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Ein Freund und Genosse ist von uns gegangen: Daniel Bensaïd, 1946-2010.

Von Jakob Schäfer | 28.01.2010

Mit Schrecken haben wir am 12. Januar die Nachricht vom Tod unsres Genossen Daniel Bensaïd vernommen. Es ist ein herber Verlust für die internationale Linke, im Besonderen für die revolutionär-marxistische Strömung und die IV. Internationale.

 

Im Grunde durfte es uns, die wir von seiner schweren Krankheit seit über 16 Jahren wussten, nicht überraschen. Wer von uns hat sich nicht gefragt: Wie lange hält er das noch durch? Wie schafft es ein Mensch, der aufgrund der heimtückischen Krankheit inzwischen so viel von seiner physischen Substanz verloren hat, noch so unglaublich rege zu sein, einen Artikel und ein Buch nach dem anderen zu schreiben, auf Versammlungen aufzutreten, Schulungen abzuhalten usw.? Sicherlich ist ein Teil der Erklärung in seinem Lebenslauf zu suchen, seinem familiären Umfeld, aber auch in seiner engeren politischen Umgebung innerhalb des gärenden Frankreichs Ende der 60er Jahre.1

Ein Kader, „wie er im Buch steht“

Daniel ist in einem linken Milieu in Toulouse aufgewachsen. Früh politisiert trat er 1961 in den Kommunistischen Jugendverband ein, aber schon kurz nach seinem Eintritt in die Ecole Normale Supérieure in Saint-Cloud (Paris) schloss er sich der Opposition im Kommunistischen Studentenverband an, die von GenossInnen der französischen Sektion der IV. Internationale, der PCI, angeführt wurde. 1966 mit den anderen ausgeschlossen wurde er zu einem der Mitbegründer der Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR). Aktivist in jeder Beziehung, war er einer der politischen Antreiber und Organisatoren der Bewegung des 22. März, die sich wenige Wochen vor dem Pariser Mai gründete, um die Freilassung von Inhaftierten zu verlangen, die gegen den Vietnamkrieg protestiert hatten. Einer der damaligen Mitstreiter war Daniel Cohn-Bendit, der aber schon Mitte der 70er Jahre der linken Bewegung endgültig Ade sagte und zu einem bürgerlichen Politiker (einem rechten Grünen) wurde.

Von den am Mai 68 aktiv beteiligten Organisationen (einige waren eher spontan entstanden, die Vorgängerorganisation von LO war nur mäßig involviert) ist heute, außer der französischen Sektion der IV. Internationale, nichts übrig geblieben. Das liegt vor allem an dem Erbe und der politischen Kontinuität der IV. Internationale und in diesem Zusammenhang auch an dem Beitrag, den Daniel dazu leistete.

„Bensa“ blieb nicht nur den Idealen der Mai-Revolte treu (in der er keine unwesentliche Rolle spielte), er wurde zu einer zentralen Leitungsfigur der französischen Sektion der IV. Internationale: 1969 an der Gründung der Ligue Communiste beteiligt (die übrigens aufgrund des Verbots aller linken Organisationen nach dem Pariser Mai in Mannheim stattfand) trat er in die Tagesleitung der französischen Sektion ein. Dort schrieb er jahrelang die Entwürfe für viele wichtige Resolutionen der Organisation. In diesem Zusammenhang soll nicht verschwiegen werden, dass er in jener Zeit auch das mitzuverantworten hatte, was wir heute – mit dem zeitlichen Abstand und nicht mehr so stark unter dem Eindruck des Mai 68 – als eher ultralinke Phase der französischen Sektion bezeichnen würden. Aber Daniel war zur Kurskorrektur in der Lage und bewies schon Mitte der 70er Jahre, dass er trotz mancher Irrtümer und trotz heftigem Gegenwind Kurs halten konnte, später beispielhaft dargelegt in seiner Erwiderung auf das „Schwarzbuch des Kommunismus.“ Wie schrieb er bei anderer Gelegenheit: „Wir haben manchmal, sogar oft, falsch gelegen, und zwar in einer ganzen Reihe von Fragen. Aber zumindest haben wir uns weder in der Frage des Kampfes noch der Gegner geirrt.“

