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40 Jahre LIP – „Unbewusste“ Selbstverwaltung 2

Von L’Anticapitaliste / MiWe | 22.11.2013

Interview mit Charles Piaget

Charles Piaget war als Gewerkschaftsvertreter in den LIP-Werken von Besancon einer der Protagonisten des legendären Kampfes von 1973. Noch immer ist er aktiv – mittlerweile in einer Arbeitsloseninitiative. Zum 40. Jahrestag der Großdemonstration der Beschäftigten von LIP führten wir mit ihm dieses Interview über die damaligen Auseinandersetzungen, die in der Zeit nach 68 enorm wichtig waren und noch immer für uns aktuell sind.

Interview mit Charles Piaget

Charles Piaget war als Gewerkschaftsvertreter in den LIP-Werken von Besancon einer der Protagonisten des legendären Kampfes von 1973. Noch immer ist er aktiv – mittlerweile in einer Arbeitsloseninitiative. Zum 40. Jahrestag der Großdemonstration der Beschäftigten von LIP führten wir mit ihm dieses Interview über die damaligen Auseinandersetzungen, die in der Zeit nach 68 enorm wichtig waren und noch immer für uns aktuell sind.

Was war der Ausgangspunkt des Kampfes bei LIP?

Bereits 15 Jahre vor 68 begannen wir ein funktionierendes Kollektiv innerhalb des Unternehmens aufzubauen. Die herkömmliche Funktionsweise der Gewerkschaften wurde infrage gestellt und demokratische Strukturen errichtet, in denen nicht mehr die Betriebsräte allein entschieden. Die Entscheidungen wurden nach vorheriger Ausarbeitung in Kommissionen durch Vollversammlungen getroffen. Die Aufgaben, ob theoretischer oder praktischer Natur, wurden auf Alle verteilt. Daneben gab es innerhalb des Betriebes bereits seit langem eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden großen Gewerkschaften CFDT und CGT. Insofern traf uns der Mai 68 nicht unvorbereitet; und wir waren stark genug, den Betrieb damals zu besetzen. Dies war zugleich Generalprobe und auslösendes Moment für die Kämpfe der folgenden Jahre. Für den Chef des Unternehmens, Fred Lip, war es etwas völlig Neues, dass Gewerkschaften sich erhoben; und er war gewillt, diese Gegenmacht zu zerschlagen. Allerdings scheiterte er daran und wurde geschasst.

Bereits vor 73 gab es bedeutsame Auseinandersetzungen, z. B. 1969 und 1970 um Lohnerhöhungen und gegen Entlassungen. Zu Beginn des Streiks von 69 waren es nur 200 von insgesamt 1.000 Beschäftigten, die die Arbeit niederlegten, aber infolge der innerbetrieblichen Überzeugungsarbeit wurde eine Mehrheit für den Ausstand gewonnen. Schließlich streikten 70 % der Beschäftigten und besetzten den Betrieb. Dadurch waren wir für 73 gewappnet.

Wie wurde der Kampf organisiert und warum erlangte er solche Popularität?

Es herrschte ein ausgesprochen demokratisches Klima, und Direktiven von der Gewerkschaftsführung wurden abgelehnt. Die Beschäftigten selbst haben ihren Kampf organisiert und die dafür notwendigen Organe geschaffen, z.B. ein Aktionskomitee. Es herrschten basisdemokratische Werte. Rassismus, Sexismus und Gewalt wurden abgelehnt, stattdessen gab es echte Solidarität, wo alles gemeinsam diskutiert und erarbeitet wurde. Nach außen stand die Fabrik offen, und die Journalisten konnten frei herumgehen und befragen, wen sie wollten. Einige verbrachten sogar ein paar Tage in der Fabrik. Gemeinsam wurde überlegt, wie man den Kampf gewinnen und weitermachen kann.

Die Bosse setzten darauf, dass sich der Konflikt durch die ausbleibenden Löhne während des Streiks im Sande verlaufen würde. Um dies zu umgehen, beschlossen wir, die Produktion wieder aufzunehmen – nach der Devise: „Wir produzieren, wir verkaufen und wir bezahlen uns selbst“. Wir übernahmen die Verantwortung und praktizierten unbewusst Selbstverwaltung. Für uns war dies einfach ein Mittel, um die Löhne aufrecht zu erhalten.

