TEILEN
Innenpolitik

VW-Abgas-Skandal: Das Übel ist die Autogesellschaft

Von Jakob Schäfer | 28.11.2015

VW weiß seit Mai 2014 über die Erkenntnisse des International Council on Clean Transportation Bescheid, hat aber nichts unternommen. Mindestens genauso verheerend ist die Untätigkeit der Bundesregierung.

VW weiß seit Mai 2014 über die Erkenntnisse des International Council on Clean Transportation Bescheid, hat aber nichts unternommen. Mindestens genauso verheerend ist die Untätigkeit der Bundesregierung.

Seit 15 Jahren nämlich weist das Bundesumweltministerium ganz offiziell in seinen jährlichen Berichten darauf hin, dass beispielsweise der real gemessene Spritverbrauch von den Herstellerangaben abweicht. Und auch vor Bekanntwerden des „VW-Skandals“ wusste die Regierung, dass die Schadstoff-Emissionen um ca. das Sechsfache über den zulässigen Werten liegen (s. das Schreiben der Bundesregierung vom 18. 8.2015 an die EU).

Oberstes Ziel der Autoindustrie ist bekanntlich die Erhöhung des Absatzes und der Profite und nicht etwa die Minderung der krankmachenden und umweltschädlichen Emissionen. Aber die Regierung sorgt nicht nur für höhere Grenzwerte, als von den Fachleuten (vor allem den Ärzten) empfohlen, sondern setzt noch nicht mal die Einhaltung dieser hohen Werte durch, wie sie etwa in den EU-Verordnungen Nr. 715/2007 und 692/2008 festgelegt sind. Nähere Angaben in der Chronologie der Deutschen Umwelthilfe „Kniefall der Bundesregierung vor der Autoindustrie“ vom 29.9.2015 (http://l.duh.de/abgas).

Nur die Spitze des Eisbergs

In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte wird fast ausnahmslos die Betrügerei von VW thematisiert. Dabei ist heute schon gesicherte Erkenntnis, dass auch die anderen Hersteller systematisch falsche Angaben nicht nur zum Spritverbrauch, sondern auch zur Umweltbelastung machen. Bei den Schadstoff-Emissionen handelt es sich vor allem um Kohlendioxid (CO2), Stickoxide (NOx) sowie um Feinstaub.

Besonders der Feinstaub ist für die Gesundheit der Menschen extrem schädlich. Die Feinstaub-Bestandteile PM10 und PM2,5 sind in den 1990er Jahre wegen neuer Erkenntnisse über ihre Wirkungen auf die menschliche Gesundheit in den Vordergrund getreten. Damals konnten diese Emissionen noch nennenswert reduziert werden. Doch seit Anfang dieses Jahrhunderts gibt es keine richtigen Fortschritte mehr. Der Grund: Die Autos wiegen heute im Schnitt mehr also doppelt so viel wie vor 35 Jahren, die PS-Zahl ist um das 2,5-fache gestiegen und vor allem steigen ständig die Autodichte und die Zahl der gefahrenen Kilometer.

Augenwischerei „Überschreitungstage“

Nach der Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen (39. BImSchV), mit der die in der Europäischen Union geltenden Grenzwerte in deutsches Recht umgesetzt sind, darf seit 2005 eine PM10-Konzentration von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter (µg/m³) im Tagesmittel nur an höchstens 35 Tagen im Jahr überschritten werden.

Die offiziellen Grenzwerte (wie auch die Festlegung der Zahl der „Überschreitungstage“) sind nicht wissenschaftlich (medizinisch und ökologisch) begründet, sondern durchweg politisch festgelegt, je nach Maßgabe dessen, was den Konzernen zugemutet oder nicht zugemutet werden soll. Und selbst diese Werte werden nicht eingehalten. Am häufigsten überschritten werden die zulässigen Feinstaubkonzentrationen in Stuttgart, Reutlingen, Gelsenkirchen, Aachen, Hagen, München, Duisburg, Dortmund, Herne, Köln, …

WHO-Grenzwerte

„Die Belastung mit Krebs erregendem Feinstaub wird in Berlin auf absehbare Zeit höher sein, als es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt. Zu diesem Ergebnis kommt eine europaweite Studie des österreichischen Forschungsinstitutes für angewandte Systemanalyse (IIASA), die jetzt veröffentlicht wurde.

