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Iran: Rebellion für die Freiheit

Von Harry Tuttle | 01.07.2009

Millionen Menschen protestieren im Iran gegen die Wahlfarce, das Regime ist gespalten. Ist eine zweite Revolution möglich?

Millionen Menschen protestieren im Iran gegen die Wahlfarce, das Regime ist gespalten. Ist eine zweite Revolution möglich?

Die Protestierenden sind friedlich, aber nicht wehrlos. Besonders verhasst sind die Basijis, die Milizionäre, die mit ihren Motorrädern in die Menge preschen, ein Mann am Lenker, ein zweiter knüppelschwingend auf dem Soziussitz. Viele wagten sich jedoch zu weit in die Menge, sie wurden verprügelt und ihre Motorräder angezündet. Mehrere Millionen protestierten gegen die Manipulation der Wahl am 12. Juni. Demonstriert wurde nicht nur in der Hauptstadt Teheran, auch in Isfahan, Shiraz und anderen Großstädten waren zahllose Menschen auf der Straße.

Es ist ein heterogenes Protestbündnis, vereint durch die Feindschaft gegen Mahmoud Ahmadinejad, in dessen vierjähriger Amtszeit die Repression weiter verschärft wurde und die Armut wuchs, und den Wunsch nach mehr Freiheit. Islamisten, die für Reformen plädieren, demonstrieren neben Feinden der „Islamischen Republik“, Frauen im Chador neben Frauen, die das Kopftuch gegen einen weißen Mundschutz vertauscht haben. Noch Anfang Juni dürften die meisten von ihnen selbst nicht geahnt haben, dass sie ihre Angst überwinden und ihren Protest offen auf der Straße äußern würden. Innerhalb nur einer Woche ist eine vorrevolutionäre Situation entstanden.
Die Wut wächst
Der Revolte ging ein langer Prozess der Gärung in der iranischen Gesellschaft voraus. Vor allem unter Jugendlichen, Frauen und Arbeitern wuchs die Unzufriedenheit. Die US-Anthropologin Pardis Mahdavi, die in Teheran forschte, sprach von einer „entstehenden Jugendbewegung“ und einer „sexuellen Revolution“, die Jugendlichen missachteten die islamistischen Gebote und feierten verbotene Partys. In einem alltäglichen Kleinkrieg widersetzten sich viele Frauen dem patriarchalen und islamistischen Terror. Schon den Schleier ein wenig hochzuschieben, sodass eine Haarsträhne zu sehen ist, konnte zu einer Festnahme und Schlägen auf der Wache führen. Immer wieder kam es zu kleineren Aufständen, in denen sich die Wut über den Tugendterror spontan entlud.

In den Fabriken versuchten die Arbeiter, unabhängige Gewerkschaften zu erkämpfen. Immer wieder kam es zu Streiks, die in der „Islamischen Republik“ grundsätzlich illegal sind. Hunderte Gewerkschafter wurden verhaftet und gefoltert, vier Teilnehmer­­Innen der diesjährigen illegalen Kundgebung am 1. Mai wurden zur Auspeitschung verurteilt. Farzad Kamangar, ein Aktivist der Lehrergewerkschaft, wurde zum Tode verurteilt.

Die Unzufriedenheit wuchs unter der Präsidentschaft Ahmadinejads. Der Tugendterror wurde weiter verschärft, Armut und Arbeitslosigkeit stiegen an. Den meisten Iraner­­Innen ist nicht entgangen, dass der vorgebliche Freund der Armen und Bekämpfer der Korruption ihnen hin und wieder ein paar Kartoffeln oder kleine Geldbeträge schenkte, seine Klienten, vor allem in seiner Machtbasis, den „Revolutionswächtern“, hingegen mit Milliardenbeträgen bedachte.

