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Innenpolitik

“Wir” und “das Volk”

Von Heiko Freund | 15.09.2004

Immer wieder werden auf Montagsdemonstrationen Rufe laut: “Das Volk sind wir” – Sind “wir” das wirklich?

Immer wieder werden auf Montagsdemonstrationen Rufe laut: “Das Volk sind wir” – Sind “wir” das wirklich?

Zweifellos sind viel mehr Menschen über Hartz IV und die Reformen der Bundesregierung empört, als die 150 000 bis 200 000, die Montag für Montag in über 200 Städten auf die Straße gehen. Wir drücken die Stimmung einer großen Minderheit, vielleicht sogar der Mehrheit der Bevölkerung aus. Aber “das Volk” sind wir damit noch lange nicht.
Sicherlich ist es ein Unterschied, wenn eine protestierende Angestellte und ein Erwerbsloser “Wir sind das Volk” rufen oder Bundeskanzler Schröder antwortet “wir sind ein Volk”. Die Angestellte und der Erwerbslose sprechen der Regierung die Berechtigung ab, Reformen auf Kosten der Lohnabhängigen durchzuführen. Schröder verteidigt Hartz IV als legitim, indem er sich auf die Wahl seiner Regierung durch “das Volk” beruft. Zum “Volk” gehören die “oben” genauso wie die “unten”.

Hierarchie der Ausbeutung

Wenn Linke in die Montagsdemonstrationen das Motto “Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir” hineintragen, dann spielen sie ungewollt dem Nationalismus und Rassismus in die Hände und treten ihre eigenen sozialistischen Ansprüche mit Füßen.
Die Hierarchie der Ausbeutung umfasst in der BRD u. a. 300 000 KapitaleignerInnen, 100 000 ManagerInnen, 400 000 leitende Angestellte, 100 000 BerufspolitikerInnen bei insgesamt 3,7 Mio. Selbständigen. Sie alle gehören zum “Volk”. Aber sie profitieren von den Reformen, während die 32 Mio. ArbeiterInnen, Angestellten und BeamtInnen, die 7 Mio. Erwerbslosen, RentnerInnen…. sie bezahlen müssen. Hartz IV und die Agenda 2010 werfen den Gegensatz von “arm” und “reich” auf, den Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital. Marx und Lenin würden sich im Grab umdrehen, wenn sie wüssten, dass in ihrem Namen “das Volk” und nicht die “ArbeiterInnenklasse” zum Handeln aufgefordert wird.

Rassistisch

Wir leben auch nicht im luftleeren Raum, sondern in der Bundesrepublik Deutschland. “Das Volk” in diesem Land ist laut Grundgesetz “das Deutsche Volk”. Ihm zugehörig sind nur “alle Deutschen”. Offensichtlich gibt es in der BRD aber auch noch Angehörige vieler anderer “Völker” und Nationalitäten. Deshalb ist die Parole “Das Volk sind wir” nicht nur klassenunspezifisch, sondern ausgrenzend und rassistisch.
Darüber hinaus gibt es aber noch die EU und eine globalisierte Welt. In einer Zeit, in der “globales Handeln” der Ausgebeuteten und Unterdrückten zur Voraussetzung einer erfolgreichen Gegenwehr wird, wo die Demonstrationen in Seattle und Genua, die Weltsozialforen in Porto Alegre und Mumbai, das ESF in Florenz und Paris zu Symbolen internationaler Vernetzung und Gegenwehr von unten geworden sind, in dieser Zeit in Deutschland “das Volk sind wir” zu rufen, ist nicht nur nationalistisch sondern auch nationalborniert.

Demo 3. Oktober?

Nicht zuletzt verrät der Slogan “Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir” eine maßlose Selbstüberschätzung der eigenen Stärke. Wir sehen in den Montagsdemonstrationen die Anfänge einer außerparlamentarischen Bewegung, Nur sie kann Hartz IV und die Agenda 2010 zu Fall bringen. Aber es wäre völlig übertrieben, wenn ein paar Hunderttausend DemonstrantInnen behaupten würden “Wir sind das Volk”.
Hinzu kommt der Zusammenhang, in dem diese Losung steht: Wer für den 3. Oktober (dem Tag der Deutschen Einheit) zum “Marsch auf Berlin” (keine linke Tradition, aber berühmt geworden als “Marsch auf die Feldherrnhalle”) unter dem Motto “Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir” aufruft, versucht sehr bewusst mit einer populistischen Politik in rechtstrüben Gewässern zu fischen. Und hier antworten wir ebenso bewusst: Wehret den Anfängen!

 

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