TEILEN
Länder

Test the West

Von Harry Tuttle | 01.02.2010

Die Afghanistan-Intervention steht vor dem Scheitern, ein Krieg gegen den Iran birgt hohe Risiken. Die westlichen Staaten verlieren an weltpolitischem Einfluss.

Die Afghanistan-Intervention steht vor dem Scheitern, ein Krieg gegen den Iran birgt hohe Risiken. Die westlichen Staaten verlieren an weltpolitischem Einfluss.

„Ich habe Probleme“, gesteht der 27-jährige Ahmadi. Er ist Soldat der afghanischen Armee, doch wenn er einen Auftrag erhält, weiß er oft nicht, wo er hingehen soll: „Ich kann die Straßenschilder nicht lesen.“ Ahmadi gehört zu den 90 % der Rekruten, die weder lesen noch schreiben können.

Landesweit beträgt die Analphabetenrate 75 %, und bei Männern ist sie deutlich geringer als bei Frauen. Doch zur Armee melden sich fast nur die Ärmsten, oft Landlose aus den entlegensten Gebieten. Manche von ihnen, so berichtete ein britischer Offizier, hatten bislang noch nie ihr Bild in einem Spiegel gesehen. Der Job ist gefährlich und wird schlecht bezahlt. Ein einfacher Soldat erhält 100 Dollar im Monat, lokale Warlords und die Taliban zahlen das Zwei- bis Dreifache. Entsprechend hoch ist die Zahl der Deserteure.
Nach offiziellen Angaben gibt es derzeit 92 000 afghanische Soldaten, ihre Zahl soll bis zum Jahr 2014 auf 400 000 steigen. Seit US-Präsident Barack Obama ankündig­te, im Juli 2011 werde der Rückzug der amerikanischen Truppen beginnen, ist der Druck gestiegen, möglichst schnell kampfkräftige afghanische Truppen auszubilden. Dies dürfte eines der Hauptthemen bei der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar gewesen sein.

Doch die Bemühungen, einen afghanischen Militär- und Polizeiapparat aufzubauen, begannen bereits kurz nach der US-Invasion Ende 2001. Die Polizei gilt als extrem korrupt, was in einem Land, in dem einem kürzlich veröffentlichten UN-Bericht zufolge im vergangenen Jahr 2,5 Milliarden Dollar (knapp ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts) für Bestechungsgelder ausgegeben wurden, schon etwas heißen will. Verantwortlich für die Polizeiausbildung war Deutschland als „Führungsnation„ (lead nation).
Wie nun in anderthalb Jahren bewerkstelligt werden soll, was in acht Jahren nicht gelang, bleibt das Geheimnis der westlichen Strategen. Besonders in der deutschen Debatte behilft man sich damit, zu fordern, alles, was bislang getan wurde, müsse nur schneller, besser koordiniert und effektiver geschehen. Etwas offener und inhaltlicher wird in den USA diskutiert.
Wellen und Stämme
„Es gibt vieles in Afghanistan, das ich nicht verstehe“, gestand General Stanley McChrystal, der Kommandant der US-Truppen in Afghanistan, im Dezember vor dem Kongress. Vier Monate zuvor hatte er eine „vorläufige Beurteilung„ der Lage verfasst, die den Medien zugespielt wurde. Er forderte Truppenverstärkungen, vor allem aber eine neue Strategie, die lokale Machtstrukturen stärker berücksichtigt. Überdies solle man sich auf den Schutz der Städte konzentrieren, implizit ein Eingeständnis, dass es nicht mehr möglich ist, das gesamte Land zu kontrollieren.

Letztlich orientiert sich die neue Strategie an der relativ erfolgreichen Offensive „Surge„ (Welle) im Irak, für die vornehmlich General David H. Petraeus verantwortlich war. Dem US-Militär gelang es, lokale Stammesmilizen für den Kampf gegen al-Qaida zu rekrutieren. Die Ursache des Erfolgs war vornehmlich die extreme Brutalität und Intoleranz der al-Qaida, die es innerhalb weniger Jahre schaffte, sogar die irakischen Islamisten gegen sich aufzubringen.

