Versuch einer solidarischen Kritik an #ZeroCovid

Foto: Scott Stewart-Johnson, Political Traffic Control, CC BY-NC-ND 2.0

TEILEN
Die Pandemie bekämpfen

Versuch einer solidarischen Kritik an #ZeroCovid

Von Penthesilea Wassermann | 16.02.2021

Die Pandemie trifft besonders die Armen. Doch der Aufruf #ZeroCovid vergisst die klassenspezifischen Auswirkungen der Pandemiebekämpfung, außerdem denkt er nicht global. Wir sollten uns deshalb dafür einsetzen, dass die Menschen sich selbst organisieren, um aus der Pandemie zu finden.

Seit nunmehr fast einem Jahr wütet eine Pandemie. In Deutschland sind bisher über 62.000 und weltweit bei mehr als zwei Millionen Menschen im Zusammenhang mit Covid gestorben.

Das Robert-Koch-Institut hatte 2013 derartige Pandemien angekündigt, ausgelöst durch Erreger, die von Tieren auf Menschen überspringen. Aids, Ebola, Hühner- und Schweinegrippe waren Vorläufer, die bisher aber kein pandemisches Potential entwickelt haben.

Pandemie trifft Kapitalismus

Trotz dieser Ankündigung traf die Pandemie fast alle Staaten weltweit völlig unvorbereitet: Es gab zu wenig Masken und andere Schutzausrüstung, selbst in Gesundheitseinrichtungen. Das kaputt gesparte und in großen Teilen privatisierte Gesundheitssystem wäre einem ungebremsten Verlauf keinesfalls gewachsen gewesen, selbst die abgeflachte Kurve führte und führt zu Engpässen. Vorhandene Intensiv-Betten können teilweise nicht genutzt werden, weil Pflegekräfte fehlen. Auch in der „zweiten Welle“ sind Gesundheitsämter völlig überfordert. Infektionsketten sind scheinbar nicht mehr nachvollziehbar. Verordnete Quarantäne wird nicht überprüft, und Menschen in Quarantäne werden sich selbst überlassen.

Die staatlich verordneten Maßnahmen wirken klassenspezifisch

Ausgangssperre bedeutet: Die Reichen bestellen, die Armen liefern. Mit Geld lässt sich Hilfe kaufen, und großzügige Wohnungen mit Haus und Garten sowie einem Ferienwohnsitz machen das Leben mit Ausgangssperre erträglich. Ausgangssperre heißt inzwischen „lock down“ – das klingt viel besser als das böse Wort, das ungeliebten Staaten gerne als Mangel an Demokratie vorgehalten wird. Die herrschenden Klasse und ihre Lakaien kommen zurecht und vermehren ihre Vermögen in der Pandemie exponentiell, während die Armen rasant weiter enteignet werden. Pfandleihen sind auch während der Ausgangssperre geöffnet.

Die weltweiten Auswirkungen sind dazu parallel: Arme Länder leiden weit mehr als reiche Industriestaaten.

Die Auswirkungen in Deutschland exemplarisch am Beispiel von zwei Bevölkerungsgruppen

Am Beispiel von zwei Bevölkerungsgruppen (nicht Geflüchteten, Obdachlosen, allein lebenden, Sexarbeitenden, alten Menschen, Prekären, ‚Illegalen‘ oder der Bevölkerung des globalen Südens, das ist mehrfach beleuchtet worden, und denen geht es unendlich beschissen) möchte ich die Gnadenlosigkeit staatlichen Handelns deutlich machen:

Kinder

Die Pandemie macht deutlich, das Lernen nicht die Anhäufung von Wissen, sondern ein zutiefst sozialer Prozess ist. Musiklehrkräfte werden euch bestätigen: Ein Chor- oder Orchesterwochenende bring ein Vielfaches mehr als die gleiche Anzahl von Einzelstunden. Und Hirnforschung, wenn die persönliche Erfahrung nicht schon reicht, belegt: Angst und Unsicherheit entstehen gern in Einsamkeit, blockieren das Gehirn und verunmöglichen Lernen. Lernen in Gruppen ist zudem weit mehr als die Aneignung von Wissen. In Gruppen werden soziale Kompetenzen erworben, die Wissen überhaupt erst vermittelbar machen und ohne die ein gesellschaftliches Zusammenleben unmöglich ist.