Im Kampf entsteht die Vorwegnahme einer neuen Gesellschaft. Etwa 80 bis 100 Beschäftigte von LIP tingelten durch Frankreich, Schweiz und Deutschland, um für unseren Kampf zu werben und die Uhren zu verkaufen. Die Betriebsräte blieben in der Fabrik und beteiligten sich an allen Aufgaben. Der Kampf wurde deswegen so populär, weil im Betrieb Einigkeit herrschte – was keineswegs selbstverständlich war. Die direkte Gegenwehr, die phantasievollen Aktionen, die Entscheidungsfreude, die demokratische Praxis und der offene Zugang zur Fabrik für Alle entsprachen genau den Erwartungen der Bevölkerung. Der sozialromantische Aspekt mit der Übernahme der Produktion in die eigenen Hände, der Kampf „David gegen Goliath“, also der Lohnabhängigen gegen einen Multi … das alles spielte eine Rolle. Als einfache Werktätige haben wir gezeigt, dass wir zu Außergewöhnlichem in der Lage sind, indem wir eine andere Organisationsform praktiziert haben.

Auf welche Schwierigkeiten seid Ihr gestoßen?

Es gab Probleme mit der Gewerkschaftsbürokratie. Eine Gewerkschaft muss ihre Erfahrung und Wissen einbringen, aber der Kampf gehört denen, die ihn führen; alle haben dieselben Rechte, und es darf keine Vorrechte für die Gewerkschaftskader geben. Gegen das hierarchische Denken zu kämpfen, war schwer, weil dies in den Köpfen der Leute steckt. Die Autoritätsgläubigkeit verleitet dazu, nach einem Retter Ausschau zu halten, während man sich auf der Basis gleicher Rechte zusammenschließen und gemeinsam kämpfen müsste. Immer wenn es Anführer gibt, leidet die Demokratie.

Auch wenn es ein Bewusstsein über die Frauendiskriminierung gab, wurde dieser Aspekt nicht ausreichend gewürdigt. Glücklicherweise haben sich die Frauen selbst organisiert und sich gleichberechtigt in die B
ewegung eingebracht. Später dann, 1978, wurden Kooperativen auf dem Fabrikgelände gegründet, wobei Jeder wusste, dass dies nur eine Notlösung war. Dabei mussten die Gesetzmäßigkeiten der Märkte beachtet und bspw. Darlehen zulasten der Löhne getilgt werden. Man wird nicht so einfach Teil einer Kooperative, wenn die Lohnabhängigkeit tief im Bewusstsein der Leute steckt …

Wie hast Du es geschafft, Dich nicht von der Macht korrumpieren zu lassen, obwohl Du eine exponierte Rolle bei der Auseinandersetzung gespielt hast?

Der Druck der Medien und der anstrengende Konflikt haben zu einer gewissen Aufgabenteilung geführt, aber die Wortführer wurden stets kontrolliert. Ich wurde bspw. für drei Wochen von dieser Position enthoben, weil ich mein Mandat bei einem Interview überschritten hatte. Als ich mir die Aufzeichnungen aus der Zeit der Auseinandersetzungen angeschaut habe, wurde mir klar, dass keine der entscheidenden Anregungen auf mich zurückging. Das macht bescheiden.

Wie siehst Du die gegenwärtige Lage?

Es sind viele Gelegenheiten verpasst worden, die Gesellschaft zu ändern. Der Kapitalismus steckt die Krisen weg, und wir sind heute zu wenige, um das Kräfteverhältnis umzudrehen. Die Autoritätsgläubigkeit ist noch immer groß, und die Medien führen zur Gleichschaltung.

Die Rhetorik der Sozialdemokratie – gerade was die Steuerpolitik angeht – zeigt, wie schwach das linke Gedankengut verankert ist. Zwar gibt es seit dem Niedergang der KP eine Öffnung nach links, aber zugleich war damit ein Machtverlust verbunden.

Die politische Macht steckt in einer Krise, auf allen Ebenen regiert die Korruption. Zugleich ist die Zivilcourage schwach, und man sucht nach Heilsbringern, was dem Populismus Vorschub leistet. Es ist schwer zu vermitteln, dass Not und Arbeitslosigkeit Folgen sozialer Ungleichheit sind. Wir müssen uns auf der Grundlage gleicher Rechte zusammen- schließen und kämpfen.
Solidarität zu erzeugen, dauert lange. Bei LIP haben wir 15 Jahre gebraucht, um ein Kollektiv zusammenzuschweißen.

Es gibt auch positive Beispiele, wie die Entwicklung des Umweltbewusst- seins. Ideen greifen dank der modernen Kommunikationsmittel schnell um sich, was für manche Bewegungen hilfreich ist. Überall auf der Welt gibt es Kämpfe, ob in Afrika oder China. Der Wunsch nach Demokratie, Gleichheit und besserem Leben ist vorhanden. Es rührt sich was, Neues entsteht und unsere Werte von einst kommen in zahlreichen Kämpfen um soziale und ökologische Themen wieder zum Vorschein.

Das Interview wurde von Rachel Choix für L’Anticapitaliste Nr. 210 geführt.
Übersetzung: MiWe

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