Den Forschern zufolge werden 2030 etwa 80 Prozent der EU-Bevölkerung einer Belastung oberhalb der WHO-Empfehlungen ausgesetzt sein. […] Die für Berlin prognostizierten 25 bis 35 Mikrogramm Feinstaub je Kubikmeter liegen […] über der WHO-Empfehlung von 20 Mikrogramm. Den EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm im Jahresdurchschnitt würde Berlin einhalten. Mediziner fordern allerdings schon lange, den Wert zu reduzieren.“ Berliner Morgenpost 23. 2. 2015

Mörderische Autogesellschaft

Vollkommen außerhalb der öffentlichen Diskussion ist eine Gesamtbetrachtung der mörderischen und insgesamt schädlichen Auswirkungen der Autogesellschaft. Nicht nur ist sie verantwortlich für jährlich 50 000 Tote in der EU (allein durch Verkehrsunfälle). Die Verletzten sind dabei nicht mitgerechnet (in der BRD mehr als 300 000 jedes Jahr). Die erhöhte Sterblichkeitsrate aufgrund von Feinstaub, Stress (z. B. aufgrund des Lärms) usw. wird statistisch nicht erfasst, liegt aber nach Schätzungen von Fachleuten noch höher als die bei Verkehrsunfällen.

Hinzu kommen weitere gewichtige Faktoren: Ständig werden weitere Flächen zuasphaltiert, die Städte werden verlärmt, 25 % der klimaschädlichen Treibhausgase werden durch den Straßenverkehr (im Wesentlichen PKW und LKW) verursacht.

Ebenfalls völlig ausgeblendet sind die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Autogesellschaft. So ist der städtische Pkw-Verkehr ca. 35-mal teurer als der Verkehr mit Straßenbahnen, jedenfalls dann, wenn nicht nur die Verkehrswege und Verkehrsmittel gerechnet werden, sondern z. B. auch die Unfallkosten, Krankheitskosten usw. In einem Auto sitzen im Schnitt 1,2 Personen. Es ist extrem unwirtschaftlich, dafür ein Nettogewicht von durchschnittlich 1,2 Tonnen pro PKW zu bewegen, von dem größeren Flächenbedarf gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln ganz abgesehen. So ist also nicht nur die ökologische Bilanz für das Auto extrem ungünstig.

Dass die Autogesellschaft sich durchgesetzt hat, liegt nicht einfach an der Mentalität der Menschen (als gäbe es zu viele Autonarren). Die Frage ist nämlich, warum es überhaupt zu einer größeren Zahl von Autonarren kommen kann. Die Autogesellschaft hat sich im Wesentlichen aus zwei Gründen durchgesetzt:

A. Der motorisierte Individualverkehr ist für eine kapitalistische Verwertung des Verkehrssektors weit besser geeignet als der Ausbau von gemeinschaftlich genutzten Verkehrsmitteln (Straßenbahnen, Busse, Bahnen). Mit dem massenhaften Verkauf von PKW werden viel größere Umsätze gemacht. Und da die Regierungen den Kapitalinteressen verpflichtet sind – und nicht dem Gemeinwohl –, werden die öffentlichen Verkehrsmittel vernachlässigt. So wird seit Jahrzehnten das Schienennetz zurückgebaut, die Infrastruktur für die Autogesellschaft weitgehend von der öffentlichen Hand finanziert (die Bahn hat viel höhere Kosten, denn sie muss für ihre Investitionen Kredite aufnehmen), sodass der ÖPNV nicht nur zu teuer ist. Er ist schlecht getaktet, kaum vernetzt.

B. Neben der Kostenfrage ist es vor allem die verheerende Infrastrukturpolitik, die dazu führt, dass die Menschen für den Weg zum Einkaufen, zur Arbeit usw. immer längere Wege zurücklegen müssen. Bei einem schlecht aufgestellten öffentlichen Verkeh
rssystem fällt die Wahl sowohl aus Kosten- wie vor allem aus Zeitgründen (für den einzelnen Menschen, nicht für die Gesamtgesellschaft gerechnet) dann schnell für die Anschaffung eines Autos aus. Und so fördert das eine Moment das andere.


Welche Konsequenzen?

Dass wir alle viel besser leben würden – und unter dem Strich auch mobiler wären –, wenn statt des motorisierten Individualverkehrs der öffentliche Verkehr den absoluten Vorrang hätte, ist nicht sofort ersichtlich, sondern erschließt sich erst, wenn

a.        die Kosten und die realen wirtschaftlichen, ökologischen und gesundheitlichen Belastungen in Rechnung gestellt werden und
b.        die Alternativen deutlich gemacht werden, die aber nur dann greifen, wenn sie in einem Gesamtkonzept umgesetzt werden.


Einzelmaßnahmen alleine reichen nicht aus, um von der Autogesellschaft wegzukommen. Die Menschen müssen eine reale brauchbare Alternative haben, sonst bleibt in breiten Bevölkerungsschichten das Auto – schon aus unmittelbaren Nützlichkeitsüberlegungen – weiterhin die erste Wahl.

Und angesichts der gewaltigen Summen, die in der spätkapitalistischen ölbasierten Wirtschaft investiert sind (dieser Sektor ist seit Jahrzehnten der alles beherrschende Sektor), lässt sich das nicht mit der Wahl einer anderen Regierung ändern. Schließlich sind es nicht nur die Ölkonzerne, sondern der gesamte Automobilsektor, der exorbitant gestiegene Flugverkehr, der Straßenbau usw. Für die Durchsetzung eines Alternativkonzepts braucht es eine starke Bewegung von unten und vor allem die Kraft und Macht einer organisierten, selbsttätigen Arbeiter­Innenklasse.

Worin besteht ein solches Alternativkonzept? Hier einige wesentliche Elemente:

  • Massiver Ausbau des öffentlichen Verkehrssektors (mehr Linien, engere Taktung) und dabei der Vorrang für Straßenbahnen; Vernetzung der verschiedenen Verkehrsmittel;
  • Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) muss kostenlos sein;
  • Verbot von Fernlastverkehr auf der Straße (alles, was über 200 km geht, muss unabweislich auf die Bahn verlagert werden); Lkw-Verkehr nur zur Feinverteilung; drastische Anhebung der Lkw-Maut;
  • Verbot von PKW-Motoren mit hoher PS-Zahl; Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 (Autobahnen) und 30 (innerorts);
  • Entschädigungslose Enteignung der Autokonzerne und Umstellung auf ökologisch vertretbare Verkehrsmittel (Bahnen, Busse, Fahrräder) unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Öffentlichkeit;
  • Verbot von Kurzstreckenflügen unter 1000 km; uneingeschränktes Nachtflugverbot von 22.00 bis 6.00 Uhr; Besteuerung des Kerosins;
  • Massiver Ausbau von durchgängigen Radwegnetzen in Stadt und Land;
  • Eine durchgängige und verpflichtende Infrastruktur- und Raumordnungsplanung, um die Wege kurz zu halten (zur ärztlichen Versorgung, zum Einkaufen, zu den Ämtern, zu Arbeitsplätzen usw.);
  • Verhinderung von jeglichen Privatisierungsbestrebungen; stattdessen Vergesellschaftung der verschiedenen Verkehrsträger, also Kontrolle durch die dort Beschäftigten und die Nutzer­Innen;
  • Die Renaturierung  versiegelter Flächen.

TiPP
Für mehr Details zur strukturellen Benachteiligung des ÖPNV und zu den Gründen des Ausbaus der Autogesellschaft wie auch zu ihren verheerenden Auswirkungen verweisen wir auf den Beitrag von Daniel Berger: Ein entschiedenes Nein zur Autogesellschaft

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite