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USA: Panik im Hühnerstall

Von Harry Tuttle | 01.06.2009

Die Zahl der verarmten Amerikaner­­Innen wächst, das US-Sozialversicherungssystem bricht zusammen. Während die republikanische Rechte zum Kampf gegen die Gewerkschaften bläst, hofft die Linke auf Reformen.

Die Zahl der verarmten Amerikaner­­Innen wächst, das US-Sozialversicherungssystem bricht zusammen. Während die republikanische Rechte zum Kampf gegen die Gewerkschaften bläst, hofft die Linke auf Reformen.

Den „Untergang einer Zivilisation” prophezeit Bernie Marcus, Milliardär und Mitbesitzer der US-Baumarktkette Home Depot. Newt Gingrich, Ideologe der Republikanischen Partei, sieht „eine tödliche Gefahr für die Freiheit Amerikas” und John Rutledge vom rechten Fernsehsender Fox News spricht von „Gestapo-Taktiken”. Der Kampf werde „ein Feuersturm, der an das Armageddon grenzt”, meint Randel Johnson von der US-Handelskammer.

Man könnte meinen, es drohe ein Angriff mit Atombomben bewaffneter Jihadisten auf die USA. Doch der Zorn der Konservativen gilt einem schlichten Gesetzentwurf, dem Employee Free Choice Act (EFCA). Der Milliardär Sheldon Alderson sieht da keinen Unterschied, es gebe „zwei fundamentale Bedrohungen“ für die USA, den „radikalen Islam“ und EFCA. Ihm sprachen die Mitglieder des Gewerkschaftsverbands AFL-CIO bei einer Online-Abstimmung den „Chicken Little Sky Is Falling Bizarre Corporate Panic Over Workers’ Rights Award“ zu, frei übersetzt den Preis für das aufgescheuchteste Huhn im Unternehmerstall, das in Panik verfällt, weil den Lohnabhängigen die Wahrnehmung eines elementaren Rechts erleichtert werden soll.

Wer derzeit in den USA eine betriebliche Gewerkschaftsgruppe gründen will, muss zunächst die Mehrheit der Beschäftigten gewinnen. Wenn diese sich in einer geheimen Abstimmung für die gewerkschaftliche Organisierung aussprechen, organisiert die Behörde National Labor Relations Board eine Wahl. Das dauert mehrere Monate.

Der nunmehr alarmierte Unternehmer weiß, was ihm blüht und ergreift in der Regel Gegenmaßnahmen. Es beginnt die Zeit des Mobbings, der Drohungen und Kündigungen. Meist gelingt es, die gewerkschaftliche Organisierung zu unterbinden. Jeder fünfte gewerkschaftliche Organizer wird entlassen. Diese Praxis wird durch den dürftigen Kündigungsschutz begünstigt.

Der Kernpunkt des EFCA ist eine Regelung, die die Gründung betrieblicher Gewerkschaftsgruppen erleichtert. In Zukunft soll es genügen, dass die Mehrheit der Beschäftigten eine Karte einreicht, dann beginnen die Wahlen für den Betriebsrat. Nach Angaben der Gewerkschaften liegen bereits mehrere Millionen ausgefüllter Karten bereit, gänzlich unberechtigt sind die apokalyptischen Visionen der Unternehmer und ihrer Propagandisten daher nicht. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in der Privatwirtschaft, derzeit sieben Prozent, könnte innerhalb weniger Wochen rasant steigen.

