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Menschen statt Profite!

01.06.2003

Eckpunkte einer Plattform der antikapitalistischen Linken für die Europaparlamentswahlen 2004

Einleitung

Die europäische Integration begann als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, “Montanunion”), dann als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und war von vornherein ein Projekt des Kapitals. Gleichwohl sollte sie auch die Zeiten der innereuropäischen Kriege beenden. Aus den Kriegsparteien der beiden Weltkriege waren Partner geworden. Die Verständigung über die Grenzen hinweg und die Überwindung der Nationalstaaten sind gute Ziele. Vorausgesetzt, sie dienen nicht dazu, einen nach außen hin noch mächtigeren Machtblock zu schmieden und nach innen hin die Interessen der abhängig Beschäftigten und der Ausgegrenzten noch besser zu übergehen.

Spätestens seit Einführung des Binnenmarkts und des Euro sowie angesichts der Vorbereitung einer Verfassung der Europäischen Union (EU) ist klar geworden, wie sehr die ArbeiterInnenbewegung hinter der bürgerlichen europäischen Integration hinterher hinkt. Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder, laßt euch ausspielen gegen einander und hütet euch vor gemeinsamer Aktion über die Grenzen hinweg! Fast könnte man so die offizielle Taktik der Gewerkschaften über lange Jahre hinweg beschreiben. Doch hat der europäische Integrationsprozeß aus vielen Gründen, angefangen wegen seines unsozialen Charakters, auch zu internationalen Protesten geführt, die schließlich in die weltweite Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung und in die Sozialforumsbewegung eingemündet sind. Der Widerstand der abhängig Beschäftigten nimmt zu und beginnt, sich mit dieser Bewegung zu verbinden und internationalen Charakter anzunehmen.

In der Entwicklung dieser Bewegungen liegt alle Hoffnung für die Zukunft. Die antikapitalistische Linke will als Teil dieser Bewegungen handeln und Alternativen zum Bestehenden entwickeln und in die politische Diskussion bringen.

Die EU in ihrer heutigen Verfaßtheit ist Teil der neoliberalen Offensive des Kapitals, die ihrerseits in eine schwere Legitimationskrise geraten ist. Die antikapitalistische Linke will ein anderes Europa, ein demokratisches Europa von unten, ein Europa der Solidarität, der Verwirklichung sozialen und zivilisatorischen Fortschritts, ein friedliches Europa, ein Europa, in dem nicht mehr der Profit regiert, sondern in dem ökologisch verantwortlich nach den Bedürfnissen der Menschen produziert wird, ein nach Osten und Süden hin offenes Europa, das sich für die umfassende Revision der bestehenden ungerechten und zukunftsunfähigen Weltverhältnisse einsetzt.

1) Verschiebung nach rechts

Zu Anfang des dritten Jahrtausends regierten in 12 von 15 Ländern der EU sozialdemokratische Parteien allein oder als führende Kraft ”linker” Koalitionen. Der Inhalt ihrer Politik unterschied sich kaum von derjenigen konservativer oder liberaler bürgerlicher Parteien. Sie versprachen und versprechen heute nicht einmal mehr Verbesserungen und sozialen Fortschritt für die abhängig Beschäftigten, sondern haben auf breiter Front die neoliberalen Dogmen übernommen. Sozialer Rückschritt, Deregulierung und Privatisierung sollen ”die Wirtschaft” flott und die Konkurrenten nieder machen. Die Sozialdemokratie und ihre Satelliten betreiben eine Politik im Interesse des Kapitals und entfremden sich mehr und mehr von ihrer ursprünglichen sozialen Basis. Auch da, wo sie traditionell mit den Gewerkschaftsführungen verflochten ist, zeigen sich erste  Risse.

Die Folgen dieser Politik sind verheerend. Die Kräfteverhältnisse verschlechtern sich zu Gunsten des Kapitals und zu Ungunsten derjenigen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Zivilisatorische Errungenschaften und gesellschaftliche Solidarität werden untergraben. Solange die Ansätze zu linken Alternativen schwach sind, führen die Enttäuschungen über die ”regierungslinke” Politik zur Stärkung des konservativen und liberalen und auch des extrem rechten Lagers. In einer Reihe von EU-Ländern setzen konservativ-liberale und rechte Regierungen die neoliberale Politik ihrer ”linken” Vorgänger fort – noch rücksichtsloser, da sie nicht von den traditionellen Bindungen an die ”Welt der Arbeit” behindert werden. Die neoliberale Wende der Sozialdemokratie bereitet rechten Regierungen und rechtsextremistischen Demagogen den Weg.