Vermutlich deshalb, so vermuten Farideh Farhi und andere Expert­­Innen, haben sehr viele Iraner­­Innen diesmal die Wahlen nicht boykottiert. Dass 20 bis 30 Prozent mehr zu den Wahlen gingen, um gegen Ahmadinejad zu stimmen, der die Unterstützung des religiösen Führers Ali Khamenei genießt, machte offenbar eine besonders dreiste Manipulation nötig. Nun fragen Millionen Iraner­­Innen: „Wo ist meine Stimme?“
Ayatollah gegen Ayatollah
Neu ist jedoch nicht nur das Ausmaß der Proteste. Nie seit den Revolutionjahren 1978/79 waren so viele Menschen auf der Straße. Erstmals gibt es eine Spaltung innerhalb des Regimes. Mir Hussein Mousavi, der angebliche Verlierer der Wahlen, hat sich offen gegen Ali Khamenei gestellt, den höchsten Machthaber des Landes. Mousavi ist ein Mann des Regimes, er hat die Ermordung Tausender Oppositioneller in den achtziger Jahren und zahllose andere Verbrechen zu verantworten. Dass er sich nun an die Spitze einer Massenbewegung stellt, obwohl er keineswegs sicher sein kann, dass er die Kontrolle behalten und eine Radikalisierung verhindern kann, zeigt, wie tief die Spaltung ist.

Manipuliert wurden die Wahlen im Iran immer. Die wichtigste Manipulation findet bereits vor dem Urnengang statt. Der Wächterrat, ein Gremium regimetreuer Geistlicher, lässt nur Kandidaten (Frauen sind von vorneherein ausgeschlossen) zu, deren Treue zur „Islamischen Republik“ gesichert ist und die eine der bedeutenden Fraktionen des Regimes repräsentieren. Die Wahlen dienten vornehmlich dem Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Fraktionen des Regimes sowie der Legitimation der „Islamischen Republik“.

Das politische System vereint islamistische und republikanische Elemente. Das letzte Wort in allen Fragen hat die Geistlichkeit, doch kann den Ayatollahs die Stimmung der Bevölkerung nicht egal sein. Der Rückhalt einer Fraktion im Staatsapparat spielte ebenso eine Rolle wie die öffentliche Unterstützung. Die genauen Mechanismen sind unbekannt, sicher ist jedoch, dass die drei Tage, die bislang zwischen der Wahl und der offiziellen Bekanntgabe des Ergebnisses vergingen, für Verhandlungen genutzt wurden, bei denen es auch um eine Entschädigung in Form von Posten und Pfründen für die Verlierer ging.
Milliarden für die Wächter
Diesmal war alles anders, bereits nach drei Stunden waren angeblich knapp 40 Millionen Stimmzettel ausgezählt. Khamenei und sein Schützling Ahmadinejad brachen die informellen Regeln der islamistischen Oligarchie und beanspruchten die gesamte Macht für ihre Fraktion. Bereits in der ersten Amtszeit Ahmadinejads gab es eine Machtverschiebung. Ahmadinejad repräsentiert den paramilitärischen Apparat, die „Revolutionswächter“ und die Basiji. Er militarisierte die Bürokratie und ersetzte viele Geistliche durch seine Klienten.

Die „Revolutionwächter“ waren bereits zuvor auch die einflussreichste Wirtschaftsmacht im Iran. Ihre Unternehmen und Stiftungen kontrollierten schätzungsweise ein Drittel der Ökonomie. Ahmadinejad schanzte ihnen weitere Milliardenaufträge zu, auf Kosten nicht zuletzt der von hohen Geistliche kontrollierten Stiftungen und Unternehmen. Hashemi Rafsanjani, der Repräsentant der islamistischen Bourgeoisie, sammelt die Unzufriedenen im Establishment hinter sich. Er ist Vorsitzender des Expertenrats, des einzigen Gremiums, das den religiösen Führer legal entmachten kann.

Das informelle Bündnis von Teilen des Establishments mit einer Massenbewegung ist ungewöhnlich. Doch wäre es ein verheerender politischer Fehler, wenn säkulare Demokrat­­Innen und Sozialist­­Innen die Gelegenheit, das Regime zu schwächen oder gar zu beseitigen, verstreichen lassen würden. Sie müssen einen Teil des Weges gemeinsam mit den reformbereiten Islamisten gehen, weil sie selbst noch zu schw
ach sind, den Sieg allein zu erkämpfen. Es fehlt noch an landesweiten Oppositionsgruppen, wenn der Repressionsapparat jedoch geschwächt wird, könnten innerhalb kurzer Zeit Gewerkschaften und politische Organisationen entstehen.
Kultur- und Klassenkampf
Bereits jetzt ist der Protest ein Kulturkampf, ein Kampf für Bürgerrechte und persönliche Freiheiten, und ein Klassenkampf, ein Kampf gegen die Armut und die Unterdrückung der elementarsten Arbeiter­­Innenrechte. Die Massendemonstrationen sind ein informeller Streik, die Menschen gehen auf die Straße statt an ihren Arbeitsplatz. Ein Generalstreik wird vorbereitet. Die Busfahrer Teherans, die in den vergangenen Jahren mehrmals illegal streikten, schreiben in der Erklärung ihrer illegalen Gewerkschaft: „Die Tatsache, dass die Forderungen einer großen Mehrheit der iranischen Gesellschaft weit über gewerkschaftliche Belange hinausgehen, ist für alle offensichtlich, und in den vergangenen Jahren haben wir betont, dass jegliches Gerede über soziale Freiheiten und Arbeiterrechte eine Farce ist, solange das Prinzip der Freiheit, sich zu organisieren und zu wählen, nicht verwirklicht worden ist.“

Drei Entwicklungen sind nun möglich. Khamenei und Ahmadinejad könnten sich noch einmal durchsetzen und mit einer umfassenden Repressionskampagne die Proteste zerschlagen. Dann aber müssten sie gegen einen großen Teil des Establishments über eine nur noch mit offener Gewalt niederzuhaltende Bevölkerung regieren. Der nächste Aufstand wäre nur eine Frage der Zeit.

Sollten Mousavi und Rafsanjani den Machtkampf gewinnen, bliebe das islamistische System erhalten. Doch die Protestierenden würden nicht vergessen, dass sie einen Sieg errungen haben und das Regime verwundbar ist. Mousavi müsste die Milizen entmachten, schon um sich selbst zu schützen, aber auch, weil die Bevölkerung eine Rückkehr zum offenen Tugendterror nicht akzeptieren würde. Das würde die Kampfbedingungen für die säkulare Opposition verbessern.
Die verratene Revolution
Viele ältere Iraner fühlen sich durch die derzeitigen Massenproteste an die Demonstrationen der Jahre 1978 und 1979 erinnert. Diese Revolution war nicht islamistisch, auch die meisten jener, die damals den Geistlichen und Khomeini folgten, hatten etwas anderes im Sinn als Steinigungen und die Auspeitschung von Arbeitern. Die Islamisten haben alle anderen an der Revolution Beteiligten, Sozialist­­Innen, Liberale und säkulare Muslime, ermorden lassen oder ins Exil betrieben. Sie haben den Iraner­­Innen ihre Revolution gestohlen, so wie Khamenei ihnen nun die Stimmen stahl. Möglicherweise werden die Menschen sich ihre Revolution zurückerobern.
Ob die Bewegung sich radikalisiert und gegen das islamistische System wenden wird, lässt sich nicht vorhersagen. Doch die meisten revolutionären Bewegungen beginnen mit sehr gemäßigten Forderungen. Um das islamistische System zu beseitigen, bräuchte die Bewegung allerdings die Unterstützung wenigstens eines Teils der Armee, sei es durch einen Soldatenaufstand oder einen Seitenwechsel führender Offiziere. Es gibt eine große Zahl ideologisch fanatisierter Milizionäre, doch zwei Drittel der Soldaten sind Wehrpflichtige, sie haben die gleichen Interessen und Bedürfnisse wie die Menschen, die nun auf den Straßen demonstrieren. Eine zweite Revolution erscheint derzeit zwar als unwahrscheinlichste Entwicklung. Doch auch die erste Revolution hat noch ein Jahr vor dem Sturz des Schahs kaum jemand für möglich gehalten.

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