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Länder

Zwei-Staatenlösung für Israel – Palästina?

Von Daniel Berger | 15.09.2004

In Avanti 111 brachten wir einen Reisebericht von Urs Diethelm, der mit einer GewerkschafterInnendelegation in diesem Frühjahr in Israel-Palästina war. Genosse Karl Roth hat darauf in einem Leserbrief (Avanti 112) einige kritische Fragen gestellt, auf die wir an dieser Stelle eingehen wollen.

In Avanti 111 brachten wir einen Reisebericht von Urs Diethelm, der mit einer GewerkschafterInnendelegation in diesem Frühjahr in Israel-Palästina war. Genosse Karl Roth hat darauf in einem Leserbrief (Avanti 112) einige kritische Fragen gestellt, auf die wir an dieser Stelle eingehen wollen.

Die Reihung der Fragen und die Art, wie sie formuliert sind, lässt vermuten, dass Genosse Karl Roth befürchtet, wir übersähen möglicherweise das legitime Schutzbedürfnis der israelischen Bevölkerung. Wir wollen deswegen zuerst die Grundsatzfrage aufwerfen: Wie stehen wir ganz prinzipiell zu dem Konflikt in Israel – Palästina?

Keine Vorrechte!

Nicht nur, aber ganz besonders in der deutschen Linken ist seit einer Reihe von Jahren ein Nachgeben gegenüber dem ideologischen Druck festzustellen, der sich gegen das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes richtet. Hier mischt sich – je nach politischer Ausrichtung – eine Antipathie gegen alles, was aus Deutschland kommt („Wir Deutschen dürfen nicht…“) mit einer genauso wenig begründeten Hervorhebung, ja Privilegierung des jüdischen Volkes gegenüber den arabischen Nachbarn und im besonderen gegenüber den PalästinenserInnen.
Zur Klarstellung aller weiteren Ausführungen sei unmissverständlich festgestellt:
a. Wie lehnen jeglichen Kollektivschuldgedanken ab. Schuld an den Verbrechen der Nazis sind grundsätzlich die Täter und – ganz selbstverständlich – diejenigen, die diese Täter gewähren ließen. Niemals aber gibt es einen Grund, Menschen, die demselben Volk angehören für ein Verbrechen haftbar zu machen, an dem sie selbst weder direkt noch mittelbar (wegen unterlassener Hilfeleistung) beteiligt waren. Dieses letztlich völkische Denken sollte nicht nur MarxistInnen fremd sein, den Anti-Deutschen allerdings ist es wohl nicht fremd.
Letztlich lenkt schon diese Herangehensweise des „Wir-Deutschen-dürfen-Israel-nicht- kritisieren“ von der Klassenfrage ab, nicht nur in Israel, sondern auch und gerade in Deutschland. (Abgesehen davon kritisiert die marxistische antizionistische Linke in Deutschland wie in Israel grundsätzlich die israelische Regierung und den israelischen Staat, nie das jüdische Volk.) Wer hat den Nationalsozialismus an die Macht gebracht? In Wessen Interesse agierte der Faschismus in Deutschland? Haben auch jene Schuld, die gegen den Faschismus gekämpft haben? Und Schließlich: Wieso sind Menschen, die nach dem Krieg geboren wurden (also die große Mehrheit der Deutschen) von vornherein mit Schuld beladen? Erbsünde? Weil deutsches Blut in ihren Adern fließt?
Wer den Ursachen des Faschismus nachgehen will muss sicherlich neben den Klasseninteressen auch massenpsychologische Momente berücksichtigen, um zu begreifen, warum so viele Menschen zu Tätern oder Mitläufern wurden, aber die Klassenfrage darf nicht aus dem Blickwinkel geraten und eine völkische Herangehensweise würde gerade Gefahr laufen, das Entstehen einer faschistischen Bewegung außerhalb Deutschlands zu verharmlosen. Politische Prozesse sind nicht an ein bestimmtes Volk gebunden, sondern einzig und allein von den komplexen Entwicklungen historischer Veränderungen abhängig (also nicht von irgendwelchen Konstanten).
b. Auf der anderen Seiten kann es aus den gleichen Gründen keine Vorrechte für ein Volk gegenüber einem anderen geben. Absurd wird die aus völkischem Denken abgeleitete Vorstellung, dass daraus Vorrechte gegenüber anderen Menschen, in dem Fall PalästinenserInnen, abzuleiten sind.
Diese grundsätzlichen Bemerkungen erleichtern uns, auf die eigentlichen Fragen des Genossen Karl einzugehen.

