Wer war und was war Michail Sergejewitsch Gorbatschow?
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Die Revolution war schon tot, auch ohne Gorbatschow.

Wer war und was war Michail Sergejewitsch Gorbatschow?

Von Daniel Tanuro | 09.09.2022

In den sozialen Medien wird viel Unsinn über Gorbatschow verbreitet.

Gorbatschow war nicht der Totengräber der Revolution, die Revolution war längst tot – spätestens seit Stalins Machtübernahme 1928.

Die Revolution, das ist die revolutionäre Macht des Volkes, das sich in Räten (den Sowjets) selbst organisiert. Als Gorbatschow sein Amt antrat, lag die Macht schon seit langem in den exklusiven Händen einer Schicht von Bürokraten, die wie Kapitalisten lebten.

Diese Parasiten taten nicht einmal mehr so, als würden sie an den Sozialismus glauben. Sie träumten davon, sich das Staatseigentum anzueignen und es an ihre Nachkommen weiterzugeben, ihre Metamorphose zu vollenden und den Dogmen der “marxistisch-leninistischen” Staatsreligion (armer Marx, armer Lenin!) nicht länger andächtig folgen zu müssen.

Diese Clique alter Männer brachte Gorbatschow an die Macht, um zu versuchen, das System vor dem Zusammenbruch zu retten. Denn sie alle wussten, der Zusammenbruch galt als unvermeidlich.

Gorbatschows Plan war es, marktwirtschaftliche Reformen einzuführen, um der Planwirtschaft neuen Antrieb zu geben (Perestroika), und demokratische Reformen, um der Herrschaft der Bürokratie Legitimation zu verleihen (Glasnost). Der Plan war nicht, die UdSSR aufzulösen oder den Kapitalismus zu restaurieren.

Gorbatschow scheiterte aus einer ganzen Reihe von Gründen (Afghanistan, Tschernobyl, Reagans Wettrüsten…). Die um sich greifende Atmosphäre vom “Ende des Systems” verschärfte den Cliquenkrieg innerhalb der Bürokratie, man konnte spüren, dass der Fluch sich bald bewahrheiten würde, jeder Bürokrat wollte seine Macht für die Zukunft sichern, mit allen Mitteln, die verfügbar waren. Die Fliehkräfte wurden stärker – vor allem auf der Ebene der Unionsrepubliken.

Aber im Grunde ist es so, dass das monströse System einer kollektivierten Wirtschaft, die im Dienste einer bürokratischen Kaste und auf Kosten der arbeitenden Klassen funktionierte (und zwar sehr schlecht), nicht zu reformieren war.

Es gab nur zwei Lösungen: entweder eine antibürokratische Revolution mit der Wiedergeburt bzw. Neuerfindung der Sowjetmacht des Volkes oder die Wiederherstellung des Kapitalismus durch die Diktatur von Bürokraten, die ihre Verwandlung in Kapitalisten abschließen und gemeinsame Sache mit dem internationalen Kapital machen würden. Nach Jahrzehnten des Totalitarismus und der Lüge lag die Wahrscheinlichkeit der ersten Lösung nahezu bei null.

Die Kommunistische Partei Chinas hat ihre Lehren aus Gorbatschow schnell gezogen: Perestroika ja, Glasnost nein! Und vor allem: Keine demokratischen Rechte für die Chinesen. Und erst recht keine demokratischen Rechte für die Nationalitäten des Reichs!

Damit gelang es der Bürokratie, die Macht zu behalten und sich und China in eine imperialistische Großmacht zu verwandeln – um den Preis einer eisernen Diktatur, die von einem vom Stalinismus übernommenen Polizeiapparat ausgeübt wird, der sich der High-Tech-Methoden des Silicon Valley bedient.

Auch Putin hat seine Lektion gelernt. Anstelle des “naiven” Plans von Gorbatschow mit seiner Glasnost hätte man 1988-1991 Köpfe abschlagen, die Polen, die Balten, die Ukrainer und die Georgier in ihre Schranken weisen sollen. Man hätte Panzer einsetzen müssen wie 1968 in Prag und 1956 in Budapest.

Für Putin hätte diese Diktatur von Anfang an installiert werden müssen, denn sie war die natürliche Ergänzung der Aneignung des Staatseigentums durch die Bürokratie. Die Verwandlung der Bürokraten in kapitalistische Oligarchen wäre dann zentral, unter Moskauer Führung, vonstatten gegangen, statt auf chaotische, wilde und fragmentarische Weise in unabhängigen Republiken.

Putin will das Rad der Geschichte zurückdrehen (soweit seine Armee das kann), um den Oligarchen das russische Imperium zu geben, das sie seiner Meinung nach niemals hätten verlieren dürfen. Ein Imperium, das auf Getreide und fossilen Brennstoffen basiert. Das ist der Sinn des Krieges in der Ukraine und dieser Krieg ist in der Tat ein imperialistischer Krieg.

Das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen, das ist die Definition einer reaktionären Phantasie. Im Zeitalter des Imperialismus trägt letztere immer die Züge des Faschismus. Das ist der Sinn der Ideologie, die den Krieg gegen die Ukraine begleitet. Es ist kein Zufall, dass Alexander Dugin ein Anhänger des Okkultismus ist und ein Bewunderer von Julius Evola. Es ist kein Zufall, dass Putins Verbrechen vom Patriarchen Kyrill als Kreuzzug gegen Schwule und Lesben, diese “degenerierten Menschen des Westens”, gesegnet wird.

Und was ist mit der Linken? Sie ist in ihrer Geschichte gefangen, in ihren Geschichten.

Diejenigen, die vom Phänomen der Bürokratie nicht das geringste verstanden haben, die nicht begreifen, dass Stalin der Führer einer Konterrevolution war, die glauben, dass der Gulag, die Moskauer Schauprozesse und der Pakt mit Hitler “den Kommunismus gerettet haben”, stehen heute recht hilflos da. Ihre schadhafte politische Software bringt sie dazu, dass sie sich mit Putins “Lager” verbünden.

Einige tun dies offen, andere scheinheilig, im Namen des “Friedens, der friedlichen Koexistenz” (das klingt wie bei den Eurokommunisten des vergangenen Jahrhunderts!) und der Vorrangigkeit der sozialen Probleme “unserer” Arbeiter “bei uns zu Hause” (kommt uns das nicht bekannt vor?). Aber in beiden Fällen ist das Ergebnis katastrophal: man verfolgt eine Politik, die den Rechten der Völker, die dem Internationalismus und damit der Revolution zuwiderläuft, und hüllt sich in die rot-braune Fahne des sogenannten “Marxismus-Leninismus”. “Die Geschichte ist unser Buch”, sagte Marx. Daneben zu greifen und das falsche Buch zu erwischen, ist gefährlich. Es ist so, als ob man die falsche Abzweigung nimmt. Das ist gefährlich. Vor allem, wenn man das Buch für heilig hält.

Quelle: https://internationalviewpoint.org/spip.php?article7798. Aus dem Englischen von H.L.

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