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Innenpolitik

Zur politischen Lage am Jahreswechsel 2009/2010

Von Daniel Berger | 15.12.2009

Die vergangenen Jahrzehnte waren geprägt von einer starken Differenzierung der Profitraten, aber auch von einem allmählichen weiteren Absinken der Durchschnittsprofitrate. Neoliberale Politik ist deshalb nicht einfach nur eine politische Wahl, die durch die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen bestimmt wurde, sondern sie war für das Kapital notwendig, sobald es darum ging, die jeweilige Durchschnittsprofitrate des nationalen Kapitals zu halten. Von daher sind Appelle, die neoliberale Politik aufzugeben (weil sie uns die Krise beschert habe) völlig fruchtlos und verwechselt Ursache und Wirkung.
 

 
Aufgrund der sektoriellen Teilerfolge des Kapitalismus seit den 80er Jahren haben sich viele linke Organisationen aber auch einzelne marxistische Autoren etwas irre leiten lassen. Und weil wir uns nicht so schnell haben irre machen lassen, sind wir jetzt auch von der tiefen Krise nicht so überrascht wie so manche andere.
 
Wir erleben gerade eine besonders tief gehende Strukturkrise, in der es zu einem Umschlag des Akkumulationstyps kommt. Nur wenn wir diesen Umschlag begreifen, werden wir auch begreifen, dass die Krise nicht so einfach überwunden werden wird, und zwar deswegen weil die Profitraten weiter unter Druck sind. Der Verlauf der letzten 3 Konjunkturkrisen deutete schließlich bereits darauf hin, dass die Aufrechterhaltung der Durchschnittsprofitraten auf dem Niveau der frühen 70er Jahre oder auch nur der 80er Jahre kaum möglich ist. Dazu müssten neue, exogene Faktoren auftreten, die aber im Moment nicht abzusehen sind.
 
Wir müssen die überzyklischen (d. h. die längerfristigen) Akkumulationsbedingungen im Auge behalten. Ohne hier ins Detail gehen zu können: Der tiefe Einbruch der im Jahr 2007 begann, als auf der internationalen Bühne die Überakkumulation durchschlug und ist nicht überraschend gekommen, sondern war die logische Folge rückgehender Profitraten und des daraus resultierenden Versuchs, die Profite auf andere Weise – vornehmlich über den verstärkten Einsatz fiktiven Kapitals – zu realisieren. Dass entgegengesetzte Wetten (ein Kennzeichen vieler Derivate) nicht auf beiden Seiten aufgehen können, ist eigentlich nur logisch, aber es ist eben ein Kennzeichen des Kapitalismus, dass er auch auf diesem Gebiet (nicht nur in ökologischen Fragen) nach dem Muster funktioniert: Nach mir die Sintflut.
 
Es war deswegen unsrer Ansicht nach auch immer mehr als berechtigt, wenn wir uns gegen die Formulierung der „explodierenden Profite“ gewandt haben. Wenn die Profite explodiert sind, also gestiegen sind, bzw. sogar kräftig gestiegen sind: Wieso haben wir dann jetzt diese enormen Verwertungsschwierigkeiten? Sie sind keine Folge der Spekulation, sondern die Spekulation ist ein Folge der gesunkenen Profitraten!
 
Das heißt aber noch lange nicht, dass sich die Profitraten im nationalen Rahmen durchgehend angleichen. Nehmen wir zwei entgegengesetzte extreme Beispiele: Aventis-Sanofi hat im letzten Jahr eine Nettorendite von sage und schreibe 8 Mrd. € gehabt, bei einem Umsatz von gerade mal 27 Mrd. € (also p‘ = 29,6%) und das nachdem sie schon in den 2 Jahren zuvor jeweils netto 7 Mrd. € eingestrichen haben. Die deutsche Bank strebt weiterhin eine Rendite von 25% an, und wird in diesem Jahr sicherlich eine zweistellige Profitrate erreichen.
 
Das steht den tatsächlichen Verlusten in der Autoindustrie gegenüber (2009 allein in Europa 30 Mrd. €). Im Maschinen- und Anlagenbau ist es nicht besser und selbst in der Chemieindustrie gehen die Profite deutlich zurück.
Wie wirkt sich das alles nun politisch aus? Angesichts der vollen Wucht, mit der die Bankenpleiten auftraten hatten die Regierungen der imperialistischen Staaten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera:
Entweder die maroden Banken pleite gehen lassen und dann den Volkszorn dadurch in Zaum halten, dass die Verluste der kleinen Leute (Sparguthaben etc.) vom Staat gesichert werden (was einen völligen Wandel/eine Umkehr im Verhältnis öffentliche Gewalt und öffentliche Haushalte zu einfachen Bürgern bedeutet hätte),
oder aber die jeweiligen Banken (und Versicherungen wie AIG) mit Steuermitteln am Leben halten. Sie haben sich in allen imperialistischen Staaten für die letztere (vom bürgerlichen Standpunkt aus in sich schlüssigere) Lösungsvariante entschieden (in Deutschland ist das extremste Beispiel die Hypo Real Estate).
 
Für die Herrschenden war es aber politisch absolut verheerend, mit Hunderten von Milliarden € die Banken zu unterstützen. Denn das hat für sie ein zurzeit nicht auflösbares Dilemma geschaffen: Sie möchten gerne die Ertragslage der Unternehmen verbessern, sie möchten Steuern senken und die Reichen bedienen, aber der finanzielle Spielraum ist so eng, dass sie dieses Geld bei der ArbeiterInnenklasse und den Bedürftigen holen müssen (und auch wollen). Genau das trauen sie sich aber im Moment nicht im großen Maßstab, sie haben Angst vor dem berechtigten Vorwurf: Für die Banken habt ihr Milliarden…. Das heißt nicht, dass sie uns nicht schröpfen, aber das ist noch kein frontaler Angriff. Es bringt im Moment nichts darüber zu spekulieren, wann und wie dieser Angriff kommen wird, aber wir sind ziemlich sicher, dass er früher oder später kommen wird.
Selbst die Zuzahlung zur Krankenversicherung, mit der wir Mitte 2010 zu rechnen haben, ist noch nicht der große Raubzug (auch wenn er viele Menschen hart treffen wird). Dies kann den Herrschenden nicht reichen, denn damit wird noch nicht die Ertragslage des Gesamtkapitals verbessert.
 
Wenn heute der Angriff noch nicht auf breiter Front kommt, dann nicht deswegen, weil der Widerstand der organisierten Kräfte der ArbeiterInnenklasse zu groß ist. Es soll ja Menschen geben, die die SPD zu den organisierten Kräften der ArbeiterInnenklasse halten, aber selbst nach dem Wahldebakel ist die SPD – hier ist sie mit sich selbst im Reinen – nicht gegen Hartz IV, Agenda 2010 usw. Die bisherige „Linkswende“ der SPD ist so inhaltsleer, dass mensch noch nicht mal von einer „verbalen“ Linkswende sprechen kann. Eine solche verbale Distanzierung von ihrer bisherigen Politik könnten wir uns durchaus vorstellen. Zu einer real anderen Politik wird es nach unsrer Einschätzung so schnell nicht kommen. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr…
Die Gewerkschaften sind nicht auf Widerstand eingestellt und die soziale Bewegung ist viel zu schwach, um größeren Druck auszuüben. Sie kann bestenfalls die Gewerkschaften – ein wenig – unter Druck setzen. Ob das dann Folgen haben wird, wissen wir nicht, aber wir sollten dies natürlich weiter fördern.
Die Partei Die Linke konzentriert ihre Kraft aufs Mit
regieren und auf ihre Arbeit in den  Parlamenten. Die Bundestagsfraktion in Verbindung mit dem Parteivorstand und dem umfangreichen Apparat bilden ihr Kraftzentrum. Dabei werden auch sinnvolle und nützliche Sachen gemacht, aber es wird auch viel Unsinn verzapft, der sich längerfristig politisch rächen wird bzw. sich negativ für eine schlüssige Aufklärungsarbeit auswirken wird.

Linkspartei-Chef Lothar Bisky plädiert für ein neues Verhältnis zur Sozialdemokratie und hält langfristig einen Zusammenschluss von Linken und SPD für möglich (so im Spiegel vom 7.12.09).
 
Warum hat aber dann die Bourgeoisie dennoch Angst davor, in der gegenwärtigen Lage das Geld bei den Lohnabhängigen zu holen? Einfach weil sich in der aktuellen Gemengelage ein unorganisierter Volkszorn entwickeln könnte, vergleichbar mit den Montagsdemos. Und der Unterschied wäre ganz wesentlich: Damals traf es nur einen Teil der Bevölkerung, diejenigen, die vergleichsweise leicht auszugrenzen waren. Dort sind heute keine größeren Beträge mehr zu holen oder einzusparen (für die einzelnen Menschen sind es natürlich gravierende Einkommensverluste, die denkbar sind, aber das bringt dem Kapital und dem Staatshaushalt nicht die Lösung der Probleme). Mittelfristig erhöht ein weiterer Raubzug bei den Erwerbslosen natürlich den Druck auf die unteren Löhne, aber eben nur mittelfristig.
Also müsste der so genannte „Mittelstand“, das Gros der in Erwerbsarbeit befindlichen Lohnabhängigen kräftig zur Kasse gebeten werden, und zwar am besten mit irgendwelchen Sonderabgaben oder einer kräftigen Mehrwertsteueranhebung. Mal abgesehen davon, dass Steuererhöhungen mit der FDP schlecht umzusetzen sind (notfalls wird sie das natürlich tun, auch wenn es mit der SPD viel wirksamer und flotter gehen würde): Ein richtiges Absahnen bei uns, den Lohnabhängigen, werden sie politisch nicht einfach rüberbringen können. Hier haben sie im Moment ein Problem.
 

Das Problem bleibt vorläufig noch begrenzt, solange die Krise noch nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung angekommen ist und solange der Handlungsdruck bei den Regierenden noch im gegenwärtigen Rahmen bleibt. Das wird nicht endlos so weitergehen können. Die Krise wird in den nächsten Monaten breitere Schichten erfassen und die steigenden Staatsschulden werden den Gestaltungsspielraum der Politik einengen. In Griechenland erleben wir gerade, welche tiefe gesellschaftliche Krise daraus erwachsen kann. Der Unterschied zu Deutschland: In Griechenland ist die Krise zwar schon länger am Kochen, aber andererseits ist der griechische Staatshaushalt von der EU leichter zu stützen, als wenn dies für die BRD notwendig würde. Keiner ist heute sicher, dass die griechische Regierung nicht demnächst heimlich anfängt, Euro zu drucken. Dann haben wir eine der Varianten, die die Inflation im Euroraum beschleunigen wird.

