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Innenpolitik

Münchhausens Rückkehr (Teil 1)

Von Walter Weiß | 01.11.2009

An seinem Zauberlehrling Guido Westerwelle hätte der alte Lügenbaron seine wahre Freude gehabt. Mit Bürgergeld, erhöhtem Schutzvermögen und Verbot sittenwidriger Löhne suggeriert er dem staunenden Publikum, dass ein realer Sozialabbau nicht zur Debatte steht. Am Anfang der schwarz-gelben Koalition steht eine Mischung aus christlicher Nächstenliebe und sozialverantwortlichem Liberalismus. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.

An seinem Zauberlehrling Guido Westerwelle hätte der alte Lügenbaron seine wahre Freude gehabt. Mit Bürgergeld, erhöhtem Schutzvermögen und Verbot sittenwidriger Löhne suggeriert er dem staunenden Publikum, dass ein realer Sozialabbau nicht zur Debatte steht. Am Anfang der schwarz-gelben Koalition steht eine Mischung aus christlicher Nächstenliebe und sozialverantwortlichem Liberalismus. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.

Die Forderung nach einem Bürgergeld – sie kommt im Gewand der Unschuld daher – geht auf den Oberpaten des Neo­liberalismus, Milton Friedman, zurück, dessen gesellschaftspolitischen Vorstellungen zum ersten Mal infolge des Pinochet-Putsches 1973 in Chile in Realpolitik umgesetzt wurden.
Das Bürgergeld
Alle steuerfinanzierten Leistungen des Staats sollen zusammengefasst werden. Dazu zählen u. a. das Arbeitslosengeld II (sog. Hartz IV), Warmmiete, Sozialhilfe, Wohngeld, Grundsicherung im Alter etc. Der/die LeistungsempfängerIn erhält einen pauschalisierten Betrag – in der Regel 662 Euro für eine alleinstehende Person – mit der er/sie alle Aspekte der Lebensführung bestreiten muss. Mensch erahnt: „Hartz IV ist besser als Solms I“ so Wolfgang Ratzel in der Zeitschrift Freitag vom 10. Oktober 2009. Garantiert das ALG II zumindest eine geheizte Behausung und eine Teilhabe an den Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung so müssen letztere selbst geschultert werden und erstere sind bei steigenden Mieten und Energiekosten nicht mehr garantiert. Das Damoklesschwert der Obdachlosigkeit schwebt dann über den Köpfen Millionen Betroffener.

Das Bürgergeld entspricht der bürgerlichen Variante des bedingungslosen Grundeinkommens, das eine tiefgreifende Entsolidarisierung in der Gesellschaft vorantreibt1. Allerdings unterstützen viele Linke solche Forderungen mit der Illusion, den Ausstieg aus der Lohnsklaverei einzuleiten… im Rahmen der bürgerlichen Klassengesellschaft auf dem Rücken der noch erwerbstätigen Bevölkerung!

Zahlen die Betroffenen ihre Krankenversicherung selbst, dann verbleiben circa 225 Euro vom Regelsatz, der um 30 % gesenkt würde und dann den Wunschvorstellungen der neoliberalen Hardliner entspräche.

Der Arztbesuch mit Praxisgebühr plus Zuzahlung für Medikamente wäre ein nicht realisierbarer Luxus mit Millionen nichtbehandelter Kranker und unabsehbaren gesellschaftlichen Folgen. ALDI würde zum Käfer-Feinkost für die Armen, die Mobilität ginge gegen null und der Textileinkauf bei kik wäre ein seltenes Erlebnis. Die Armutsszenarien eines Charles Dickens oder Emile Zola würden unseren Alltag begleiten.

Der Niedriglohnsektor würde expandieren und das Tarifsystem geräte gänzlich aus den Fugen.  Wenn die Gewerkschaften dem Bürgergeld nicht energisch entgegentreten, werden sie ihre Organisation der Selbsterosion aussetzen. Leider ist eine solche Entwicklung angesichts der geschichtlichen Erfahrungen und des Zustandes der konservativen Gewerkschaftsbürokratie im Bereich des Möglichen.

Ziel der FDP und ihrer Verbündeten ist es, alle historisch gewachsenen und erkämpften sozialen Sicherungssysteme zu schleifen und zu privatisieren. Die bitteren Früchte dieser Privatisierungen sind in zahlreichen Kommunen zu beobachten.
Und der Rahmen dafür ist bereits abgesteckt – wie Wolfgang Ratzel treffend formuliert: „Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung wird die überflüssige Bevölkerung bei Laune gehalten“.
Und Armutsforscher Christoph Butterwege, der im Neuen Deutschland vom 10.10.2009 das Bürgergeld als Mogelpackung charakterisiert, weist darauf hin, dass es letztlich unter Hartz IV liegt, die Armut der prekär Beschäftigten vermehrt, die vom Staat alimentiert werden müssen. Gleichzeitig wird das Lohndumping von Unternehmen vom Staat subventioniert und das Bürgergeld würde wie ein Kombilohn für alle wirken, mit preiswerten Arbeitskräften und kräftig sprudelnden Gewinnen.

Wir können an dieser Stelle die Problematik nur andeuten. Angesichts eines Schutzschirmes von 480 Milliarden Euro für die Banken und der wichtigen bevorstehenden Landtagswahl in NRW sind die „moralischen Kräfteverhältnisse“ nicht dazu geeignet, offenen Sozialabbau zu betreiben. Dann bedient sich die historisch erfahrene und klassenbewußte Bourgeoisie subtilerer Manipulationen und benutzt das Florett anstelle der Keule.
Schonvermögen
Die Zeitung mit den großen Buchstaben bejubelt die Erhöhung der Schutzvermögen. BILD als Gralshüter der Langzeiterwerbslosen? Näher besehen geht es um das Schonvermögen zur Altervorsorge wie zum Beispiel bei Kapitalversicherungen. In den neuen Bundesländern betrifft das eher wenige und nach fast einem halben Jahrzehnt ALG II-Praxis wird mensch größere Vermögen kaum finden, denn der bürgerliche Staat hat sich hier kräftig bedient, indem er die Hilfsbedürftigkeit erst attestierte, wenn die privaten Guthaben in hohem Maße verzehrt waren. Und in dem größten Raubzug der Sozialgeschichte des Landes wurden horrende Versicherungsbeträge kassiert, während erwerbslose Karststadt-Verkäuferinnen und NOKIA-Mitarbeiter­­Innen, die jahre- oder jahrzehntelang in Versicherungskassen eingezahlt hatten, in kürzester Zeit de facto unter dem Niveau der klassischen Sozialhilfe ihr Leben fristen müssen.

Die Profiteure sind die Versicherungen und Banken, die sich eine goldene Nase verdienen. Ob die Segnungen der Altervorsorge den Versicherten je zugutekommen, steht in den Sternen, denn auch Versicherungen und Banken haben in unseren turbulenten Zeiten keine ewig gesicherte Existenz. Und der spätere Zugriff des Staates zum Beispiel bei Grundsicherung im Alter durch lange Erwerbslosigkeit ist nicht ausgeschlossen und Gesetze sind revidierbar.

1    Wir verweisen hier auf die Broschüre des RSB „Solidarität statt Spaltung. Unsere Kritik am „bedingungslosen Grundeinkommen“.

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