Seit dem Erscheinen der Sinus-Studie (1981) ist bekannt (und seitdem durch weitere wissenschaftliche Untersuchungen wiederholt bestätigt), dass ein bedeutsamer Anteil der deutschen Bevölkerung rechtsextreme Positionen vertritt oder ihnen zuneigt.
Laut Sinus-Studie verfügen mindestens 13 % der Bevölkerung über ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild.“ Von diesen 13 Prozent bejaht etwa die Hälfte auch Gewalt zur Durchsetzung rechtsextremer Denkinhalte. Neben den 13 % sind weitere 37 Prozent offen für rechtsextreme Denkinhalte.1
Diese seit Jahrzehnten dauerhaft etablierte politische Einstellung bei einem großen Teil der Gesellschaft ist die unmittelbare politisch-ideologische Grundlage für eine erfolgreiche rassistische Bewegung. Die Grundtendenzen, die in der Pegida-Bewegung zum Ausdruck kommen, sind also nicht neu. Es gilt aber, die aktuellen „Anstöße“ und konkreten Ausformungen dieser Bewegung zu analysieren und zu bewerten.
Ohne eine erschöpfende Darstellung geben zu wollen, sollen die folgenden Thesen Anregungen für eingehendere Erörterungen bieten.
Erstens
Auf den Transparenten, in den offiziellen Losungen und in den Reden, die auf den Pegida-Kundgebungen gehalten werden, kommt eine geballte Ansammlung von Wahnvorstellungen zum Ausdruck. Weder die eigenen Erfahrungen dieser Menschen (in Dresden liegt der Anteil der gläubigen Muslime bei 1 % der Bevölkerung, der Gesamtausländeranteil unter 8 %) noch irgendwelche Untersuchungen über künftig zu erwartende Entwicklungen können den Zuspruch zu den Pegida-Losungen erklären. Vielmehr wirken hier Projektionen, die zur Erklärung bestimmter politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse dienen sollen. Die Frage stellt sich also, woraus sich aktuell der Zustrom zu dieser Bewegung speist.
Zweitens
Ganz unmittelbar können die Initiatoren dieser Bewegung (es sind einschlägig bekannte Rassisten) ihre Forderungen aus folgendem Widerspruch ableiten:
- Die offizielle Politik (unterstützt von den Medien2) schottet die Grenzen ab, mit der Begründung: Wir können nicht allen Menschen helfen, die hierher wollen; Wirtschaftsflüchtlinge sind abzuweisen; Frontex „sichert“ die europäischen Grenzen; Flüchtlinge müssen zurückgeschickt werden …
- Gleichzeitig aber werden Flüchtlinge, wenn sie sich bis Deutschland durchgekämpft haben, aufgenommen und nicht sofort abgeschoben. Sie bekommen Unterkunft, Verpflegung usw.
Wenn also laut offizieller Politik die Flüchtlinge das Problem sind (und nicht etwa die vom Imperialismus verursachten Verhältnisse in den Herkunftsländern), dann ist die herrschende Politik einfach inkonsequent. Hiergegen wollen die Pegida-DemonstrantInnen aufstehen, protestieren, handeln (gegebenenfalls auch Flüchtlingsheime anzünden, Flüchtlinge vertreiben usw.).
Hinzu kommt, dass die Medien seit Jahren gegen den Islam wie auch gegen die „faulen Griechen“ hetzten. All das bleibt nicht ohne Wirkung.
Drittens
Grundlegend ist die Attraktivität dieser Bewegung aber nur bedingt in der aktuellen Politik zu suchen. Die tieferen Ursachen liegen in der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie erzeugt nämlich permanent Ungleichheit, sogar wachsende Ungleichheit; sie erzeugt Ängste (auch und gerade Abstiegsängste3). Wenn auf Grundlage dieser durchgängigen Tendenz eine bestimmte politische Bewegung einfache Antworten anbietet, dann greifen diese bei denjenigen Menschen, die aufgrund ihrer – im Kapitalismus geformten und gegebenenfalls familiär und durch das soziale Umfeld bedingte – psychische Disposition für solche Losungen anfällig sind.
Viertens
Die auffälligste Form des damit geförderten Rassismus ist bei den Pegida-AnhängerInnen vor allem der Wohlstandschauvinismus. Die dumpf empfundene Angst vor sozialem Abstieg – oder auch die Empörung über eine wachsende soziale Ungleichheit – soll mit rassistischen Lösungen gemeistert werden. Diese bieten sich den Betroffenen deswegen so unkompliziert an, weil die gesamte Gesellschaft extrem hierarchisch aufgebaut ist und den Menschen ständig vorgelebt wird, dass nur der Erfolg zählt, und der ist in der Konkurrenzgesellschaft am ehesten durch den Einsatz von Ellenbogen zu erzielen. Also tritt man in dieser Logik (konsequent angewandt) am sinnvollsten nach unten, auf diejenigen, die noch viel weiter unten stehen und sich am wenigsten wehren können.
Fünftens
Damit versprechen sich diese rassistisch Aufgeputschten zwar nicht notwendigerweise eine direkte, unmittelbare Beseitigung ihrer Ängste oder der allgemeinen Ungerechtigkeit, die sie berechtigterweise oder unberechtigterweise empfinden. Aber sie können mit solchen Demonstrationen mindestens „denen da oben“ mal zeigen, wie „man über die Politiker denkt“. Wenn man schon sonst nichts zu sagen hat und keine Erfüllung oder befriedigende Zukunftsperspektiven sieht, dann kann man wenigstens hier Dampf ablassen, endlich mal selbst aktiv werden und so weiter. Dabei ist „der Islam“ eine Projektionsfläche für „die Ausländer". Die TeilnehmerInnen wissen, dass sie weniger Gehör finden, wenn sie gegen Juden, Schwarze usw. hetzen. Islam ist da einfach das beste Codewort.
Sechstens
Und je größer die Menge wird, die sich bei solchen Anlässen versammelt und ihre „Macht“ demonstriert – das Medienecho gibt ihnen in ihren Augen zu hundert Prozent Recht (jetzt werden sie nämlich endlich beachtet) – um so mehr verstärkt sich dieser Prozess und um so mehr gewinnen die Teilnehmenden an diesen Demos Befriedigung, wachsendes Selbstwertgefühl. Nicht unerwartet hat der Anschlag in Paris (Charlie Hebdo) der Pegida-Bewegung Auftrieb gegeben.
Siebentens
Mit der großen Mobilisierung gegen die Legida-Kundgebung am 21.Januar in Leipzig wurde deutlich, dass die Ausbreitung einer Massenbewegung über Dresden hinaus auf große Widerstände stößt. Der besondere Zulauf in Dresden hat eine Reihe von Gründen:
- Zunächst die seit Langem parteipolitisch sehr starke Infrastruktur rechtsextremer Kräfte. Die NPD erzielte hier 2004 bei den Wahlen mit 9,2 % das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte (nur 1968 erreicht sie einmal 9,6 %).
- Der wichtigste Grund liegt aber sicher darin, dass in weiten Teilen Ostdeutschlands (also außerhalb des „Speckgürtels“ von Berlin oder sonstiger Inseln prosperierender Städte mit vergleichsweise guter industrieller Infrastruktur oder anderer guter sozialer Absicherung) nach so viel Jahren „deutscher Einheit“ das Gefühl vorherrscht (und sich von Jahr zu Jahr weiter verfestigt),
dass die hier lebenden Menschen niemals auf dem Lebensstandard Westdeutschlands ankommen werden. Dresden gehört längst nicht zu den ärmsten Regionen im Osten. Hier gab es sogar eher einen bescheidenen Aufschwung (mit etwas zurückgehenden Erwerbslosenzahlen), aber genau das fördert die Kombination von Wohlstandschauvinismus und dem stark empfundenen Gefühl, von der herrschenden Politik ungerecht behandelt (vergessen) zu werden, während gleichzeitig die Flüchtlinge unterstützt werden.
Diese spezifische Kombination führt dazu, dass sich in Dresden eine so starke Bewegung entwickeln konnte, dass heute Menschen von weit außerhalb zu den Montagsdemos der Pegida fahren (sie sind oft Stunden lang unterwegs). Es treffen sich also auf diesen Demos: die von Abstiegsängsten Geplagten, die Wohlstandschauvinisten, die absoluten „Loser“ usw.