Das ist Kindern seit nunmehr fast einem Jahr verwehrt, und unter den gegebenen Bedingungen, denke ich, zu recht: Kinder tragen den Virus munter herum. Erziehende gelten der AOK inzwischen als eine in höchstem Maß gefährdete Berufsgruppe, was Covid angeht (die AOK versichert nur einen Ausschnitt der Bevölkerung, das ist mir bewusst, aber ich glaube, dass dieser Ausschnitt schon repräsentative Qualität hat).

Seit einem Jahr hätte es Gelegenheit gegeben, Kindertagesstätten und Schulen sowie Jugendzentren so umzubauen, dass sie wieder nutzbar werden: Einbau leistungsstarker Lüftungen, Vergrößerung der Räume und Verkleinerung der Gruppen sowie eine Qualifizierungs- oder Ausbildungsoffensive, um den so steigenden Personalbedarf in diesen Einrichtungen zu decken. Stattdessen wird elektrisch gelernt – wenigstens da, wo es möglich ist. Wenn weder Geräte noch ausreichend Ruhe und Platz verfügbar sind, dann kommt noch nicht einmal mehr der digitale Nürnberger Trichter zum Einsatz, und wenig überraschend werden die Ärmsten am weitesten abgehängt und bauen Lern- und Entwicklungsrückstände auf, die vermutlich nicht mehr aufholbar sein werden. Der Hirnforscher Gerhard Hüther behauptet, ein Jahr im Leben von siebenjährigen Kindern hinterließe so viele Spuren im Gehirn wie zehn Jahre im Gehirn von 70-jährigen – ich denke, das verdeutlicht die Dramatik.

Jungerwachsene

Menschen zwischen Pubertät und Mitte/Ende 20 sind in einer Lebensphase, in der sie sich vom Elternhaus lösen, eigene, unkontrollierte Bezüge und Orientierung und eine Basis für ihr Leben entwickeln. Dafür brauchen sie Räume, und die wollen sie auch. Dieser Altersgruppe ihre notwendige Entwicklung zu verbieten, Partys zu sprengen und Bußgelder zu verteilen, ist absolut idiotisch. Menschen brauchen diese Phase, wenn sie sich in die Richtung eines (im Rahmen des Kapitalismus wenigstens einigermaßen) selbstbestimmten Lebens entwickeln wollen. Und auch diese Phase ist nicht beliebig nachholbar.

Auch hier wäre es geboten gewesen, entsprechende einigermaßen sichere Räume anzubieten, beispielsweise Gemeindesäle, Sporthallen oder Jugendzentren, die gut belüftet und beaufsichtigt sind. Die Gefährdung wäre hier geringer als in all den unkontrollierbaren Zusammenhängen, auch wenn es die natürlich daneben immer noch gäbe.

Beide Gruppen bräuchten, ebenso wie Familien ohne eigenen Garten oder wenigstens einen Balkon, Auslauf, Begegnung und Raum um sich auszuprobieren. Anstelle der Sperrung von Schneepisten oder dem Abbau von Parkbänken müssen mehr Pisten geöffnet und mehr Parkbänke aufgestellt werden, damit die lebensnotwendigen Abstände überhaupt eingehalten werden können.

Ausweg: #ZeroCovid?

Derzeit erscheint der #ZeroCovid-Aufruf als politisches Handlungsfeld auch für Linke, wenn es um die Pandemie geht, in der Öffentlichkeit als alternativlos. Zumindest haben andere Ansätze nicht diese gesellschaftliche Resonanz gefunden.

Alle Forderungen des Aufrufes mit dem Ziel, die Infektionen gegen null zu drücken, sind richtig:

  • Zeitlich befristete Stilllegung (nicht überlebenswichtiger?) Arbeit und Produktion
  • Besondere Fürsorge für besonders Betroffene und Abgehängte und finanzielle Absicherung aller Lohnabhängigen
  • Ausbau der Gesundheitswesens und der Gesundheits-Infrastruktur
  • Vergesellschaftung von Impfstoffen (was mich betrifft, gerne auch der gesamten Pharma-Industrie)
  • Finanzierung durch die Reichen

Die für mich zentrale Aussage des letzten Absatzes finde ich ebenfalls richtig: „Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat.“

Was ist neu?

Die im Aufruf #ZeroCovid geforderte Ausgangssperre soll nicht mehr nur das Privatleben abschalten, sondern auch „die Wirtschaft“ betreffen, staatlich verordnet und europaweit, mindestens aber im deutschsprachigen Raum gleichzeitig stattfinden.

