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Innenpolitik

Völliges Chaos oder geplante Irreführung ?

Von Thadeus Pato | 01.10.2004

Die obige Frage müssen sich zwangsläufig alle stelle, die über die letzten mindestens fünfzehn Jahre die Entwicklung im sogenannten deutschen Gesundheitssystem betrachtet haben.

Die obige Frage müssen sich zwangsläufig alle stelle, die über die letzten mindestens fünfzehn Jahre die Entwicklung im sogenannten deutschen Gesundheitssystem betrachtet haben.

Eine “Gesundheitsreform”, bei der jeweils ein Teil dessen, was in der vorherigen beschlossen wurde, wieder zurückgenommen, modifiziert oder auch ganz anders gemacht wurde, jagte in zwei- bis dreijährigem Abstand die nächste und kaum dass Frau Schmidt die Grausamkeiten von Anfang diesen Jahres begangen hatte, drohte sie schon mit neuen – natürlich in Gestalt einer neuerlichen großen “Reform”. Was steckt nun eigentlich hinter diesem seit anderthalb Jahrzehnten anhaltenden Durcheinander?

Dichtung und Wahrheit

Will man verstehen, um was es den Agierenden, seien es nun die PolitikerInnen verschiedenster Couleur oder die Lobbyisten aller Seiten, geht, ist es ratsam, zunächst einmal Dichtung und Wahrheit zu trennen:
Dichtung: Dem Gesundheitswesen als kultureller Errungenschaft geht es ausschließlich um die körperliche und geistige Gesundheit der Menschen, das Solidarsystem dient der gerechten Verteilung der Ressourcen, alle Veränderungen dienen nur dazu, diese hehren Prinzipien auch bei knappen Kassen und ausufernden Kosten soweit als möglich beibehalten zu können.
Wahrheit: Das System der Krankenversorgung ist geschaffen und ausgebaut worden, um die durch die nötige Ausbildung teuer gewordene Arbeitskraft (und –fähigkeit ) zu erhalten, das Solidarsystem dient dazu, die Geringverdiener kollektiv zur Kasse zu bitten (während die Großverdiener keine Solidarität brauchen und sie auch nicht gewähren), ein Kostenproblem gibt es nachweislich nicht, sondern ein Einnahmeproblem wegen der andauernd hohen Arbeitslosigkeit.

Um Gesundheit geht es nicht

Um Gesundheit ging es immer erst unter ferner liefen. Es ging und geht erst einmal um die Arbeits- und Konsumfähigkeit. Insofern war es nur logisch, dass in einer Zeit der Vollbeschäftigung, als sogar Arbeitskräfte importiert werden mussten, die Leistungen des Systems ausgeweitet wurden. Daran waren nicht zuletzt die Lobbies des medizinisch-industriellen Komplexes beteiligt, die in dieser Boomphase das Geschäft ihres Lebens witterten (und es auch bekamen, sieht man sich die Umsatzentwicklung der entsprechenden Industriezweige an).
Denn etwas hat sich tatsächlich in den letzten knapp 130 Jahren, die das bismarck‘sche System der Solidarversicherung existiert, geändert. Und das ist, dass seinerzeit das System in erster Linie dem Reproduktionsbereich zuzuordnen war. Die Versorgung im Krankheitsfall war fast ausschließlich eine (unproduktive) Dienstleistung, eine medizinische Industrie im heutigen Sinne bestand nicht. Heute ist der so genannte medizinisch-industrielle Komplex mit seiner Pharma-, Geräte-, Bau- und Hilfsmittelindustrie ein richtiggehender Wirtschaftsfaktor und immer noch einer der größten Wachstumsmärkte.
Als allerdings die Krise kam, die Arbeitslosenzahlen emporgingen und sich auf hohem Niveau hielten, hatte das Folgen: Zum einen protestierte der Teil des Kapitals, der sich durch die steigenden Beiträge (aufgrund der Arbeitslosigkeit und des daraus folgenden Einnahmeproblems der Krankenkassen) schon dicht vor dem Bettelstab wähnte. Diese Kapitalfraktion schwärzte die Kollegen von der Medizinbranche an, die sich auf ihre Kosten eine goldene Nase verdienen würden. Eine Folge daraus waren die regelmäßigen Versuche von Preisbegrenzungen/Festbetragsregelungen etc. Außerdem sahen sie nicht ein, warum einer industriellen Reservearmee, die außer als Mittel für Lohndrückerei gar nicht mehr benötigt wurde, weil seit zwanzig Jahren die Produktivitätssteigerungen über der Wachstumsrate liegen, eine medizinische Rundumversorgung spendiert werden soll, wenn sie denn auf Sicht doch nicht mehr als Arbeitskräftepotential in Frage kommt. Und weil man gerade dabei ist, will man bei dieser Gelegenheit auch gleich noch den so genannten Arbeitgeberanteil ganz loswerden: Anfang September gab der Präsident des Unternehmerverbandes ein Interview (das er, als es bekannt wurde, schnell relativierte), in dem er klar ausdrückte, dass es überhaupt nicht mehr einzusehen sei, warum die Arbeitgeber einen Teil der Sozialabgaben zahlen sollten.

