial“ gilt ein Verhalten, „das Bedrohung, Angst oder Verzweiflung bei mindestens einer Person auslöst oder geeignet ist, die­se zu verursachen“. In der Regel wird zunächst eine Anordnung zugestellt, die dem Delinquenten mitteilt, was er unterlassen soll. Uneinsichtigen droht meist ein Arbeitsdienst, doch können „Antisoziale“ auch mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden.

Asbos werden ausgestellt gegen Bettler und Obdachlose, aber auch gegen spielende Kinder und Jugendliche, die in Gruppen herumstehen, denn „Lärmbelästigung“ ist „antisozial“, und eine Gruppe von Jugendlichen könnte ja jemanden verängstigen. Ein Sechsjähriger wurde festgenommen, weil er mit einer Gurkenscheibe geworfen hatte. Das ist legal, denn seit der Verabschiedung des Serious Organised Crime and Police Act 2005 kann eine Festnahme auch wegen der geringfügigsten Vergehen erfolgen.
Mütter im Gefängnis
Extreme Fälle werden in der britischen Presse kritisiert, das Prinzip der Asbos wird jedoch weithin akzeptiert. Die Erlasse richten sich vornehmlich gegen die unteren Schichten der Lohnabhängigen, Arbeitslose und sozial Marginalisierte. Seit dem Jahr 2002 wurden 58 000 Eltern belangt, knapp 3 000 mussten Geldstrafen zahlen und 131 Menschen, überwiegend alleinerziehende Mütter, wurden inhaftiert, weil ihre Kinder die Schule schwänzten. Rose Connor musste 2006 ins Gefängnis, obwohl sie im siebenten Monat schwanger war. „Wir wurden zum Sündenbock gemacht“, erzählte sie später BBC News. „Es ging um Publizität, um die Botschaft bekannt zu machen.“

Die Botschaft ist: Passe dich an. Wohl nirgendwo in der westlichen Welt ist der Leistungsdruck auf Kinder so groß wie in Großbritannien. Fünfjährige zeigen Stress­symptome, weil in diesem Alter die erste wichtige Prüfung ansteht, die über den weiteren Lebensweg entscheidet. Ein Jugendlicher, der an der Straßenecke herumsteht, ist schon deshalb verdächtig, weil er nicht daheim lernt.

„Es gibt keine Pause im Kampf gegen antisoziales Benehmen“, sagte die britische Innenminister­in Jacqui Smith im vergangenen Jahr. Sie propagiert die Methode „frame and shame“ (etwa: einengen und beschämen). „Sie filmen, an ihre Türen klopfen, ihnen auf die Grundstücke folgen, sie immer wieder durchsuchen“, fasst ein Polizeisprecher die Taktik zusammen.
Adel verpflichtet
„Wenn ich das in anderen Ländern erzähle, fällt es vielen schwer, das zu glauben“, sagte Baroness Stern. Derzeit sind es neben liberalen Publizisten vor allem die Lords und Ladies im Oberhaus, einst ein Refugium der reaktionären Oligarchie, die die Bürgerrechte verteidigen. Anfang Februar kritisierten sie in einem überparteilichen Bericht die ausufernden Überwachungsmaßnahmen und stellten fest, dass die Privatsphäre eine „wichtige Voraussetzung für die Ausübung individueller Freiheiten“ ist. Zuvor hatte Lady Eliza Manningham-Buller, ehemalige Leiterin des Inlandsgeheimdienstes MI5, auf die „Bedeutung unserer hart erkämpften bürgerlichen Freiheiten“ hingewiesen.

Dass Adlige und Geheimdienstchefs die Freiheit gegen eine Labour-Regierung verteidigen, dürfte auch jene erstaunen, die keine Illusionen in die Sozialdemokratie hegen. Doch die autoritären Maßnahmen sind die konsequenteste Verwirklichung einer Politik, die in allen westlichen Staaten zu beobachten ist. Die vornehmlich von der 68er-Bewegung erkämpfte relativ tolerante Gesellschaft wird durch einen neopuritanischen Kontrollstaat ersetzt. Da der durchschnittliche Bürger als nicht ausreichend gerüstet für die Anforderungen des Kapitalismus gilt, sollen Staat und Unternehmen ihm auf die Sprünge helfen.