Präsident Barack Obama befürwortet die Reform, die für ihn den immensen Vorteil hat, dass sie die Regierung nichts kostet, die wegen der gewaltigen Subventionen für die Finanzbranche wachsenden Zweifel am versprochenen Wandel hingegen dämpfen könnte. Das Gesetz wird derzeit im Kongress debattiert, doch obwohl die Demokraten in beiden Kammern die Mehrheit haben, ist eine Verabschiedung nicht sicher. Es gibt auch gewerkschaftsfeindliche Demokrat­­Innen, und die Krise gilt der Unternehmerlobby als zusätzliches Argument gegen das Gesetz.
Seepocken im Nacken
Die republikanische Rechte will überdies die Gelegenheit nutzen, die Gewerkschaften aus den wenigen Branchen, in denen sie großen Einfluss haben, zu verdrängen. „Was gut ist für General Motors, ist auch gut für Amerika”, lautete einst das patriotische Motto. Doch nunmehr stellen sich die Republikaner gegen die „Big Three” der US-Autoindustrie (GM, Ford und Chrysler) auf die Seite der „Großen Drei” der deutschen Autokonzerne VW, BMW und Mercedes, deren Manager daheim gerne von Sozialpartnerschaft schwatzen, in den USA hingegen ausschließlich in den gewerkschaftsfreien Zonen der Südstaaten produzieren lassen. Senator Jim DeMint (South Carolina, BMW) bezeichnete die Gewerkschaften als „Seepocken, die sich am Nacken der Industrie festgesetzt haben.“ Wie zahlreiche andere Republikaner wünscht er die Insolvenz der Big Three, denn in einem solchen Fall gestattet das US-Recht, bestehende Tarifverträge aufzuheben.

Die Krise hat jedoch nur eine Entwicklung beschleunigt und verstärkt, die bereits zuvor begann. Mitte der dreißiger Jahre war es den Gewerkschaften gelungen, mit Streiks und Betriebsbesetzungen elementare Rechte zu erkämpfen. In einer Reihe von Arbeitskämpfen gelang es in den folgenden Jahrzehnten, relativ hohe Löhne und eine betriebliche Sozialversicherung durchzusetzen. Für die Beschäftigten einiger traditioneller Kernbranchen (Auto- und Stahlindustrie, Transportwesen) ersetzte die betriebliche Versicherung staatliche Sozialleistungen. Die prekär Beschäftigten, Angestellte von Kleinbetrieben und zahlreiche andere Gruppen von Lohnabhängigen blieben von diesem System ausgeschlossen. Seit einigen Jahren versuchen die Manager­­Innen der Großkonzerne, sich der ungeliebten Versicherungssysteme zu entledigen.

Im Jahr 1970 arbeiteten noch fast eine halbe Million gewerkschaftlich organisierte Amerikaner bei GM. Knapp 40 Jahre später waren es noch 73 000, doch musste der Konzern auch für die Sozialausgaben ehemals Beschäftigter aufkommen, was den Aktienkurs nach Ansicht der Manager ungebührlich drückte. Im Jahr 2007 übernahm die Gewerkschaft United Auto Workers den Sozialfonds Veba (Voluntary Employees’ Beneficiary Association), ausgestattet mit 55 Milliarden Dollar, obwohl bekannt war, dass eine ähnliche Regelung bei Caterpillar bereits dazu geführt hatte, dass die Gewerkschaft einer drastischen Lohnsenkung zustimmte, weil der Fonds in Zahlungsschwierigkeiten geraten war. Die Finanzkrise verschärfte das Problem, denn der Veba und fast alle anderen „kapitalgedeckten“ Sozialversicherungsfonds verloren immens an Wert.
Arbeiten und hungern
Über eine mangelnde Kompromissbereitschaft der Gewerkschaften können sich Regierung und Unternehmer­­Innen eigentlich nicht beklagen. Die UAW stimmte auch einer Regelung zu, die Neueingestellten nur noch den halben Lohn zuspricht, und ist bei den Verhandlungen über die Rettung der Big Three zu weiteren Zugeständnissen bereit. Nicht anders als in Deutschland behindern Betriebsborniertheit und nationalistisches Standortdenken die Organisierung einer gemeinsamen Gegenwehr, die bei einem Weltkonzern nur auf internationaler Ebene erfolgreich sein kann. Dennoch kann nur gewerkschaftlicher Widerstand verhindern, dass sich die Zahl der verarmten Amerikaner um weitere Millionen erhöht.

Den offiziellen Statistiken zufolge haben mehr als 500 000 Amerikaner­­Innen infolge der Krise bereits ihren Job verloren. Aber auch denen, die Arbeit haben, drohen drastische Lohnkürzungen und der Verlust des Versicherungsschutzes. Die Zahl der Obdachlosen hat sich bereits drastis
ch erhöht, etwa eine Million Amerikaner­­Innen mussten ihre Häuser räumen, weil sie die Schulden nicht mehr abzahlen können.