Die PalästinenserInnen

Auch die palästinensische Bevölkerung ist nicht politisch gleichförmig und schon gar nicht besteht sie mehrheitlich aus Terroristen. Allerdings herrscht – aufgrund der verzweifelten und geradezu aussichtslos erscheinenden Lage – in weiten Teilen der Bevölkerung Sympathie für die terroristisch agierenden Gruppen. Dies ist Ausdruck einer politischen Schwäche, aber in dieser Breite in jedem Fall ein Produkt der Verzweiflung. Wer sich die konkreten Lebensumstände anschaut, der kann den Blick nicht davor verschließen, dass der israelische Staat (wohlgemerkt nicht „die“ Juden) auf einer rassistischen Grundlage gegen die PalästinenserInnen vorgeht, sie unterdrückt und auf eine Vertreibung hinarbeitet (es wäre dann die dritte nach der großen Nakba von 1948 und der de facto Annexion weiterer Gebiete durch Israel seit dem 6-Tage-Krieg 1967 und der anschließenden Siedlungspolitik.1
Vergleichbar mit dem Zauberlehrling des CIA, Bin Laden, hat auch die von israelischen Regierung während der Intifada 1987-93 hochgepäppelte Hamas sich gegen ihren Förderer gewandt und agiert heute auf einer rassistischen Grundlage mit terroristischen Mitteln.
Die seit Jahren bestehende politische Sackgasse beruht nun gerade darauf, dass nicht nur die allgemein rassistisch angelegte Politik der israelischen Regierung, sondern vor allem ihr brutales Vorgehen in den so genannten Autonomiegebieten tagtägliche neue Terroristen „produziert“.
Hier liegt auch die Parallele zum Irak. Der tägliche Bombenterror der US-Armee „produziert“ ebenfalls in unerschöpflichem Maße neue Terroristen, aber gleichzeitig auch legitimen militärischen Widerstand. Auch im Irak gilt es deshalb zu unterscheiden z.B. zwischen den menschenverachtenden Entführungen von Zivilisten und dem legitimen Kampf gegen die Besatzungsarmee.2

Zwei-Staaten-Lösung?

Selbst unter diesen mehr als ungünstigen politischen Bedingungen möchte die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung eine 2-Staaten-Lösung. Man will in Ruhe gelassen werden und eigene, unabhängige Lebensgrundlagen haben, am besten ohne als Tagelöhner in Israel arbeiten zu müssen. Nur eine Minderheit wünscht sich die Juden zu vertreiben und auch nicht alle Juden unterstützen die Transferpolitik der israelischen extremen Rechten, auch wenn die de facto Politik der Regierung immer mehr darauf hinausläuft, die Palästinenser zum Verlassen ihrer Heimat zu bewegen. Allein in den letzten 7 Jahren haben mehr als 100 000 PalästinenserInnen das Land verlassen. Aber die Geburtenrate ist so hoch, dass diese Abgänge mehr als ausgeglichen werden.
Deswegen und weil das Elendsgebiet Gazastreifen schwer zu kontrollieren ist und der militärische und finanzielle Einsatz für den Schutz der 7000 Siedler (v.a. im Katif-Block) in keinem Verhältnis zum „Nutzen“ steht, will Sharon dort abziehen.
Aber die entscheidende Frage ist nicht: Will die palästinensis
che Arbeiterklasse eine Zwei-Staaten-Lösung? Wenn sie das will, so haben wir, die wir auf der Seite der Unterdrückten stehen, ihr Recht auf einen eigenen Staat zu verteidigen.
Nur ist leider eine Zwei-Staaten-Lösung vollkommen unrealistisch. Es ist geradezu traumwandlerisch illusionär anzunehmen, dass damit der Konflikt gelöst werden kann. Viel zu sehr ist die palästinensische Bevölkerung in Elendsgebieten zusammengepfercht, ohne ausreichende Wasserversorgung, brauchbare Ackerböden oder industrielle Fertigungsstätten, kurz ohne ausreichende wirtschaftliche Grundlagen für eine unabhängige Existenz neben Israel. Mit Arbeitslosenraten zwischen 40 und 85%, miserabelster Infrastruktur, ohne Verkehrsanbindung ist ein Ausweg aus dem Elend – Voraussetzung für den Frieden – nicht vorstellbar.
Leider ist aufgrund der beiderseitig so zugespitzten Situation die israelische Arbeiterklasse (wie die palästinensische) mehrheitlich in den Zwängen einer völkischen Konfrontation befangen.
Das Tragische an der Situation ist also, dass fundamentalistische (und damit auch rassistische) Strömungen in der palästinensischen Bevölkerung den zionistischen (kolonialistischen) Zusammenhalt und damit die Grundlage für die Unterdrückungspolitik der Regierung ständig aufs Neue bestärken und umgekehrt: Die Politik der israelischen Regierung fördert den Zulauf zu fundamentalistischen Gruppen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung. In der Westbank liegt diese Unterstützung heute bei 15 – 20 % der Bevölkerung, im Gazastreifen zwischen 20 und 30%.

Verhältnis EU – PA

Genosse Karl fragt, wie denn die EU zu der korrupten palästinensischen Autonomiebehörde (PA) um Arafat steht und was wir von dieser Regierung halten. Grundsätzlich ist es eine Angelegenheit der PalästinenserInnen, ihre eigene Regierung zu bestimmen. Niemals kann es Sache der israelischen oder der amerikanischen Regierung sein, darüber zu befinden.
Aber das veranlasst uns noch lange nicht, die korrupte Bande um Arafat zu unterstützen. Im Gegenteil: Wir unterstützen die palästinensische Linke, die mit einem Klassenstandpunkt an die Frage herangeht und auf die Selbstorganisation der palästinensischen Massen setzt.
Genosse Karl fragt sodann: Warum haben die Herrschenden in den arabischen Ländern den Palästinensern weder je einen eigenen Staat angeboten noch sie vernünftig in ihre Gesellschaft integriert? Hier sind zwei Ebenen berührt.
Erstens: Die arabischen Regime haben nicht das Recht den Palästinensern einen eigenen Staat anzubieten. Denn auf wessen Kosten ginge das dann? Man kann nicht die Folgen einer kolonialistischen Politik mit der Etablierung einer weiteren kolonialistischen Politik „heilen“. Kolonialismus kann nie eine menschliche Politik zur Folge haben, heute so wenig wie 1948, denn weiße Gebiete, wo Menschen einfach eindringen, ohne anderen Menschen etwas wegzunehmen, gibt es mindestens seit ein paar hundert Jahren nicht mehr.
Zweitens: Die Regimes in Beirut, Damaskus, Amman und Kairo sind bürgerliche Regimes, die gerade deswegen nicht auf Integration aus sind, weil sie ihre Machtstellung dann am sichersten behalten können, wenn Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden und wenn keine soziale Gleichheit hergestellt wird.

Somit ist der Schlüssel für die Bewältigung des israelisch-palästinensischen Konflikts auch auf dieser Ebene, der internationalen Dimension, eine Klassenfrage. Von allen 3 Seiten her, der israelischen, der palästinensischen und der der arabischen Nachbarländer, stellt sich also die soziale Frage als die entscheidende Frage. Kommt es nicht zu einer völligen Umwälzung der sozialen Verhältnisse und zur Durchsetzung einer egalitären Gesellschaftsordnung in der gesamten Region, bei der kein Mensch Angst haben muss, kein Wasser oder keine ausreichende medizinische Versorgung zu bekommen, dann kann sich der Teufelskreis nur ewig fortsetzen, mal mit weniger, mal mit mehr Terror, aber nie auch nur einem Hauch an realistischer Perspektive für ein Ende dieser Schrecken.
Auch eine Zwei-Staaten-Lösung ist für die Menschen in den Flüchtlingslagern weder in Dschabalja bei Gaza, noch in Beirut oder anderswo eine Perspektive. Auch den Menschen in Israel mit ihrer ständigen Angst vor Terroranschlägen, kann nur eine egalitäre, also auf sozialer Gleichheit beruhende Gesellschaftsordnung, die auf die gemeinsame Nutzung der Ressourcen ausgerichtet ist, eine Perspektive bieten. Das allerdings ist nur vorstellbar über den Weg der Enteignung des Kapitals in der ganzen Region und der demokratischen Erstellung eines Wirtschaftsplans für den Nahen Osten, also auf einer sozialistischen Grundlage. Dies scheint ein weiter Weg, aber es ist der einzig realistische.

 1 Zur ausführlicheren Analyse des Verhältnisses Israel Palästina, der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung und der Judaisierung der Westbank, speziell Ostjerusalems vgl. auch unser Heft Israel – Palästina, internationale theorie Nr. 12, zu beziehen über die Redaktionsadresse gegen die Einsendung von Briefmarken im Wert von 3 € (einschl. Porto u. Verpackung).
2 Speziell zu den Wanderarbeitern im Irak wird Harry Tuttle in der nächsten Avanti einiges ausführen

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