Profite, Profite….

Die zweite Gruppe, die in diesem Zusammenhang seit langem mitmischt, ist die der großen Versicherungskonzerne. Denen war die selbstverwaltete und (jedenfalls im Prinzip) als non-profit-Unternehmen arbeitende gesetzliche Krankenversicherung ein Dorn im Auge, weil sie ihre Expansion behinderte. Ihre Wühlarbeit war insofern erfolgreich, als eine Anhebung der Versicherungspflichtgrenze bisher verhindert wurde und die Zukunft wird wohl glänzend für sie: Sowohl das Kopfpauschalenmodell der CDU als auch die so genannte Bürgerversicherung von SPD/Grünen werden ihre Verdienstmöglichkeiten aufgrund der angekündigten Wahlfreiheit der Versicherung deutlich erweitern. Durch die Herausnahme einzelner Leistungen aus dem Katalog der gesetzlichen Kassen und die daraufhin fälligen Zusatzversicherungen winkt ihnen ohnedies ein schönes Geschäft.

Gemengelage

Wir haben also auf der einen Seite die Kapitalien, die vom Wachstum der Medizinbranche profitieren und denen die Ausgaben in diesem Bereich nicht hoch genug sein können. Auf der anderen Seite stehen die Kapitalfraktionen, die angesichts eines Heers von Arbeitslosen und Armen die günstige Gelegenheit ergreifen wollen, die gesellschaftlichen/gesundheitlichen Risiken und Nebenwirkungen des herrschenden Gesellschaftssystems, die bisher über das Prinzip der Solidarversicherung – wenn auch mehr schlecht als recht – teilweise gesellschaftlich abgefedert wurden, endlich komplett zu privatisieren und sich damit eines Teils ihrer “unproduktiven” Kosten zu entledigen. Das nennt sich auf ökonomisch schlicht: Sanierung der Profitraten.
Daneben gibt es natürlich auch noch den mittelständischen Bereich der Dienstleister in der Medizinbranche, nämlich Ärzte etc., der allerdings – der letzte Ärztetag zeigte das wieder einmal – auch schon zügig dabei ist, sich postmodern umzuformen, mittels Ärztegesellschaften mit beschränkter Haftung und anderen Konstrukten. Deren Bestreben ist es ebenfalls, aus der Zwangsjacke der gesetzlichen Krankenversicherung herauszukommen.

Der Spagat

Den Regierenden fällt nun die schwierige Aufgabe zu, aus dieser ungeraden Zahl eine Wurzel zu ziehen: Einerseits würde eine Regulierung des Medizinmarktes diese Wachstumsbranche schwächen – das will man vermeiden. Andererseits ist klar, dass eine völlige Privatisierung des Marktes in mehrerlei Hinsicht problematisch wäre: Erstens würde dies die Ausgaben für diesen Bereich noch mehr in die Höhe treiben (siehe USA, die ein weitgehend privates System haben, das eines der teuersten der Welt ist) und damit die Binnennachfrage nach anderen Gütern schmälern. Zweitens ist eine solche Maßnahme tr
otz des ideologischen Trommelfeuers der letzten Jahre politisch nicht vermittelbar, das zeigen die Umfrageergebnisse, die immer noch signalisieren, dass die Mehrheit der Bevölkerung an der Solidarversicherung festhalten will. Das Problem ist ja nicht neu, und die letzten drei bis fünf “Gesundheitsreformen”, ob nun unter Kohl oder Schröder, ob von Horst Seehofer, Andrea Fischer oder Ulla Schmidt, unterschieden sich von der Tendenz her nicht wesentlich. Man schränkte die Leistungen ein, weitete die Möglichkeiten der Privatversicherungen aus und übte durch Einführung von Marktmechanismen Druck auf die unproduktiven Sektoren des Systems aus (z.B. auf die Krankenhäuser). Nachdem dieses Potential nun weitgehend ausgeschöpft ist kommt der nächste Schritt. Die Kopfpauschale der CDU kommt dabei der seinerzeit von Möllemann propagierten Minimalabsicherung bereits ziemlich nahe. Die Bürgerversicherung, mit der die SPD offensichtlich die nächsten Wahlen gewinnen möchte, ist vorsichtshalber noch nicht ausformuliert worden, aber das, was bekannt ist, lässt unschwer den Schluss zu, dass sie allenfalls eine Lösung für drei bis fünf Jahre sein kann. Wenn nämlich die Beitragsbemessungsgrenze nicht aufgehoben oder zumindest erheblich angehoben wird, wird das so genannte Kostenproblem über kurz oder lang wieder auftreten. Und dann gibt es die nächste Gesundheitsreform, und die dürfte dann dem Muster der letzten fünf folgen: schleichende Privatisierung, Verlagerung der gesamten Kosten auf die Versicherten, Bodensatzversorgung für die Armen, Entsolidarisierung. Ganz normaler Kapitalismus also.

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