Die sozialdemokratische Entwicklung nach rechts hat zugelassen und aktiv befördert, dass das Niveau der offiziellen und öffentlichen politischen Debatten in die ”Steinzeit” zurückgefallen ist. Das Wörtchen ”Reform” ist in seinem Sinn vollkommen pervertiert. Es bedeutet heute die Bereitschaft, alles niederzureißen, was dem Verwertungsinteresse des Kapitals entgegen steht. Wer sich dagegen wehrt, wer soziale Errungenschaften, das Reallohnniveau, öffentliche Dienste und gesellschaftliche Standards verteidigen will, wird als ”reformunfähig”, konservativer ”Bremser” und ”Blockierer” verschrien.

Die antikapitalistische Linke will Spielräume für die Gegenwehr, aber auch für die Erkämpfung wirklicher Verbesserungen und solidarischer Lösungen erweitern helfen. Dazu gehört die Ablehnung einer Beteiligung an Regierungen, die Sozialabbau und Privatisierungsorgien im Interesse des Kapitals betreiben. Dazu gehört die Entwicklung gesellschaftlicher Alternativen zu Ellenbogen-Konkurrenz und Plusmacherei, denn wer keinen Horizont hat, der über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinausgeht, muss in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Logik der Gegenseite nachgeben. Dazu gehört die Konzentration der Kräfte auf die Entwicklung der Bewegung von unten, auf das Zusammenwirken der Protestbewegung gegen die neoliberale Globalisierung mit den abhängig Beschäftigten, ihren Abwehrkämpfen, ihren Gewerkschaften. Dazu gehört eine Neuorientierung der ArbeiterInnenbewegung und ihre Öffnung zu den neuen internationalen sozialen Bewegungen.

Der Aufbau einer breiten neuen Kraft der Linken, in der Linke verschiedener Herkunft und Aktive der Gewerkschaften und der sozialen Bewegung zusammenwirken und gemeinsam neue Perspektiven entwickeln, bietet die Chance zu verhindern, dass Enttäuschungen zu weiterer Entpolitisierung und zur Stärkung der Rechten führen.

2) Gegen das Maastricht-Europa

Die so genannten Stabilitätskriterien von Maastricht standen Pate bei der forcierten Entwicklung der EU-Institutionen. Statt sozialer Kriterien galt ausschließlich der Maßstab möglichst guter Bedingungen für die Kapitalakkumulation im Rahmen des EU-Binnenmarkts. Soziale Ziele fehlten völlig und wurden erst als Reaktion auf die Entwicklung einer europaweiten Protestbewegung nachgeschoben. Doch die offizielle Sozialcharta legt das Gegenteil dessen fest, was im Interesse der Eigentumslosen, Benachteiligten, Ausgegrenzten wäre: Nicht die Anhebung der sozialen Standards auf das höchste in EU-Ländern gegebene Niveau, sondern die Angleichung auf möglichst niedrigem Niveau. Sozialer Fortschritt als Ziel wird durch Sozialdumping ersetzt.

Die Maastricht-Kriterien dienten (und dienen noch) dazu, die Regierungen der EU-Staaten zu systematischem Sozialabbau und zur systematischen Verscherbelung öffentlichen Eigentums anzuhalten. Das monetaristische Dogma ist dabei nur Vorwand. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Länder mit dem stärksten Gewicht in der EU, wie Deutschland, die die Stabilitätskriterien durchgesetzt haben, sie munter verletzen – insbesondere das Gebot, ein Staatsdefizit von 3% nicht zu überschreiten. Das ändert nichts an der Richtung der unsozialen Sparpolitik – im Gegenteil. Nur wird sie ”ergänzt” um genau die Elemente der Instabilität, zu deren Bannung das ”Maastricht-Europa” angetreten war.

Ideologisch durchgesetzt hat sich – was ein großer Rückschritt gegenüber den 70er Jahren ist –, dass eine massenhafte und dauerhafte Erwerbslosigkeit hingenommen werden muss, die das Kräfteverhältnis massiv zu Gunsten des Kapitals verschiebt, während gleichzeitig als angebliche Politik ”für mehr Beschäftigung” den am meisten Benachteiligten noch mehr Geld weggenommen wird unter dem Vorwand mangelnder Arbeitswilligkeit, um sie zu zwingen, ihre Arbeitskraft zu noch schlechteren Bedingungen zu verkaufen.

