Vom Sohn einer armen Bäuerin zum Revolutionär

Pierre Louis

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Pierre Louis (1935‒2021)

Vom Sohn einer armen Bäuerin zum Revolutionär

Von Genoss*innen in Billancourt | 12.03.2021

Zum Tod des Revolutionärs Pierre Louis, der seine Kindheit in Nordvietnam verbrachte, bevor er in den französischen Aufständen von 1968 zum Revolutionär wurde. Als solcher war er lange in Gewerkschaften aktiv und streikte oft als einziger der bessergestellten Techniker seines Betriebs.

Unser Genosse Pierre Louis, der auch unter dem Organisationspseudonym Chenier bekannt war, hat uns im Alter von 86 Jahren verlassen. Er hat bei Renault in Billancourt gearbeitet und war von 1968 bis 2012 als Mitglied der Ligue communiste, dann der LCR und der NPA politisch aktiv. Obwohl er nicht mehr Mitglied war, kandidierte er 2014 auf einer Liste „Front de gauche/NPA“ bei einer Kommunalwahl.

Er war das Kind einer armen Bäuerin und eines „unbekannten“ Vaters, eines Soldaten des französischen Expeditionskorps in Indochina; seine Mutter gab ihm den Namen Phan van Thanh. Als er 6 Jahre alt war, kam er in ein katholisches Waisenhaus in Bac Ninh im Norden von Vietnam; 1947 wurde er ohne Zustimmung seiner Mutter im Alter von 12 Jahren in die Metropole gebracht. Zugleich erhielt er die französische Staatsbürgerschaft und den Namen „Pierre Louis“.

In seinem Buch Enfance dʼun petit eurasien (Kindheit eines kleinen Eurasiers), das uns alle sehr bewegt hat und das unter seinem ursprünglichen Namen in dem vietnamesischen Verlag Thé Gioi erschienen ist, hat er über seine Kindheit und Jugend erzählt, die von den Ungerechtigkeiten der französischen Kolonialmacht in Indochina geprägt waren.

Er kam in verschiedene Internate und Ausbildungszentren, 1953 erwarb einen Abschluss als Dreher, gefolgt von einem Berufsabschluss als Monteur 1954. Von 1955 bis 1965 arbeitete er in der Region Paris in verschiedenen Ingenieurbüros. Von 1965 bis März 1969 war er als Industriezeichner in dem Forschungszentrum des „Commissariat à lʼénergie atomique“ (CEA) in Saclay (Département Essone, Ile de France) angestellt. Zu dieser Zeit hatte er seine katholische Erziehung und Gläubigkeit hinter sich gelassen und war er politisch mehr oder minder Anhänger des Präsidenten, von General de Gaulle; der Streik im Mai/Juni 1968 in Saclay brachte eine Wende in seinem Leben. Als Repräsentant der „intérimaires“ (Zeitarbeiter) kam er in das zentrale Streikkomitee in Saclay; in dem „Conseil ouvrier“ (Arbeiterrat) des von den Beschäftigten besetzten Forschungszentrums des CEA waren auch viele, sogar hochgestellte Techniker vertreten. In diesem Streikkomitee war auch Jacques Pesquet, ein Mitglied der Sektion der IV. Internationale, der noch im selben Jahr ein kleines Buch über die „Sowjets in Saclay“ veröffentlichte.[i] Jacques Pesquet war es auch, der Pierre Louis in eines der „Comités rouges“ brachte, die im Herbst 1968 nach dem Verbot der Sektion und der „Jeunesses communistes révolutionnaires“ (JCR) gebildet und zu Keimzellen der „Ligue communiste“ wurden, die im April 1969 gegründet wurde. Einen Monat vorher war der Vertrag von Pierre Louis als „intérim“ nicht verlängert worden.

Nachdem er 1969 bei Renault-Billancourt anfing, wo er den größten Teil seines Berufslebens verbrachte, wurden wir bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1990 Teil seines Lebens als politisch Aktiver und als Freund.