Die Taliban sind zwar kaum populärer, doch agieren sie etwas pragmatischer. Sie bezahlen ihre Kämpfer und Helfer gut, oftmals schützen sie Mohnfelder afghanischer Bauern vor Angriffen der NATO. Auch eine im September 2009 veröffentlichte Studie der US-Armee warnt: Die Rekrutierung von Stammeskämpfern „entsprechend der Linie der jüngsten ‚Surge‘-Strategie im Irak basiert auf einem falschen Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse…“ Die auch für Kriegsgegner lesenswerte Studie unterzieht die Klischeebilder über „die Paschtunen“ und andere „Volksgruppen“ einer wissenschaftlichen Überprüfung und stellt fest, dass die soziale Wirklichkeit weitaus komplexer ist.
Gute Taliban, böse Taliban
Doch auch die im Vergleich zum extrem bornierten und inhaltsleeren offiziellen deutschen Diskurs aufgeklärten US-Untersuchungen versäumen es, auf einige elementare Fakten einzugehen. Noch immer ist mehr als die Hälfte der afghanischen Kinder mangel- oder unterernährt, nur in zwei Staaten, Sierra Leone und Angola, ist die Säuglingssterblichkeit höher. Von einem erfolgreichen Wiederaufbau kann da schwerlich die Rede sein. Die offensichtliche Manipulation der Präsidentschaftswahlen im vorigen Jahr hat zudem das neue politische System entlegitimiert.

Verordnet wurde den Afghanen damals eine Mischung aus bürgerlicher Demokratie und „Islamischer Republik“, faktisch herrschten immer die Warlords. Nun mehren sich im Westen die Stimmen aus dem politischen Establishment, die mehr oder weniger deutlich für einen baldigen Rückzug plädieren. Da die meisten ahnen, dass der Aufbau einer afghanischen Armee scheitern wird, ist die Integration der Feinde kein Tabu. Der deutsche Verteidigungsminister Guttenberg ist keineswegs der Einzige, der nun mit „gemäßigten Taliban“ verhandeln will. Wenn sie bereit sind, sich von al-Qaida zu trennen, könnte ihnen die Herrschaft über einen Teil Afghanistans zugestanden werden.

Das politische Modell ist Saudi-Arabien, dessen religiöse Gesetzgebung strenger ist als die des Iran, das aber in der Außenpolitik an der Seite des Westens steht. Vorgespräche mit Repräsentanten der Taliban wurden bereits in Saudi-Arabien geführt, doch sehen die meisten Jihadisten derzeit offenbar keinen Grund, Zugeständnisse zu machen, da sie sich als die künftigen Sieger betrachten.
Erstaunlich ist nicht, dass die USA, die über die mit Abstand größte Militärmacht verfügen, Soldaten einsetzen, um wirtschaftliche und politische Interessen durchzusetzen. Erstaunlich ist vielmehr, wie wenig dabei herauskommt. In militärischer Hinsicht bleiben die Taliban der Feuerkraft der NATO unterlegen, ein Rückzug muss deshalb kein vollständiger Truppenabzug sein. Städtische Zentren können gehalten werden und als Basis für Bombenangriffe und Kommandoaktionen gelten, vermutlich werden die westlichen Regierungen auch verstärkt afghanische Söldnertruppen einsetzen. Doch politisch ist die Intervention in Afghanistan bereits gescheitert, die neuen Institutionen haben sich nicht gefestigt.
Krieg, Öl und Krise
Dementsprechend vorsichtig ist derzeit die Politik gegenüber dem Iran, zumal hier die Differenzen sowohl zwischen den westlichen Staaten als auch zwischen dem Westen und den aufstrebenden Großmächten, vor allem Russland und China, größer sind. Doch auch die meisten deutschen Politiker betrachten den Iran als ein Land, mit dessen Regime es zwar einige Probleme gibt, das
jedoch auch ein lukrativer Handelspartner und bedeutender Energielieferant ist.

Für einen Krieg gäbe es daher kaum internationale Unterstützung, überdies lägen die Kosten weit über denen für den Einsatz in Afghanistan (derzeit rund 60 Milliarden pro Jahr) und wohl auch über denen des Irak-Krieges. Derzeit kann sich die US-Regierung einen weiteren Krieg nicht ohne Weiteres leisten. Die Risiken sind immens, denn anders als der Irak verfügt der Iran über moderne Waffensysteme überwiegend russischer Herkunft, die möglicherweise auch dem hoch technisierten US-Militär gefährlich werden können. Überdies hat Präsident Mahmoud Ahmadinejad zwar die Mehrheit der Iraner gegen sich aufgebracht, dennoch kann er neben der regulären Armee Hunderttausende Milizionäre einsetzen.

Doch obwohl ein Angriff in unmittelbarer Zukunft unwahrscheinlich ist, wächst langfristig die Kriegsgefahr. Afghanistan gehört zu den „failed states“ (gescheiterten Staaten), die allenfalls als Transitland etwa für Energielieferungen von Bedeutung sind, in denen aber keine interne Kapitalakkumulation stattfindet und eine solche auch nicht zu erwarten ist. Die Bedeutung ölreicher Staaten wie des Iran hingegen wird weiter wachsen. Bei der Konfrontation mit dem Iran geht es weniger um die unmittelbare Kontrolle der Ölquellen durch bestimmte Konzerne, auch im Irak hat sich die US-Regierung offenbar damit abgefunden, dass amerikanische Konzerne bei der Privatisierung kaum berücksichtigt werden.
Aktien für die Offiziere
Die Kontrolle über Ölvorräte ist jedoch ein potenzielles Mittel, politische Macht auszuüben, und sie erlaubt eine Kapitalakkumulation, die wiederum für politische Zwecke genutzt werden kann. So propagiert das iranische Regime mit erneuertem Eifer ein eigenes politisches Modell, eine neue Version einer „multipolaren Welt“. Die Verbreitung der islamistischen Ideologie ist dabei nachrangig, es geht im Wesentlichen um ein Bündnis staatskapitalistischer Oligarchien gegen die USA.

Ahmadinejad stellt sich gerne als einen Freund der Armen dar, doch wurden in seiner ersten Amtszeit 247 Staatsunternehmen vollständig oder teilweise privatisiert, knapp ein Drittel der Privatisierungserlöse seit 1991 fallen in sein erstes Amtsjahr. Doch der private Sektor erhielt weniger als ein Viertel der Aktien, mehr als die Hälfte wurden zu „Gerechtigkeitsaktien“ erklärt, über deren Verteilung vor allem Repräsentanten der paramilitärischen Verbände entscheiden. Gezielt begünstigt Ahmadinejad diese Verbände, vor allem die Pasdaran, auch über den Staatshaushalt. Während anderswo die Entstehung einer Staatsbourgeoisie ein ungeplanter Prozess ist, zieht Ahmadinejad gezielt eine Militärbourgeoisie heran. Im Herbst wurde es selbst den regimetreuen Parlamentarier zu viel, sie forderten Änderungen am neuen Privatisierungsgesetz des Präsidenten.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise schädigte vor allem die ärmsten, aber auch die reichsten Staaten. Liberalisierte Nationalökonomien wurden meist härter getroffen als stärker staatlich kontrollierte. So sahen die westlichen Staaten sich gezwungen, den exklusiven Kreis der G8 um zwölf „Schwellenländer“ zu erweitern. Der Wirtschaftsliberalismus ist diskreditiert, eine an sich erfreuliche Entwicklung, die jedoch auch staatskapitalistische Oligarchien etwa in Russland und China und vielen Regionalmächten stärkt, die den Lohnabhängigen nicht einmal die minimalen Rechte der bürgerlichen Demokratie gewähren wollen. Es geht um nicht weniger als eine neue Zusammensetzung der globalen herrschenden Klasse, und ein solcher Machtkampf verlief in der Vergangenheit nie friedlich.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite