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Innenpolitik

Wer sind “Wir”?

Von Erik Hansen | 01.10.2004

Der Auftritt des Kanzlers beim “Ratgeber-Magazin Guter Rat” im September bot zahlreichen Verbands-SprecherInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen Gelegenheit, zustimmend oder nachdenklich mahnend in die Diskussion um Hartz IV einzugreifen.

Der Auftritt des Kanzlers beim “Ratgeber-Magazin Guter Rat” im September bot zahlreichen Verbands-SprecherInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen Gelegenheit, zustimmend oder nachdenklich mahnend in die Diskussion um Hartz IV einzugreifen.

Dabei hatte Schröder gar nichts Spektakuläres gesagt. Nach den bekannten Allgemeinplätzen – deutsche “Arbeitnehmer” und “Arbeitgeber” müssten die Kosten der Globalisierung gemeinsam tragen und die Zustimmung zu seinem Reformprogramm gebiete schon die Einsicht in die Notwendigkeit – schoss er rhetorisch wahllos in die Menge so genannter “Sozialschmarotzer”.
Was der Kanzler eigentlich gesagt hatte, dass nämlich die Armen dem Staat mit ihrer Armut langsam lästig werden, und sich ihren Teil gefälligst bei ihren Familien holen sollen, beeilte sich sein Sprecher Béla Anda rasch zu relativieren: Schröders Vorwurf beziehe sich auch auf die oberen EinkommensbezieherInnen, wenn dort solche Praktiken vorkämen. Unsäglich wie sein Beitrag zur Debatte um “Florida Rolf” im letzten Sommerloch ist des Kanzlers neueste Schelte allemal. Doch wirft sie eine interessante Frage auf: Warum können so viele argumentativ an Schröders schlichter Polemik anknüpfen? Zu sagen, Schröder irre sich in diesem oder jenem Punkt, heißt ja andrerseits, er habe im Großen und Ganzen mit seiner Aussage den gemeinsamen Boden dessen nicht verlassen, was politisch tragbar erscheint. Welches Weltbild eint also Schröder mit denen, die an seinen Worten anknüpfen können?

Appell an Gemeinwohl

Das herrschende Bild der Gesellschaft kommt nicht aus ohne die Behauptung eines gemeinsamen Interesses. Dies wird z.B. deutlich, wenn an die Staatsräson appelliert wird oder an das Gemeinwohl, aber auch, wenn Menschen ihre so genannten Partikularinteressen hinter den Interessen des Standortes Deutschland zurückstecken sollen. Dass dieser Standort nebenher auch eine Gesellschaft ist, in der es Arm und Reich, Kapital und Arbeit, StaatsbürgerInnen und AusländerInnen, Männer und Frauen, Hetero- und Homosexuelle, und viele mehr gibt, dieser Sachverhalt spielt in der herrschenden Ideologie nicht die erste Geige.
Ebenso in der Logik des Arbeitsplatzes: Der Arbeitsplatz ist in dieser Ideologie ein Gemeingut. Ihn zu erhalten sei die Aufgabe der Allgemeinheit und wie er erhalten bzw. zerstört wird, sei objektiv einsehbar: Sind z.B. die Löhne zu hoch, so ist der Arbeitsplatz tendenziell gefährdet, sind sie zu niedrig… nein, zu niedrig sind die Löhne eigentlich nie! Dasselbe Argument bezüglich des Sozialstaats: Wir können uns den Sozialstaat, so wie er ist, nicht länger leisten, deshalb müssen die Ansprüche an ihn gesenkt werden.
Was diese Sicht auf die Dinge ausblendet, ist der Kern der Sache. Arbeitsplatz, Betriebe, Sozialstaat – hier treffen gegensätzliche Interessen aufeinander, z.B. der Eigentümer, der die Herrschaft im Betrieb ausübt und der Erwerbstätige, der von seinem Job und damit vom Eigentümer abhängig ist. Oder diejenigen, die Sozialleistungen beziehen, weil es für sie im Standort Deutschland keine Erwerbsarbeit mehr gibt und diejenigen, die den Sozialstaat nicht mehr finanzieren wollen, weil ihre Profite dadurch geschmälert werden könnten.
“Wir”, “Deutschland” und ähnlich vereinnahmende Wörter verdecken die Interessengegensätze, die bei jedem Streik und jeder Demo gegen Hartz IV so offensichtlich werden. In einer Gesellschaft, die so von sozialer Herrschaft durchzogen ist, wie diese, wirkt solche Vereinnahmung für die Nation und ihr Gemeinwohl wie Gift gegen das Selbstbewusstsein der Beherrschten. Wenn Schröder von “uns” spricht, wirbt er für die einsichtige Unterordnung unter Herrschaft und ökonomische Verwertbarkeit. Und er wirbt dafür, die Aggressionen, die solcher Unterordnung auf den Fuß folgen, an denjenigen auszulassen, die sich mehr von dem wenigen nehmen, als ihnen angeblich zustehe. Die Jagd auf die Schwachen ist eröffnet (auch wenn Béla Anda richtig stellen würde, es sei ebenso die Jagd auf die “starken” Schwachen eröffnet). Wer sich an dieser Jagd beteiligt, hat sich auf die Logik von Hartz IV bereits eingelassen.

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