Der einzige Techniker, der mitgestreikt hat

Er war zunächst Mitglied des Gewerkschaftsverbands CGT und wurde Sekretär der Betriebsgruppe der Technikerföderation UGICT/ETDA; er trat aus, weil er mit der Haltung der CGT nach der Ermordung von Pierre Overney durch die Werkspolizei von Renault im Februar 1972 nicht einverstanden war (die damals noch eng an die Französische Kommunistische Partei PCF gekoppelte CGT distanzierte sich entschieden von den „gauchistes“ wie Pierre Overney, einem „mao-spontex“). Pierre trat danach der CFDT bei und wurde für diesen Verband zweimal zum Delegierten des Personals gewählt. Er wurde aus dem Gewerkschaftsrat der CFDT ausgeschlossen und seiner Funktion als Sekretär der Betriebsgruppe enthoben, weil er sich gegen die Wende dieses Verbands ab 1985 stellte, der sich dann auch mit der Schließung des Werks einverstanden erklären sollte.[ii] Von 1988 bis 1990 war er wieder Mitglied der CGT. Er erinnerte sich voller Rührung an die verschiedenen Streiks, die in den 1970er Jahren bei Renault stattfanden, und an die Nächte, die er dann in den Werkshallen zubrachte, als einziger Techniker in Billancourt, der mitgestreikt hat. Er erinnerte sich auch daran, wie schwierig es für ihn war, wenn er alleine vor zahllosen Leitungsleuten und den Mitgliedern von CGT und der PCF dastand.

Pierre war der Vorsitzende der Vereinigung „Orange fleurs dʼespoir“, die sich für die Opfer von Agent Orange während des Vietnamkriegs einsetzte, und Mitglied der „Union des Vietnamiens en France“. Nach seiner Pensionierung arbeitete er als ehrenamtlicher Moderator und Psychotherapiebetreuer (nachdem er die entsprechenden Diplome bestanden hatte).

In den letzten Jahren lebte er in Tours; wegen gesundheitlicher Probleme ist er vor kurzem in ein Altenheim verlegt worden. Er ist mehrere Male verheiratet gewesen. Wir, seine ehemaligen Genoss*innen bei Renault-Billancourt, haben einen der Unseren verloren und teilen die Trauer seiner Familie, seiner Partnerin und seiner Kinder. Pierre ist bis zum Schluss seinen Überzeugungen und seiner Organisation treu geblieben.

Emmanuelle, Janette, Jean, Jean-Claude, Patrick, Ramon, Roland ‒ seine Genoss*innen in Billancourt

Dieser Artikel ist am 10. März 2021 auf der Website von l’Anticapitaliste, der Wochenzeitung der französischen Neuen Antikapitalistischen Partei, veröffentlicht worden (https://lanticapitaliste.org/actualite/vie-interne/pierre-louis).

Eine umfangreichere biographische Notiz ist in dem Nachschlagewerk „Maitron“ erschienen: https://maitron.fr/spip.php?article158688.

Aus dem Französischen übersetzt, bearbeitet und mit Anmerkungen von Wilfried


[i] Jacques Pesquet, Des soviets à Saclay? Premier bilan dʼune expérience de conseils ouvriers au Commissariat à lʼEnergie Atomique, Paris: Maspero, 1968.
Auf Deutsch, zusammen mit einem Essay von Antonio Gramsci: Jacques Pesquet, Räte in Saclay? Räte in Turin, München: Verlagskooperative Trikont, 1969, (Schriften zum Klassenkampf, Bd. 9).
Zu Jacques Pesquet (1937‒1996), Mitglied der PSU, der PCI und von 1969 bis 1981 der Ligue communiste bzw. LCR, der 1975 den Ausbau der Druckerei der LCR für die Herstellung von Rouge als Tageszeitung (1976 bis 1979) leitete und ihr erster Geschäftsführer war, siehe eine ausführliche biographische Notiz: https://maitron.fr/spip.php?article160666.

[ii] In der Gemeinde Boulogne-Billancourt, die im Département Hauts-de Seine südwestlich von Paris und südlich vom Bois de Boulogne liegt und sowohl als einer vornehmsten Vororte von Paris gilt als auch durch Industriebetriebe geprägt war, baute Louis Renault 1898 in einem Schuppen sein erstes Automobil und entstand Anfang des 20. Jahrhunderts das Stammwerk des späteren Renault-Konzerns. Auf der Île de Séguin in einer großen Flussschleife der Seine wurde von 1929 bis 1934 das Werk gebaut, damals der größte Industriebetrieb Frankreichs mit rund 30 000 Beschäftigten. Die Firma wurde im Januar 1945 verstaatlicht, ihre Werke, besonders Billancourt, waren jahrzehntelang Bastionen der Gewerkschaftsbewegung, vor allem der CGT, und der Französischen Kommunistischen Partei.


1989 gab die Firmenleitung die Schließung des Werks Billancourt bekannt, 1992 rollte der letzte Pkw vom Band, der Abriss der Werkshallen war im März 2005 abgeschlossen.

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