Auch hier hat die Krise bereits zuvor erkennbare Entwicklungen nur beschleunigt und verschärft. Die „working poor“, die trotz einer Lohnarbeit sogar Nahrungsmittelhilfe benötigen, sind kein neues Phänomen. Die New York Food Bank versorgt 1,5 Millionen Einwohner der Stadt, und im Jahr 2007 ergab die Studie New York Hunger Safety Net, dass 35 Prozent der Haushalte mit einem Arbeitseinkommen „Probleme haben, sich die benötigten Nahrungsmittel leisten zu können.“ Die Zahl der Bedürftigen hatte sich innerhalb von vier Jahren verdoppelt – bereits vor der Krise.
Streit in der Bourgeoisie
Für die, die bereits arm waren, ändert sich, ähnlich wie für deutsche Hartz-IV-Empfänger­­Innen vorerst wenig. Die Krise beschleunigt jedoch einen Trend, der bereits in den Jahren des Booms deutlich wurde. Selbst Fließbandarbeiter­­Innen konnten es in den fünfziger bis achtziger Jahren zu bescheidenem Wohlstand bringen. Nun fällt für eine ständig wachsende Zahl von Lohnabhängigen der Lebensstandard wieder auf das Niveau der einfachen Reproduktion oder noch darunter.

Der Zusammenbruch des privatwirtschaftlichen Sozialversicherungssystems und die schnell wachsende Zahl der Verelendeten bereiten auch zahlreichen Managern und Politikern Sorgen. Streiks sind in den USA relativ selten, kommt es jedoch zum Arbeitskampf, wird er oft mit großer Härte und Konsequenz geführt. Auch Aufstände in den Armenvierteln sind möglich. Überdies stellt die Verarmung die gesellschaftliche Produktivität in Frage. Viele Großkonzerne unterstützen Obamas Pläne, das Gesundheitssystem zu reformieren. Schließlich brauchen die Unternehmer gesunde Arbeitskräfte, bezahlen wollen sie dafür allerdings nicht.
Über die angemessene Reaktion auf die Krise gibt es auch Streit innerhalb der Bourgeoisie. Unternehmer, die ein der deutschen „Sozialpartnerschaft“ ähnliches Modell befürworten, stehen Gewerkschaftsfeinden gegenüber. Industriemanager sehen nicht ein, warum sie fast leer ausgehen und die Banken ihnen keinen Kredit geben, obwohl sie mehrere Billionen Dollar Staatshilfe und -bürgschaften erhalten haben. Vergleichbare Konstellationen erleichterten es Franklin D. Roosevelt in den dreißiger Jahren, gegen den erbitterten Widerstand reaktionärer Kreise bedeutende Sozialreformen durchzusetzen.

Die meisten US-Gewerkschaftsbürokraten sind den Demokraten ähnlich eng verbunden wie die DGB-Führung der SPD. Auch die meisten linken Gruppen, einschließlich radikalerer Basisorganisationen, unterstützen Obama. Eine unabhängige und außerparlamentarische Widerstandsbewegung ist daher vorerst nicht zu erwarten. Andererseits hat Obama Erwartungen geweckt, die seine Regierung unter Druck setzen. Da überdies die Republikaner, denen Obama eine Zusammenarbeit angeboten hat, in geradezu hysterischer Manier gegen ihn zu Felde ziehen und absehbar ist, dass Subventionen für die Finanzbranche nicht genügen werden, um die Krise zu bekämpfen, könnte der Präsident sich für eine sozialpopulistische Politik entscheiden: Obama und „the people“ (Gewerkschaften, Basisgruppen und Teile der Bourgeoisie) gegen die Oligarchie der Wall Street.

Das ist nicht gerade eine Idealvorstellung für revolutionäre Sozialist­­Innen, doch würden Sozialreformen nicht nur das Leben vieler Millionen Amerikaner verbessern, die mit ihnen einhergehende Organisierung schüfe auch bessere Ausgangsbedingungen für weiter gehende Kämpfe.

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