Die antikapitalistische Linke fordert statt dessen zusammen mit den sozialen Bewegungen solidarische Lösungen. Angleichung der sozialen Standards nach oben! Kampf gegen Erwerbslosigkeit, nicht gegen Erwerbslose! Garantiertes Mindesteinkommen für alle! Soziale Kriterien statt ”Stabilitätskriterien”!

Entscheidend ist die Ausweitung internationaler Bewegungen, die in den EU-Ländern und darüber hinaus gemeinsame Forderung entwickeln, über die Ländergrenzen hinweg kooperieren und Aktionen organisieren.

3) Gegen Sozialabbau und Privatisierungen

Der Sozialabbau wird im heutigen neoliberalen ”Einheitsdenken” mit dem Versprechen einer glänzenden Zukunft garniert. Verzicht heute erlaubt angeblich die Lösung der Probleme morgen. Damit überhaupt noch soziale Leistungen möglich bleiben, müssen sie massiv abgebaut werden. Doch wenn ”wir” erst erreicht haben, dass ”unsere” großen Kapitalgruppen ihre Profitmargen saniert haben und die weltweite Konkurrenz ausstechen, dann werden für die abhängig Beschäftigten und Armen wieder reichlich Krümel vom großen Kuchen abfallen!

Aber soziale Errungenschaften wie höhere Löhne sind stets von unten gegen den Widerstand des Kapitals durchgesetzt worden. Dabei hat die Kapitalseite immer argumentiert, sie wären mir dem freien Markt und mit der Notwendigkeit großer Gewinne nicht vereinbar.

Für die antikapitalistische Linke sind die sozialen Rechte unverzichtbare Menschenrechte. Das Menschenrecht auf ein Einkommen, das ein Leben in Würde und mit lebenswerten Aussichten ermöglicht. Das Menschenrecht auf anständiges Wohnen. Das Menschenrecht auf Absicherung bei Krankheit, Erwerbslosigkeit, Not und im Alter. Das Menschenrecht auf eine gesicherte Existenz, auf ein Leben ohne Angst vor dem Absturz ins Elend. Das Recht auf Bildung und vielseitige Entfaltungsmöglichkeiten für alle. Schluß mit ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen, Menschen statt Profite!

Die Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums, öffentlicher Einrichtungen und sogar der sozialen Sicherungssysteme folgt dem Interesse des Kapitals, das seine Märkte ausdehnen und neue Quellen der Plusmacherei erschließen will. Dabei wird ausgenutzt, dass öffentliches Eigentum und öffentliche Einrichtungen von vielen, auch aufgrund realer Erfahrungen, mit Ineffizienz und Bürokratie verknüpft werden. Doch die neueren realen Erfahrungen zeigen, dass die Privatisierungen zu schlechteren Diensten und zu immer mehr Nachteilen für die Masse der Menschen führen. Eine schrittweise Überantwortung der Sozialversicherungen, der Krankenversicherung, der Altersversorgung an private Kapitalfonds bereitet eine soziale Katastrophe vor. Diejenigen, die über durchschnittliche oder geringe Einkommen verfügen, dienen den Großen als Kapitalgeber, womit nicht das kapitalistische Eigentum, aber doch das Unternehmerrisiko ”sozialisiert” wird.

Die antikapitalistische Linke tritt für öffentliche Dienste mit hoher Qualität ein, die die sozialen Menschenrechte sichern. Geld dafür ist genug da. Steuern auf große Vermögen und eine progressive und damit sozial gerecht gestaltete Einkommenssteuer können dies finanzieren. Auch die Sozialversicherungen wären über Nacht saniert, wenn alle Einkommen, einschließlich der höchsten, zu ihrer Finanzierung herangezogen würden. Ein System demokratischer Selbstverwaltung und Kontrolle durch die Beschäftigten und durch die NutzerInnen  in enger Zusammenarbeit mit Verbraucherschutzorganisationen ist das wichtigste Mittel gegen bürokratische Ineffizienz öffentlicher Dienste und Unternehmen.

4) Gleichstellung der Frauen

Frauen sind die ersten Opfer von Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung. Sie sind nach wie vor in allen gesellschaftlichen Belangen und Bereichen benachteiligt. Eine wirkliche gesellschaftliche Gleichstellung ist noch lange nicht erreicht. Auch auf diesem Gebiet wird vielmehr das Rad zurückgedreht

So ist die Altersarmut überwiegend weiblich. Die weiblichen Erwerbsbiographien sind von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Nachteil der Frauen geprägt. Sie sind die ersten Opfer des Abbaus öffentlicher Dienstleistungen, da wieder verstärkt soziale Aufgaben auf ihre unbezahlte ”Privat”arbeit abgeschoben werden. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor patriarchalisch segmentiert, und die Einkommen der Frauen, die ein Minimum an Unabhängigkeit garantieren sollten, deutlich niedriger als die der Männer, ebenso wie sie in allen Hierarchien weiter unten stehen.

Nur eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich verbunden mit einem Ausbau bedarfsdeckender Kindertagesstätten, Kindergärten, Ganztagsschulen mit qualitativ hochwertiger Betreuung aller Kinder kann die Lage zu Gunsten der Frauen wenden und zugleich den Weg für eine zivilisiertere Gesellschaft frei machen, in der die Bedürfnisse und Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen im Vordergrund stehen.

Frauen spielen eine wichtige Rolle in den sozialen Bewegungen, gerade auch in der internationalen Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung (obwohl in Deutschland etwa über den Weltfrauenmarsch kaum berichtet wurde). Doch spiegelt sich ihre allgemeine Benachteiligung in der Gesellschaft auch in den Gewerkschaften, Bewegungen und in den linken Organisationen und Parteien wider. Die antikapitalistische Linke befürwortet daher einen neuen Aufschwung unabhängiger Frauenbewegung und bewußte Maßnahmen in Bewegungen, Organisationen und Parteien, um die führende politische Aktivität von Frauen zu fördern und die Dominanz von Männern zurückzudrängen.

5) Für die Rechte der MigrantInnen und Flüchtlinge

Für Millionen von MigrantInnen in den EU-Ländern gilt nach wie vor, dass sie als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Elementare demokratische Rechte werden ihnen verweigert, auch wenn sie bereits Jahrzehnte lang oder in der zweiten oder dritten Generation ”Ausländer” sind. Um die undankbarsten Arbeiten auszuführen, werden sie durchschnittlich schlechter bezahlt als die ”Inländer”. Darüber hinaus sind sie Zielscheibe rassistischer Angriffe und vielfältiger Diskriminierung.

Gegenüber Flüchtlingen wird die EU als ”Festung Europa” aufgebaut. Der ”Eiserne Vorhang” ist wieder da – und an dieser Grenze wird geschossen. Das Recht aus Asyl ist ersetzt durch eine Art Gnadenrecht, und die europäische Integration ist am fortgeschrittensten auf der Ebene der Polizei.

Die antikapitalistische Linke sieht die Menschenrechte als unteilbar an. Sie tritt für offene Grenzen ein, für ein nach Osten und Süden hin offenes Europa. Unabhängig davon, ob politische Verfolgung oder wirtschaftliche Not vorliegt – die antikapitalistische Linke ist dagegen, dass gerade die Menschen, denen es aufgrund der herrschenden Verhältnisse am schlechtesten geht, auch noch zusätzlich drangsaliert werden.

Die EU, obwohl sie sich offiziell den Sprüchen vom allein selig machenden Freihandel (der den schwächeren Konkurrenten gnadenlos aufgezwungen wird) anschließt und sich an der Eintreibung des Schuldendienstes und seiner Umwandlung in nationalen Ausverkauf gegenüber den armen Ländern beteiligt, treibt betonartigen Protektionismus gegen die Waren aus ärmeren Ländern. Zugleich heimst sie alle Vorteile der ”Großen” auf dem Weltmarkt ein und führt sich als neokoloniale Macht auf, die die Verhältnisse in anderen Ländern regelt und kontrolliert.

Wegen des Konkurrenzdrucks durch billige Arbeitskräfte tut sich die traditionelle Arbeiterbewegung mit solidarischen Antworten nach wie vor schwer. Die Linke in Europa ringt nach wie vor um Antworten auf dieses Problem. Sicher für die antikapitalistische Linke ist auf jeden Fall, dass auch hier nur internationale solidarische Aktion das Blatt wenden kann – gerade auch gemeinsam mit den Betroffenen in den Beitrittsländern der EU. Letzten Endes kann die Hinnahme drastischer Unterschiede in Lohnniveau und Lebensstandard nur zu schweren Verwerfungen und zu weiterer Unterdrückung führen und die Grundlagen solidarischen Handelns untergraben. Solidarität statt Konkurrenz hingegen kommt letztlich auch den Beschäftigten zugute, denen es heute noch relativ am besten geht.

6) Gegen Krieg, Hochrüstung und Eingreiftruppen

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und des Kalten Krieges träumten viele von einer Ära des Friedens und der Abrüstung. Das ”Gleichgewicht des Schreckens” (die gegenseitige Drohung mit atomaren Vernichtungsschlägen) hatte schließlich seine Grundlagen verloren. Doch hat sich in den folgenden Jahren gezeigt, dass Hochrüstung und das Führen von Kriegen offenbar andere Ursachen haben. Die Verwertungsinteressen des Kapitals spielen dabei eine herausragende Rolle.

Während für die Garantierung der sozialen Menschenrechte angeblich kein Geld da ist, werden in ungeheurem Umfang immer ”perfektere” Vernichtungswaffen entwickelt und riesige Mengen an Steuergeldern für diese Vernichtungsmittel aufgegeben – wovon private Großkonzerne in erheblichem Maße profitieren.

Die Interventionskriege der USA und ihrer Verbündeten dienen der Sicherung der Interessen der großen Konzerne und der Einschüchterung potenziell unbotmäßiger Regionalmächte oder Konkurrenten. Im Irakkrieg hat sich ein Teil der EU-Regierungen – insbesondere Frankreich und Deutschland – gegen die Intervention ausgesprochen, was die Krise der UNO und der a
nderen internationalen Organisationen sichtbar gemacht hat. Weitere ”Schurkenstaaten” sind im Visier der USA – mit unabsehbaren Folgen.

Ein Weltkrieg unter den führenden Industriestaaten droht absehbar nicht. Die militärische Überlegenheit der USA ist dafür ein wichtiger Faktor, ebenso die Verflechtung der wirtschaftlichen Interessen aller reichen kapitalistischen Industrieländer. Dennoch gibt es, wie der Irakkrieg besonders deutlich gezeigt hat, auch Konkurrenz und Rivalität unter den Mächten der ”Triade” – USA/NAFTA, EU und Japan/ASEAN. U.a. will die EU den Dollar als Weltwährung Nr. 1 verdrängen.

Die EU, die nun erstmals außerhalb des NATO-Rahmens ”out of area” interveniert, nämlich im Kongo, will sich als Friedensmacht profilieren (dass Blair-Britannien in Sachen Irak aus der Reihe getanzt ist, und dass Beitrittsländer wie Polen die führenden EU-Mächte düpierten, ist Anlaß zu nachhaltigem Ärger). Doch will die EU im Gegenteil nicht nur an der Hochrüstung festhalten (niemand weiß, gegen welchen ”Feind” unsere Heere uns verteidigen sollen), sondern insbesondere weltweite Interventionsfähigkeit erlangen. Darum wird eine EU-Eingreiftruppe (im Kern durch deutsch-französische Zusammenarbeit) aufgebaut, die die EU befähigen soll, notfalls auch ohne Segen der USA weltweit zu intervenieren.

Die antikapitalistische Linke weist die ideologischen Ausreden für die massiven Rüstungsausgaben und für die Anmaßung, den zweiten Weltpolizisten zu spielen, zurück. Es geht nicht um Menschenrechte, Fundamentalisten, Terroristen und andere Schurken. Es geht um den Zugang zu Rohstoffen und Märkten, es geht um Großmachtpolitik, und besonders für Deutschland um die endgültige Abstreifung aller Folgen und Lehren aus den Verbrechen und aus der Niederlage Nazideutschlands. Die antikapitalistische Linke ist gegen EU-Interventionstruppen und tritt für Abrüstung zugunsten der Finanzierung sozialer Aufgaben ein.

Um den Widerstand in Deutschland gegen die Intervention in Jugoslawien zu brechen, hielt Außenminister Joschka Fischer der Linken vor, sie sei nie pazifistisch gewesen, und belegte dies durch die Aufstellung der Interbrigaden im Kampf für das republikanische Spanien gegen Franco. Die antikapitalistische Linke ist in der Tat nicht dogmatisch pazifistisch, aber sie ist antimilitaristisch. Sie befürwortet die legitime Gegenwehr gegen reaktionäre Putschisten, imperiale Feldzüge und Diktatoren, verwechselt das aber nicht mit der Befürwortung von imperialistischen Interventionskriegen.

7) Demokratie

Die demokratische Legitimation der EU war von Anfang an sehr gering. Die Verfaßtheit ihrer Institutionen ist ein bemerkenswerter Rückschritt gegenüber der Normalität bürgerlich-parlamentarischer Demokratie. Daran hat auch die Direktwahl des Europäischen Parlaments wenig geändert. Der Schwerpunkt der Entscheidungsmacht liegt bei der Exekutive, bei Regierungs- und Ministerrat, bei der Kommission. Die Rechte des Parlaments sind deutlich geringer als die nationaler Parlamente, demokratische Kontrollmöglichkeiten durch die Bevölkerung gibt es so gut wie überhaupt nicht. Desto größer ist der unverblümt zur Schau gestellte Einfluß der Lobbies des Großkapitals. Deren Stellungnahmen liefern für die wichtigsten EU-Entscheidungen die Blaupausen. Man kann als Faustregel formulieren: Stellungnahme der großen Unternehmerverbände plus sechs Monate gleich Ratsbeschluß. Zunehmend sind Politiker in Spitzenfunktionen unmittelbar Interessenvertreter des Großkapitals, wenn nicht gar selber große Kapitalisten.

Die EU ist ein Staatsapparat im Aufbau. Noch ist diese Staatenbildung nicht abgeschlossen, und es gibt erhebliche Widersprüche und Hindernisse auf diesem Weg. Die herrschenden Klassen der wichtigsten EU-Länder sind nach wie vor im eigenen Nationalstaat verankert. Das gemeinsame Interesse innerhalb der weltweiten Konkurrenz und Rivalität treibt zur weiteren Forcierung der Union, die mit der Osterweiterung und den atlantischen Optionen Großbritanniens nicht einfacher zu realisieren geworden ist. Immerhin sind wichtige Schritte getan.

Die Ausarbeitung des Entwurfs einer neuen Verfassung durch den Konvent gehört dazu und symbolisiert sehr gut das außerordentlich undemokratische Strickmuster der EU. Mit welcher Legitimation und in wessen Auftrag wird hier an einer neuen Verfassung gestrickt, die den Vorrang der Exekutive über Parlamente und vor allem über die Bevölkerungen fortschreibt?

Aus Sicht der antikapitalistische Linken muss es Sache der Bevölkerungen der europäischen Länder sein, eine europäische Verfassung auszuarbeiten. Damit ist nicht eine einfache ”Ja-Nein”-Abstimmung gemeint, nachdem eine winzige Gruppe von ”Experten” etwas ausgetüftelt hat. Notwendig ist vielmehr eine breite demokratische Debatte darüber, was für ein Europa wir wollen, was für Verfassungsgrundsätze und was für eine Art von Institutionen. Erst am Ende einer solchen breiten Debatte können eine Abstimmung und die Wahl zu einer konstituierenden Versammlung stehen.

Die antikapitalistische Linke tritt für eine Demokratie ein, die allen wirkliche Mitsprache und Mitentscheidung ermöglicht. Über die wichtigen politischen Richtungsentscheidungen, über Krieg und Frieden, über Einnahme und Verwendung der öffentlichen Gelder muss demokratisch entschieden werden. Nicht in demagogischen Akklamationsveranstaltungen, sondern nach ausführlichen Beratungen, die allen StaatsbürgerInnen offen stehen, auf denen die Lage und die denkbaren Alternativen vorgestellt werden, nach dem Vorbild des Beteiligungshaushalts in Porto Alegre.

8) Ein anders Europa ist möglich, eine andere Welt ist nötig!

Spätestens seit Seattle 1999 geht ein Aufschrei durch die Welt: ”Die Welt ist keine Ware! Eine andere Welt ist möglich!” Die antikapitalistische Linke will ein anderes Europa in dieser anderen Welt und für diese andere Welt. Zunehmend wird darüber diskutiert, was für eine andere Welt!