Was folgt aus dieser Gesamtlage für uns?
1.    Wir müssen die Krise erklären und Argumenten liefern, aber auch eine Vision entwickeln, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dabei sollten wir nicht in abgehobenen, abstrakten Tiraden über den Kapitalismus verharren, sondern Folgendes zu leisten versuchen:
a.    Den Schwerpunkt in der unmittelbaren Bekämpfung der Krisenfolgen auf den Kampf gegen die Arbeitsplatzvernichtung legen. Da ist es allein mit Visionen (etwa für die Konversion) nicht getan, da muss auch angegeben werden können, wie, wo mit wem gegen eine Werksschließung oder einen massiven Stellenabbau zu kämpfen ist. Die Gewerkschaften dürfen dabei nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, aber wir müssen den KollegInnen auch Mut machen, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, sich selbst von unten her zu organisieren, den Betrieb notfalls zu besetzen. Aber wir propagieren nicht die Übernahme des Betriebs durch die Belegschaft. Wir müssen die Verantwortung der Gesellschaft herausstellen.
b.    Das müssen wir verbinden mit der Propaganda für die Vergesellschaftung der Betriebe. Selbst wenn es nicht zu einer Bewegung für die Vergesellschaftung/Inbesitznahme kommt, wird dieses Gedankengut die Menschen argumentativ fitter machen für die Entwicklung eines hartnäckigen Widerstands.
c.    In diesem Zusammenhang ist die weitere Arbeit in der Gewerkschaftslinken von einiger Bedeutung, nicht zuletzt, um in den Gewerkschaften die Diskussionen für die Neuaufnahme des Kampfs für die Arbeitszeitverkürzung zu befördern.
2.    Wir müssen an der Bildung breitester Aktionseinheiten arbeiten. Ein Teil dieses Bemühens ist die Mitarbeit im Bündnis „Wir zahlen nicht für eure Krise“.
3.    Parallel dazu sollten wir schauen, dass wir mit bestimmten sozialistischen Kräften in engere Diskussionen eintreten, um vor allem strategische Frage zu erörtern und darüber die allgemeine politische Debatte voranzubringen. Wir haben dabei nicht die Illusion, dass wir in Deutschland so etwas wie eine NPA schaffen können.
4.    Wir sollten keine Illusionen in die SPD haben, die sicherlich früher oder später ein paar verbale Schwenks nach links machen wird, aber ihr Charakter wird sich so schnell nicht ändern. Auf keinen Fall betrachten wir die SPD als einen Teil eines imaginären linken Lagers.
5.    Wir müssen eine gut belegte Fundamentalkritik am Kapitalismus entwickeln und verbreiten. Von der Partei Die Linke ist das in keiner Weise zu erwarten, denn Gysi will dezidiert nicht die bürgerliche Gesellschaftsordnung stürzen. Den Kapitalismus will er verändern, nicht überwinden.
6.    Wenn es im Entstehungsprozess der WASG Sinn gab, dort mitzuarbeiten  – weil mensch dort ein bestimmtes organisatorisch Projekt verfolgen wollte – dann muss dies heute als völlig aussichtslos erklärt werden, es sei denn mensch passt sich opportunistisch an. Diejenigen, die es dort heute immer noch aushalten, haben keine Austrittsperspektive, sondern im Gegenteil schaffen sich immer noch tiefer rein, bzw. betteln darum, wieder aufgenommen zu werden. Wie schon bei der Gewerkschaftslinken beobachten wir auch in der sozialen Bewegung, dass die Menschen, die sich in die Parteiarbeit reinwuseln (wie weiland Sisyphus), der Mitarbeit in der sozialen Bewegung fehlen, zumindest dafür keine großen freien Valenzen mehr haben.
7.    Mit Macht ist in den letzten Monaten die Misere im Bildungssektor ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Studierenden haben im Jahr 2009 eine gewisse Politisierungswelle erfahren, die sicher nicht die Mehrheit der Studierenden erfasst hat, die aber nicht wenige Menschen zurzeit prägt und sie für eine grundlegende Gesellschaftskritik ansprechbar macht. Die Verbindung zu den sonstigen Widerstandsaktivitäten sollte auch von uns gefördert werden.
8.    Eine gewisse Bedeutung kann auch die Bewegung gegen die AKW erlangen. Dies sollten wir politisch begleiten und im Rahmen unsrer Kräfte auch unterstützen.

9.    Wenn sich im Jahr 2010 die allgemeinen Widerstandsaktivitäten verstärken sollten, was stark vom konkreten Kurs der gewerkschaftlichen Apparate in den nächsten Monaten abhängen wird, dann könnte sich eine Stimmung herauskristallisieren, die die Parole des politischen Streiks auf fruchtbaren Boden fallen lässt. Dies gilt es genau zu beobachten und gegebenenfalls aktiv zu fördern.
12.12.09

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