TEILEN
Länder

Epidemiologie, Ökonomie und Rassismus

Von Thadeus Pato | 01.06.2009

Würde man die Gefährlichkeit von Erkrankungen an der Zahl der Artikel in der Presse messen, die sich damit befassen, so könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die so genannte Schweinegrippe die derzeit weltweit größte Bedrohung der Volksgesundheit darstellt. Aber das ist natürlich Unsinn.

Würde man die Gefährlichkeit von Erkrankungen an der Zahl der Artikel in der Presse messen, die sich damit befassen, so könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die so genannte Schweinegrippe die derzeit weltweit größte Bedrohung der Volksgesundheit darstellt. Aber das ist natürlich Unsinn.

Influenzaepidemien gibt es seit jeher in großer Regelmäßigkeit. Bei der so genannten Grippe handelt es sich um eine Viruserkrankung, die eine hohe Übertragbarkeit aufweist und deshalb zu epidemischem und pandemischem Auftreten neigt. In der Regel hinterlässt sie eine mehr oder weniger ausgeprägte Immunität. Allerdings haben Grippeviren die unangenehme Eigenschaft, dass sie ausgeprägt mutationsfreudig sind, das heißt, sie können ihr Erbgut so verändern, dass eine Immunität gegen das Grippevirus vom letzten Jahr gegen den Erreger von diesem Jahr nichts mehr hilft, und demgemäß auch die Impfung nicht, da die Impfstoffe ja immer nur auf der Basis der jeweils existierenden Viren produziert werden können. Insbesondere die Influenza A (man unterscheidet die Typen A, B und C) weist diese hohe Mutationstendenz auf. Immer dann, wenn eine wesentliche Mutation der Erreger stattgefunden hat, kann es zu einer Pandemie, das heißt, zu einem weltweiten massenhaften Auftreten der Erkrankung kommen. Weltweite Ausbrüche gab es 1889, 1918 (sog. Spanische Grippe), 1957 (sog. Asiatische Grippe), 1968 (Hongkong-Grippe) und 1977 (sog. Russische Grippe).

Nun ist die Influenza allerdings keine besonders aggressive Erkrankung. Nicht abwehrgeschwächte Menschen überstehen sie in der Regel ohne große Probleme. Selbst bei der größten bekannten Pandemie, der von 1918/19, war zwar die Zahl der weltweit Verstorbenen mit ca. 50 Millionen einerseits gewaltig, andererseits lag im Vergleich zur Zahl der Infizierten die Sterblichkeit lediglich bei 0,2 Prozent. Hinzuweisen ist außerdem darauf, dass die damalige Pandemie am Ende des ersten Weltkrieges auf eine erheblich abwehrgeschwächte Bevölkerung traf.

Betrachtet man sich die derzeit geschürte Hysterie, so stellt sich die Frage, warum um eine neue Grippevariante, die (irreführenderweise) Schweinegrippe genannt wird, ein derartiges Geschrei gemacht wird.
Woher kommt die „Schweinegrippe“?
Die neue Virusvariante besteht aus Erbgutanteilen aus vier verschiedenen Ursprüngen. Eine solche Kombination war bisher noch nicht bekannt. Die einzelnen Bestandteile stammen von einem nordamerikanischen Schweine-Influenzavirus, dem Virus einer nordamerikanischen Vogel-Influenza, einem menschlichen Influenzavirus und einem Schweine-Influenzavirus aus Eurasien, das bis dahin in den USA nicht aufgetreten war. Im Gegensatz zu der irreführenden Bezeichnung „Schweinegrippe“ stammt das Genom im Wesentlichen von unter Menschen verbreiteten Varianten und wurde bisher auch nur von Mensch zu Mensch übertragen, wobei inzwischen aus Kanada ein Fall der Übertragung von Mensch auf Schwein dokumentiert ist.

So alarmiert sind die Epidemiologen unter anderem deshalb, weil die Virusvariante, die die Vogelgrippe hervorruft, die bisher aggressivste Form darstellte mit einer Sterblichkeit beim Menschen von über 50 Prozent. Allerdings gab es bei ihr bisher keine Übertragung vom Menschen auf den Menschen. Das ist bei der neuen Form offensichtlich anders.
Soweit bisher bekannt, unterscheiden sich allerdings Symptome und Sterblichkeit bei der neuen Variante nicht von denen der jährlich wiederkehrenden Influenzawellen.