Achtens
Im Westen ist die Gemengelage sowohl parteipolitisch wie auch vom Empfinden der Menschen her anders. Hier leben die Menschen nicht in einem auf Dauer abgehängten Landesteil und es gibt andere, nämlich konkrete Erfahrung mit MigrantInnen (oder Menschen mit Migrationshintergrund). In Städten mit besonders hohem MigrantInnenanteil hat ein höheres Maß an Rationalität Einzug gehalten als etwa in Dresden oder anderen „migrationsarmen“ Regionen Ostdeutschlands.
Neuntens
Die Initiatoren von Pegida-Kundgebungen im Westen (Kögida usw.) sind mehr noch als im Osten lange bekannte Faschisten (v. a. aus dem Kameradschaften). Vor diesem Gesamthintergrund kann sich die Pegida-Bewegung im Westen (zumindest vorläufig) nicht so gut ausbreiten. Nicht zuletzt die massiven Gegendemonstrationen verhindern ein problemloses Wachstum dieser Bewegung im Westen. Aber dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier der Nährboden für rassistische Einstellungen vorhanden ist. Diese rassistischen Positionen können sehr wohl auch anders zum Ausdruck kommen, etwa bei Wahlen, aber nicht nur dort. Denn die eingangs genannten Grundeinstellungen existieren weiter fort.
Zehntens
Nach ersten – unvollständigen Recherchen – finden sich unter den Demonstrierenden nicht wenige NichtwählerInnen, die mit diesen Demos erstmals eine Möglichkeit sehen, ihrem Frust Ausdruck zu verleihen, weil keine der sonst antretenden Parteien ihnen attraktiv genug erschienen war. Die größte Basis hat diese Bewegung aber dort, wo der Stimmenanteil für NPD und AFD besonders hoch war (etwa in Pirna bei Dresden). Ob es der AFD jetzt gelingen wird, einen Großteil dieser Menschen (zumindest als Wahlvolk) für sich zu gewinnen, ist noch nicht ausgemacht. Den Hauptbetreibern der Pegida ist auch die AFD nicht konsequent genug (weil „Weicheier“). Die AFD könnte vor diesem Hintergrund ihren Charakter ändern (sich z. B. radikalisieren) oder auch in eine Zerreißprobe geraten. Aber auch die Pegida-Bewegung selbst könnte sich spalten (Legida usw.).
Elftens
Was ist der Pegida-Bewegung und den sonstigen rassistischen Kräften und Tendenzen entgegenzusetzen?
- Aufklärungsarbeit über die Fluchtursachen;
- eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus und seinen politischen Institutionen
- eine konsistente (und möglichst konkret nachvollziehbare) Kritik der aktuellen herrschenden Politik, wobei nie der Systemcharakter des Kapitalismus aus den Augen verloren werden darf;
- die Skizzierung eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs
Zwölftens
In der konkreten politischen Auseinandersetzung stellen wir aber auch klar:
- Eine „Willkommenskultur“ aus humanitären und caritativen Gründen ist gut.
- Die Fehler und der Rückgang der Antifa: z. B. Weigerung eines Teiles der Antifa (insbesondere des antinationalen), sich der sozialen Frage anzunehmen, müssen benannt und analysiert werden.
- Israelfahnen bei Pegida sind Israelfreunde bei den Rechten. Sie sind Fans eines starken Staates, der sich gegen den Islam richtet.
- Israelfahnen bei Antifa-Demonstrationen haben die Verteidigung Israels als originären Kampf gegen Antisemitismus als ideologischen Hintergrund.
- Die Bereitschaft, sich auf der Straße zu kloppen, ersetzt nicht eine wirkliche antifaschistische Politik, die auf die Immunisierung der Köpfe gerichtet sein muss.
- Nur eine langfristige Arbeit einer Linken, die über die Reihen der Linkspartei hinausgeht, kann diese Aufgabe auf Dauer bewältigen.
1 Mehr dazu in „Spaltungslinie Rassismus“ Internationale Theorie Nr. 37, zu bestellen über die Redaktionsadresse für 4 Euro einschl. Versandkosten.
2 Der Spiegel hatte schon Anfang der 90er Jahre, als es um die weitgehende Abschaffung des Asylrechtsartikels im Grundgesetz ging, getitelt „Das Boot ist voll“.
3 Ein Motiv, das von Pegida-Anhängern häufig zu hören ist: „Meine Rente“ ist nicht sicher. Der bekundete Wille, dafür andere, denen es noch schlechter geht, bluten zu lassen, kann sich zu einer gefährlichen Bewegung entwickeln.