Wie Alain Krivine vor einigen Jahren gegenüber dem Autor darlegte: „Daniel ist nicht nur ein theoretischer Kopf. Er konnte beides: Den Ordnerdienst der Ligue organisieren und gleichzeitig wichtige politische Anstöße geben.“ Bensaïd schrieb unablässig für rouge, wie auch für das Theorieorgan Critique communiste und später, als er als Autor heiß begehrt war, auch in vielen anderen Zeitschriften. Gleichzeitig war er einer der zentralen Redner auf unzähligen Versammlungen, Schulungsveranstaltungen, Debatten mit anderen Organisationen usw.

Nicht unerwähnt bleiben darf sein politischer und organisatorischer Beitrag für den Aufbau der IV. Internationale. Nicht nur, dass er maßgeblich an der Sammlung revolutionär-marxistischer Kräfte im spanischen Staat und der Gründung der spanischen LCR, Sektion der IV. Internationale, beteiligt war: Er reiste viel nach Lateinamerika, im Besonderen nach Argentinien und Brasilien, und hatte nicht geringen Einfluss bei der Formierung revolutionär-marxistischer Kräfte in der damals entstehenden Arbeiterpartei (PT).

Diese Leitungstätigkeit übte er bis in die 80er Jahre aus und nahm dann an der Universität Paris VIII eine Forschungs- und Lehrtätigkeit in Philosophie auf. Sein Rückzug aus der Tagesleitung bedeutete natürlich kein Rückzug aus der „praktischen“ Politik, das wäre nicht Daniel gewesen.

Der Häretiker

Ab Mitte der 80er Jahre wurde in seinen Essais langsam deutlicher, dass er alles andere als ein Nachbeter der Klassiker war. Er wandte sich mit Vehemenz gegen jeden Dogmatismus und hinterfragte nicht wenige Selbstverständlichkeiten in der Linken. Je mehr er über die Entwicklung des so genannten „real existierenden Sozialismus“ schrieb, um so deutlicher wurde seine gut begründete Abkehr von bestimmten Begrifflichkeiten, vor allem aber von bestimmten vereinfachenden Vorstellungen, die es auch in unsren Reihen von der Bürokratie in jenen Ländern gab. So machte er uns deutlich, dass eine Konterrevolution gerade nicht das Gegenstück zu einer Revolution ist, also eine große „Schlacht“, eine große zentrale Auseinandersetzung, die mit einem Mal alles zurückwälzt. Eine Konterrevolution frisst sich vielmehr allmählich durch, bereitet kontinuierlich den Boden für die Restaurierung vor, was auch die Grundlage für die Transformation der Bürokratie in eine neue Klasse darstellt. Daniel also war einer derjenigen, die uns für die Umwälzungen von 1989/91 politisch vorbereitet haben.

Aber auch in vielen anderen Fragen war er derjenige, der sich mit seiner beeindruckenden Belesenheit gegen das Schwarz-Weiß-Malen wandte und den Blick dafür schärfte, dass die Tradition des Kampfes für Gerechtigkeit nicht erst mit der modernen ArbeiterInnenbewegung entstand.

Der Erneuerer

Eine seiner großen Sympathien galt Walter Benjamin, dem er mit „Walter Benjamin. Sentinelle mésianique“ (1990) den zweiten Teil seiner Trilogie widmete.2 Diese scheinbar „nicht-marxistischen Themen“ gewidmeten Bücher (Benjamin war natürlich Marxist) trugen zur Horizonterweiterung bei, sie wären es allemal wert, ins Deutsche übertragen zu werden. Ebenso seine beiden „Hauptwerke“, wenn mensch denn so etwas in seinem Fall überhaupt sagen darf: „Marx, l’intempestif“ (1995)3 und „La discordance des temps“ (1995). Eine weitere Empfehlung sei gemacht: „Résistances. Essai de Taupologie générale“.