Das ist ein offizielles Programm der EU. Es genügt nicht mehr, wenn die Lohnabhängigen einfach nur schuften. EU-Politiker, Bürokraten und Unternehmer nennen sie „Humankapital“, und von diesem Kapital wird erwartet, dass es seinen Wert ständig steigert. Im Bericht der Bundesregierung zur „Implementierung von Strategien für das lebenslange Lernen“ heißt es: „Die Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit der Menschen für eine wettbewerbsfähige und dynamische Wirtschaft in Europa zu stärken, ist ein gemeinsames Anliegen.“ Der Staat fühlt sich wieder für die „Förderung der Persönlichkeitsentwicklung“ zuständig.
Schulschwänzer als Staatsfeinde
Der Lohnabhängige soll für weniger Geld mehr arbeiten, er bildet sich zur Aufwertung seiner Arbeitskraft in seiner Freizeit auf eigene Kosten fort („lebenslanges Lernen“, nicht zu verwechseln mit unnützer Bildung), ist aber nicht so unverschämt, dafür mehr Geld zu verlangen. Er treibt Sport, nicht weil er Spaß daran hat, sondern um seinem Unternehmen nicht durch eine Krankheit zur Last zu fallen. Selbstverständlich zieht er mindestens zwei Kinder groß und lehrt sie „Bes
chäftigungs- und Anpassungsfähigkeit“. Er vermeidet „antisoziales Verhalten“, vielmehr übt er eine ehrenamtliche Tätigkeit aus, denn der Staat kann ja nicht alles bezahlen.
Die gezielte Überforderung ist eine Strategie des modernen Managements. Der Lohnabhängige darf nie glauben, er habe genug getan und müsse seine Arbeitsleistung nicht weiter erhöhen. Die EU-Politik dehnt diese Anforderungen auf die Freizeit aus und macht sie zur Staatsdoktrin. Wer diesem Anforderungen nicht genügen kann oder will, macht sich verdächtig. Deshalb werden Eltern, die ihren renitenten Teenie nicht vom Sinn eines regelmäßigen Schulbesuchs überzeugen können und Jugendliche, die an der Straßenecke Bier trinken, statt zu büffeln, zu „antisozialen“ Staatsfeinden erklärt.

Der erhöhte Anpassungsdruck erfordert auch erweiterte Überwachungsmaßnahmen. Es ist kein Zufall, dass sich die Datenschutz­skandale in deutschen Unternehmen mehren. Die Lohnabhängigen sollen immer beobachtet werden oder wenigstens das Gefühl haben, sie würden überwacht. Selbst der Skandal erfüllt noch einen Zweck, denn ernsthafte Sanktionen drohen den Managern nicht, während bei den Lohnabhängigen die Ahnung zurückbleibt, dass selbst die kleinste Unachtsamkeit oder nicht genehmigte Erholungspause bemerkt wird.
Verdächtiges Stöhnen
In der EU ist derzeit vornehmlich der Staat für Maßnahmen zur Kontrolle der Lohnabhängigen zuständig. In den USA liegt die führende Rolle bei den Unternehmen. In 20 Bundesstaaten ist es legal, Lohnabhängige zu entlassen, wenn sie in ihrer Freizeit rauchen. Das wird mit Urintests überprüft. Auch Übergewicht wollen viele Unternehmer nicht mehr dulden. Wohl am härtesten trifft der bourgeoise Tugendterror die etwa 1,3 Millionen Angestellten der Discounterkette Walmart. Bis nach Guatemala schickte das Management seine Detektive, damit sie an einer Hotelzimmertür lauschen konnten. Das dahinter zu vernehmende Stöhnen galt als Beweis einer sexuellen Beziehung zweier Angestellter, und so etwas verbietet die „Unternehmensethik“ von Walmart, wenn ein Partner die Arbeitsbedingungen des anderen beeinflussen kann.

Im Rahmen des „Personal Sustainability Project“ werden die Mitarbeiter „ermutigt“, sich auf persönliche gesundheitsfördernde Ziele zu verpflichten. Die Erfolgsmeldungen erinnern an die stalinistische Propaganda. So wird berichtet, dass die Angestellten „kollektiv mehr als 2 000 Pfund – eine Tonne – durch gesünderes Essen und mehr Gymnastik verloren“ haben. Weil genug nie genügen kann, wurde „gelobt, mehr zu trainieren“. Natürlich in den Arbeitspausen und der Freizeit.

Wenn der Lissabonner Vertrag verabschiedet wird, dürfte eine derartige Gängelung auch in europäischen Unternehmen um sich greifen. Dort wird die „unternehmerische Freiheit“ unter den Menschrechten aufgeführt. Bereits jetzt klagen Unternehmen unter Berufung auf die Menschrechte, in Großbritannien wird ein Gesetz gegen das Stalking genutzt, wenn sich Manager durch Proteste belästigt fühlen.

Noch stellt der neopuritanische Kontrollstaat die Grundlagen der bürgerlichen Demokratie nicht offen in Frage. Bei der Elternhaftung für schwänzende Kinder wird jedoch ein zentrales Prinzip gebrochen, da ein Mensch für das Vergehen eines anderen bestraft wird. Die Unschuldsvermutung wird durch Überwachungsmaßnahmen faktisch entwertet, denn verdächtig ist erst einmal jeder. Mehr und mehr verbreitet sich die Ansicht, die Unterschicht der „gefährlichen Armen“ müsse schärfer kontrolliert und reglementiert werden. Die Lohnabhängigen müssen, um ihre Arbeitskraft verkaufen zu können, wohl immer häufiger ein Bekenntnis ablegen und ihre Lebensweise ändern, von den Essgewohnheiten bis zur Sexualität. Denn eine „proletarische Freiheit“ sieht der Vertrag von Lissabon nicht vor.

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