Die seit 1989/90 verstärkte Krise der sozialistischen Zukunftsperspektive ist nicht vorbei. Dessen sind wir uns bewußt. Niemand hat den Entwurf einer lebbaren und besseren Zukunft fertig in der Tasche. Die antikapitalistische Linke versteht sich als Teil der Suche der neuen Generationen nach einer überzeugenden und umfassenden Antwort.

Immer mehr Menschen wehren sich gegen Interventionskriege und gegen sozialen Rückschritt, immer mehr Menschen erkennen, dass das kapitalistische System zumindest in seiner heutigen Ausprägung (aber ein Zurück zum gemütlicheren Wohlfahrtskapitalismus, der auch immer nur einer Minderheit der Menschheit zugute kam, ist auch nicht möglich) keine Zukunft hat. Es ist ein System des Raubbaus und der Verschwendung. Die Jagd nach dem schnellen Profit bedroht akut die natürlichen Lebensgrundlagen. Sogar die Weltbank warnt, dass aus der einen Milliarde Menschen, die schon heute keinen Zugang zu ausreichendem und sauberen Trinkwasser haben, in wenigen Jahren 5 Milliarden werden, wenn nichts Einschneidendes getan wird. Doch die Hauptrichtung der Debatte geht dahin, die Wasserversorgung durchgängig ebenfalls in eine Sache der privaten Geschäftemacherei zu verwandeln! Das Gespenst einer umfassenden Wirtschaftskrise, möglicherweise ausgehend von weiteren platzenden Spekulationsblasen der Finanzmärkte, ist keineswegs gebannt. Doch die Hauptrichtung der Debatte geht dahin, auch noch die letzten Schranken nieder zu reißen, die der ungehemmten Entfaltung des Kapitals entgegen stehen!

Die antikapitalistische Linke ist der Meinung, dass auch wirtschaftliche Entscheidungen mit schicksalhafter Bedeutung für die große Mehrheit der Menschen nicht ”Privatsache” sein dürfen. Sie lehnt sich gegen die angeblichen ”Naturgesetze” und ”Sachzwänge” der bestehenden Marktwirtschaft auf, die maßgeblich von einigen wenigen Kapitalgruppen dominiert wird.

Die andere Welt, die möglich und auch so bitter nötig ist, kann sich nur ”von unten” entwickeln, durch Eigenaktivität der abhängig Beschäftigten zusammen mit allen heute Benachteiligten und Ausgegrenzten. Die antikapitalistische Linke wendet sich gegen Stellvertreterpolitik und jede Form bürokratischer Gängelung. Sie strebt eine sozialistische Demokratie mit verschiedenen Formen selbstverwalteten öffentlichen Eigentums und einem breiten Sektor alternativer, solidarischer Ökonomie an. Darüber hinaus sucht sie die gemeinsame Aktion und den politischen Zusammenschluss mit allen, die sich gegen die neoliberal radikalisierte bürgerliche Politik wehren und nach Alternativen suchen wollen.

In einer Reihe von europäischen Ländern sind neue Kräfte der antikapitalistischen Linken entstanden, die auch bereits wahlpolitisch als Alternative zur neoliberal gewendeten Regierungslinken erkennbar sind. Diese Kräfte kooperieren bereits auf europäischer Ebene und entwickeln gemeinsam Positionen und Vorschläge. Die antikapitalistische Linke in Deutschland nimmt Anteil an diesem grenzüberschreitenden Prozeß.

Manuel Kellner (Anfang Juni 2003)

 

Nachbemerkung (Ende Juli 2003):

Dieser Text wurde von mir auf Grundlage einer bereits von Wilfried Dubois erstellten korrigierten Version noch einmal überarbeitet, was zu geringfügigen Änderungen gegenüber der Fassung vom Juni geführt hat. Aus den Reihen der Vorbereitungsgruppe gab es folgende kritische Anmerkungen zu diesem Text: Peter von Oertzen sagte, man müsse die Passage zu Pazifismus und Antimilitarismus ausbauen; Hugo Braun merkte an, dass eine Passage zu den bei den Europawahlen antretenden politischen Formationen fehlt; Sascha Stanicic ist weder mit der Einschätzung der EU als eines bürgerlichen Staatsapparats im Werden noch mit der Forderung nach einer europäischen Konstituierenden Versammlung einverstanden.

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