Nicht jeder wird sich der Mühe unterziehen, diese umfangreicheren Bücher zu studieren. Etwas leichter zugänglich sind da schon die überaus wertvollen Beiträgen in den Theorieorganen, für die er schrieb, in den letzten Jahren intensiv für ContreTemps, einem Organ, das ohne ihn nicht entstanden wäre. Vieles davon ist im Netze eingestellt. Die beste Sammlung diverser Beiträge von Daniel findet sich auf der Website Europe solidaire sans frontières, die sein alter Freund und Genosse Pierre Rousset ins Leben gerufen hat und die er mit seinem weitverzweigten Netz an Kontakten ständig ausbaut. Die Beiträge von Daniel sind teilweise auch auf Englisch vorhanden und zwar unter: http://www.europe-solidaire.org/spip.php?page=auteur&id_auteur=101.

Der Erklärer…

Es ist schwer zu sagen, wo Daniel am wertvollsten für uns war. Unschätzbar war seine Fähigkeit, auf Schulungsveranstaltungen (beispielsweise auf den Sommeruniversitäten der LCR) komplexe theoretische Darlegungen zu vermitteln. Bei keiner Nachfrage verlegen und immer bereit, zuzuhören und auf Gegenargumente einzugehen, hat er nicht wenigen Menschen die Lust vermittelt, auf eigene Faust Marx zu entdecken, selbst Recherchen anzustellen, selbst Dinge zu begründen und Argumente zu entwickeln, oder auch alte Weisheiten zu hinterfragen.

Ob beim europäischen Sozialforum in Paris, ob bei anderen Debatten: Immer konnte mensch spüren: Obwohl er nie seine Aufzeichnungen brauchte (Ablesen war ihm eh ein Graus), dieser Redner muss nicht erst seine Gedanken beim Reden verfertigen (wie dies der deutsche Dichter Kleist als „normal“ darstellte). Daniel brauchte keine „Hms“ und „Ähs“, niemals! All dies und seinen so sympathischen Toulouser Akzent, den er nie abgelegt hat, werden wir vermissen.

…und Agitator

Vielleicht am meisten beeindruckt war ich von seiner einzigartigen Fähigkeit der spontanen Agitation. Nie werde ich vergessen, wie er am Vorabend der 100-Jahr-Feier zur Pariser Commune (im Mai 1971, mit einer Demo mit 30 000 Teilnehmenden) in Jussieu (ein Teil der Pariser Universität) dabei war. Das Wetter war schlecht, einiges war für die Tausenden von auswärts Angereisten nicht gut organisiert, einige wollten spontan in die Stadt aufbrechen – um mal zu sehen, ob man ein paar Flics aufmischen kann. Daniel hat das mitbekommen, stellte sich ganz spontan oben hin und hielt eine flammende politische Rede über das Erbe der Commune, über wohl durchdachte politische Aktivitäten, über unsre langfristige Strategie usw. Die Begeisterung war sofort da. Wer sonst konnte so etwas?

Im deutschen Sprachraum ist das meiste von Daniels theoretischen (politischen und/oder philosophischen) Beiträgen nicht bekannt.4 Wir sollten überlegen, ob wir nicht wenigstens den einen oder andern Aufsatz ins Deutsche übertragen. Sein Lebenswerk aber würdigen wir am besten dadurch, dass wir seinen Kampf fortführen, gemäß den Bedingungen, die sich uns ganz konkret stellen, und mit der klaren Perspektive im Kopf, dass wir die Vision einer anderen Gesellschaft bewahren und weiter vermitteln müssen, wenn unser Leben einen Sinn geben soll.

1 Nachzulesen ist sein politischer Werdegang in „Une lente impatience“, 2004 (Stock)

2 Erster Teil: « Moi, la révolution » (1989), dritter Teil : « Jeanne la guerre lasse » (1991)

3 Im Englischen erschienen unter dem Titel: „Marx for our times“

4 Im Neuen ISP Verlag erschien immerhin das kleine Buch: „Was ist Trotzkismus“

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