Wie in solchen Fällen üblich, tauchten in den letzten Wochen eine ganze Reihe mehr oder weniger absurder Verschwörungstheorien auf, wie die der gezielten Züchtung im Labor, die aber alle keinerlei Plausibilität aufweisen.

Eine der ernster zu nehmenden Vermutungen, auf die auch die mexikanische PRT (Organisation der Vierten Internationale) in ihrem Statement hinweist, betreffend die Entstehung des neuen Virustyps, stellt auf die Massenhaltung und -züchtung von Schweinen in Mexiko ab. Schweine stellen prinzipiell ein Reservoir für alle drei im jetzigen Virustyp in Teilen enthaltenen Formen dar, so dass der genetische Austausch durchaus in Schweinen stattgefunden haben kann. Gestützt wird diese Vermutung durch die Tatsache, dass im Gebiet des ersten Auftretens in Mexiko einer der größten Schweinemastbetriebe der Welt, mitbetrieben von einem US-Multi, liegt.
In der gleichen Region gibt es, was weniger bekannt ist, auch große Geflügelfarmen. Vor Ausbruch der Grippewelle kamen Informationen an die Öffentlichkeit, dass es dort Fälle von Vogelgrippe unter dem Geflügel gegeben hatte, die geheim gehalten wurden.

Dass die Massentierhaltung bei der Ausbreitung derartiger Erreger ein grundsätzliches Problem darstellt, ist unbestreitbar. Insofern spielt die Massentierhaltung vermutlich auch bei der Entstehung, aber sicher bei der Ausbreitung entsprechender neuer Erregerstämme eine große Rolle.

Tatsache ist jedenfalls, dass in der entsprechenden Region (im Staat Vera Cruz) in Mexiko Ende 2008 nach den Daten der Gesundheitsbehörden 60 Prozent der Bevölkerung von einer atypischen Atemwegsinfektion unbekannten Ursprungs betroffen waren.
Alarm warum?
Sieht man sich die derzeitigen Erkrankungszahlen und insbesondere die Zahl der Todesfälle an, so muss man feststellen, dass die Hysterie gesundheitspolitisch bisher nicht berechtigt ist. An der „normalen“ Influenza sterben beispielsweise pro Jahr allein in den USA 36 000 Menschen. An der so genannten Schweinegrippe sind dort bisher 2 Menschen verstorben. Warum also der Großalarm der Weltgesundheitsorganisation (WHO)?

Für den derzeitigen Influenza-Hype gibt es nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe von Gründen. Die wichtigsten:

Im „worst case“ könnte das neue Virus die hohe Ansteckbarkeit der „herkömmlichen“ Influenza mit der Aggressivität der Vogelgrippe kombinieren und somit eine weit höhere Sterblichkeit aufweisen als die bisherigen Formen.

Für die Impfstoffindustrie, die in solchen Fällen direkt mit den staatlichen Gesundheitsdiensten zusammenarbeitet, ist eine Pandemie ein gigantisches Geschäft, schon die Drohung genügt, um den Absatz von Grippemitteln wie den von Impfstoffen (die derzeit mit Hochdruck entwickelt werden) explodieren zu lassen. Die Industrie hat jedes Interesse daran, die Hysterie zu schüren. Das ist ihr bereits einmal gelungen: 1976 kam es zu einem lokalen Ausbruch einer neuen Virusvariante bei US-Soldaten in Fort Dix, New Jersey. Die Gesundheitsbehörden der Vereinigten Staaten starteten ein Impfstoffproduktionsprogramm und eine öffentliche Kampagne. Bis Mitte Dezember 1976 waren 40 Millionen US-Amerikaner geimpft – damals die größte Impfkampagne der Geschichte. Anschließend wurde bekannt, dass einige Geimpfte ein so
genanntes Guillain-Barré-Syndrom entwickelt hatten. Für diese Erkrankung, bei der es sich um ein Autoimmunphänomen handelt, bei dem der Körper Antikörper gegen die eigenen Nervenzellen entwickelt, werden auch Impfstoffe verantwortlich gemacht. In den fünfziger Jahren wurde in den USA ein Impfstoff deswegen vom Markt genommen.

Auch für die Produzenten von antiviralen Medikamenten wie Oseltamivir ist eine Pandemie, ob sie nun eintritt oder nicht, ein gigantisches Geschäft. Dabei sollten die Mittel eigentlich sehr differenziert eingesetzt werden: Zum einen ist die Gefahr der Resistenzentwicklung hoch. Aus den vorläufigen Daten zur Grippesaison 2008/2009 zogen Forscher in den USA den Schluss, dass etwa 98 % der von ihnen isolierten A/H1N1-Virusproben gegen Oseltamivir (Handelsname: Tamiflu) resistent waren. Auch Daten der WHO von März 2009 bestätigen bei 1 291 von 1 362 Proben aus 30 Ländern die hohe Resistenzbildung gegen Grippemittel in der Grippesaison 2008/2009. Hinzukommt, dass es sich bei den so genannten Virustatika um keine harmlosen Mittel handelt. Oseltamivir (Tamiflu) hat bei Kindern möglicherweise Bewusstseinsstörungen und Wahnvorstellungen zur Folge. Nach der Prüfung von mehr als 100 Fällen von abnormem Verhalten, darunter drei mit tödlichen Folgen, sprachen sich Gesundheitsexperten in den USA dafür aus, auf der Verpackung die Überwachung von Tamiflu-Patienten zu empfehlen.

Für die internationale Phalanx der industriellen Fleischproduzenten wäre ihre Geschäftsgrundlage unmittelbar bedroht. Massenschlachtungen wie seinerzeit bei Ausbruch der Vogelgrippe in Hongkong wären für sie eine ökonomische Katastrophe. Und die Massentierhaltung als solche würde zwangsläufig öffentlich diskutiert – das wollen sie um jeden Preis verhindern.
Bei einer Grippe-Pandemie handelt es sich um ein Geschehen, das auch die Länder des Nordens unmittelbar betrifft und nicht nur gesundheitliche, sondern durch den entsprechenden temporären massenhaften Ausfall von Arbeitskräften auch erhebliche ökonomische Folgen haben kann. Es handelt sich um eine Krankheit, die nicht daran denkt, sich auf die Länder des Südens zu beschränken…

Daneben kommt natürlich in der derzeitigen politischen und ökonomischen Situation den Politikern ein Thema sehr gelegen, das von der desolaten Gesamtsituation ablenkt und bei dem man sich als handlungsfähig präsentieren kann; und die einschlägigen Professionellen in den Forschungseinrichtungen sind ebenfalls dankbar für die plötzlich reichlich sprudelnden Mittel.

Nun muss man daran erinnern, dass jedes Jahr Millionen von Menschen nicht nur an Hunger, sondern auch an banalen, gut behandelbaren Erkrankungen sterben – allerdings nicht in den imperialistischen Metropolen, sondern in der Peripherie. Dass für die drohende Grippepandemie bereits nach wenigen Erkrankungsfällen Millionensummen ausgegeben und weltweite Programme angeschoben werden, mag vom epidemiologischen Standpunkt aus plausibel sein, aber es zeigt gleichzeitig den dieser Art von Gesundheits- und Gesellschaftspolitik innewohnenden Rassismus. Wenn jedes Jahr weltweit mindestens 1,6 bis 3 Millionen Menschen an Tuberkulose, und 1,5 bis 2,7 Millionen an Malaria sterben, an Krankheiten also, die gut behandel- und verhinderbar wären, von den 8,8 Millionen, die jährlich Hungers sterben, ganz zu schweigen, dann gibt es keine gigantischen Sofortprogramme, keine Vorratshaltung an Medikamenten, keine kostenlosen Massenimpfungen, keine Forschungsgelder in annähernd vergleichbarer Höhe.

Aber an den Leuten ist ja auch nichts zu verdienen.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite