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Betrieb & Gewerkschaft

Münchhausens Rückkehr (2.Teil)

Von Walter Weiß | 01.12.2009

Nicht nur in Bezug auf das Bürgergeld und das Schonvermögen zieht die schwarz-gelbe Koalition alle Register der politischen Manipulation.

Nicht nur in Bezug auf das Bürgergeld und das Schonvermögen zieht die schwarz-gelbe Koalition alle Register der politischen Manipulation.

In der jüngsten Vergangenheit wurde die geringfügige Bezahlung von Beschäftigten wiederholt von den Medien aufgegriffen. Der Textildiscounter KIK errang bei der miesen Bezahlung seiner Mitarbeiter­Innen traurige Berühmtheit. Dieser Bereich des Niedriglohnsektors zwingt die Betroffenen häufig den Gang zur ARGE (Arbeitsgemeinschaft der Kommunen) anzutreten, da das bescheidene Einkommen nicht einmal das Existenzminimum abdeckt. Sie vegetieren dann als sogenannte „Aufstocker“ dahin, die trotz eines Arbeitsverhältnisses an den Segnungen von Hartz IV partizipieren müssen.
Sittenwidrige Löhne
Bekannt geworden war der Fall einer Mitarbeiterin eines Discounters, die als Teilzeitkraft gerade einmal 5,20 Euro pro Stunden erhielt. Im Juni 2008 gab das Arbeitsgericht ihrer Klage statt und verurteilte das Unternehmen zu einer rückwirkenden Zahlung von 3,00 Euro pro Stunde. Wesentlich an diesen und ähnlich gelagerten Fällen ist, dass immer der individuelle Klageweg beschritten werden muss, der aber aus Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes häufig nicht beschritten wird. Außerdem sind in jedem Fall in Form einer einzelnen Prüfung, alle Aspekte des Arbeitsplatzes zu berücksichtigen.

Zivilrechtlich ist dann von sittenwidrigen Löhnen (Lohnwucher) auszugehen, wenn die vereinbarte Vergütung so gering ist, dass ein grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gemäß § 138 BGB vorliegt. Dies liegt in der Regel vor, wenn der Lohn ca. 30 % unter der branchenüblichen Vergütung liegt.

Dieses Themas nahmen sich nun auch die Berliner Koalitionär­Innen an und überschlugen sich begeistert ob ihrer Anständigkeit, … um im gleichen Atemzug einige Tage später den Mindestlohn zu verwerfen! Führt mensch sich vor Augen, dass in bestimmten Armutsregionen examinierte Altenpfleger­Innen Löhne zwischen 4 und 4,50 Euro gezahlt werden, dann wäre bei einem branchenüblichen Lohn von 4 Euro ein Betrag von 2,80 Euro sittenwidrig. Nach Ansicht der Koalition CDU/CSU-FDP sind 3,00 Euro (Brutto!) in Ordnung. Und das bei Schichtarbeit und extremer physischer und psychischer Belastung. Es gilt also – nach Marx – Politiker­Innen an ihren Taten und nicht an ihren Worten zu messen.

Schon im März 2009 hatte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer darauf hingewiesen, dass eine Initiative gegen sittenwidrige Löhne und die Forderung nach einem Mindestlohn zwei Paar Stiefel sind. Mehr als ein Mindestlohn von 7,50Euro fiel diesem Defensivtheoretiker aber nicht ein und der ist de facto ein Armutslohn.
Über Hartz IV hinaus?
Der Blick hinter die Kulissen zeigt aber klar die Stoßrichtung der neuen Regierung. Neben dem Steuersystem ist das Gesundheitswesen das zentrale Objekt neoliberaler Begehrlichkeiten. Die Kopfpauschale, die an anderer Stelle in dieser Avanti thematisiert wird, ist der Dreh- und Angelpunkt, um das solidarische Gesundheitssystem auszuhebeln.  Zu nennen wäre auch noch das Einfrieren des sogenannten Arbeitgeberbeitrags in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Überlassen des Gesundheitsministeriums an die FDP ist Programm.

Im Fokus dieses radikalen Sozialumbaus stehen die Schwachen der Gesellschaft; ältere Menschen, (chronisch) Kranke und die Langzeiterwerbslosen. Wir teilen daher auch nicht die Ansicht, dass mit Agenda 2010 der Höhepunkt des Sozialabbaus erreicht ist.
Der vorauseilende Gehorsam der Gewerkschaftsbürokratie, die, primär um ihre Existenz zu sichern, ihre Klientel bedient, und der viel zu schwache Protest auf den Straßen sind ein beredtes Zeugnis über die Kräfteverhältnisse in der Klassengesellschaft. Und vergessen wir nicht die mindestens sechseinhalb Millionen Menschen, die seit einem halben Jahrzehnt den Anmaßungen der ARGE ausgesetzt sind. Nicht von ungefähr kann der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union unwidersprochen die Arbeitspflicht für Empfänger­Innen des ALG II fordern, um sie dem ersten Arbeitsmarkt zuzuführen. Die Arbeitspflicht in Form von Ein-Euro-Jobs führte ganze 3,4 % der Betroffenen in den ersten Arbeitsmarkt.

Und die stark unterfinanzierten Kommunen geraten angesichts der Steuergeschenke für die Reichen und die Schönen an den Rand des Kollapses. So existieren im Ruhrgebiet schon Wohngebiete, deren Zukunft als Gettos unübersehbar ist.
Strategischer Systemumbau
Die ersten Adressat­Innen des neuen sozialen Kahlschlags werden die Migrant­Innen – Stichwort: Sarrazin – und die Langzeiterwerbslosen sein. Die entsprechenden Schmuddelkampagnen liegen in den Schubladen der bürgerlichen Print- und TV-Medien schon druck- und sendefertig bereit.

Das Bürgergeld, die Kopfpauschale und das „reformierte“ Steuersystem sind die zentralen Achsen eins strategischen Konzepts, das das Land bis zur Unkenntlichkeit verändern würde.

Wenn die Gewerkschaften, die soziale Bewegung und die gesamte Linke die Gefahr des strategischen Systemumbaus erkennen und wenn sie glaubwürdig bleiben wollen, müssen sie nachhaltigen Widerstand aufbauen und organisieren. Auf die Gefahr uns zu wiederholen, halten wir es mit Georg Büchner „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

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