Das wurde der lock down auch, zugegebenermaßen nicht überall gleichzeitig und unter Auslassung „der Wirtschaft“. Das Ziel bestand in der Abflachung der Infektionskurve und der Herstellung einer für folgerichtig gehaltenen „Herdenimmunität“. Die sollte durch Impfung unterstützt werden.

Das Ergebnis ist bisher eine gebremste Ausbreitung der Pandemie, ohne dass das kaputt gesparte und in großen Teilen privatisierte deutsche Gesundheitssystem unter Überlast zusammenbrach. Und es haben sich gefährliche Mutationen entwickelt und werden sich absehbar weiter entwickeln.

Es geht #ZeroCovid um die Null, damit vereinzelt auftretende Infektionen wieder nachverfolgt und lokal begrenzt werden können – das ist allerdings eine andere und unterstützenswerte Zielsetzung.

Natürlich muss damit irgendwo angefangen werden, aber ein Virus respektiert keine Grenzen, Europa oder gar der deutschsprachige Raum, von dem im Aufruf die Rede ist, allein kann nicht reichen, und das wird in diesem Aufruf an keiner Stelle thematisiert. Damit ist das die Fortsetzung der bisherigen Politik, die die von Trump so beschimpften „shithole-countries“ wieder außen vor lässt. Spätestens dann, wenn weitere und möglicherweise gefährlichere Mutationen von dort eingetragen werden, wird die Begrenztheit dieses Ansatzes deutlich werden.

Die klassenspezifischen Auswirkungen der bisherigen staatlichen Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie bleiben ebenfalls unerwähnt.

Kein weiteres Wasser auf die Mühlen des starken Staates

Mindestens in Deutschland hat das staatliche Handeln im Laufe der Pandemie den jeweiligen Gesundheitsminister mit Vollmachten ausgestattet, die sehr weit reichen; die parlamentarische Kontrolle praktisch abgeschafft und ein Gremium (Ministerpräsidiale und Bundeskanzlerei) geschaffen, das in der Verfassung nicht vorgesehen ist.

Der Staat wurde mit zunehmender und nicht demokratisch kontrollierter Autorität ausgestattet, ohne dass ich bisher von einem autoritären Staat sprechen würde. Allerdings ist das nach meiner Auffassung bisher nicht der im Aufruf geforderte Gesundheitsschutz mit Demokratie, und wie der erreicht werden soll, bleibt völlig offen.

Selbst in den Tagesthemen wurde in einem Kommentar gefordert, Ziel und Sinn der bisherigen staatlichen Maßnahmen zu nennen: Wenn es denn um die Interessen der Wirtschaft ginge, und das sei offensichtlich, dann möge das doch bitte auch so gesagt werden, und hinter diese Erkenntnis sollten markssistische Menschen nicht zurückfallen.

Die bisherige Leitlinie staatlichen Handelns ist das Wohl der (nationalen) Wirtschaft und der Schutz individueller Verfügungsgewalt über gesellschaftlichen Reichtum. Und die bisherige Leitlinie gewerkschaftlichen Handelns ist die gleiche. Der Kapitalismus zeigt unübersehbar seinen Rassismus und seine Menschenverachtung, und das wird staatlich ungefiltert übernommen. An diesen Staat zu appellieren, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen, noch dazu, ohne den ins Zentrum zu stellen, das scheint mir Kosmetik zu sein.

Die Pandemie endlich wirksam bekämpfen

Die bisherige Strategie scheint gescheitert: Die Kurve wurde zwar durch die zweite Ausgangssperre gedrückt, aber gleichzeitig tauchten Mutationen auf (weitere sind zu erwarten), bei denen der vorhandene Impfstoff möglicherweise nicht wirksam ist; es gibt selbst für die First- und Business-Class dieser Welt zu wenig Impfstoff, um in dem Zeitfenster bis zum Sommer die notwendige Impfdichte zu erreichen; und es erkranken und sterben weiter Menschen, ohne dass Infektionsketten nachvollziehbar wären.

Da ist die Null schon ein richtiges Ziel, aber den Preis dürfen nicht die Lohnabhängigen zahlen.

Forderungen, die marxistische Menschen in der Bewegung verankern sollten

Unsere Forderungen müssen dem Klassencharakter dieses Staates Rechnung tragen. Beispielhaft, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sollten das sein:

  1. Rücknahme des Infektionsschutz-Gesetzes
  2. Wiederaufnahme in der Pandemie aufgegebener demokratische Gepflogenheiten und Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz
  3. Unser Hauptanliegen ist Ausbau, Förderung, ‚Herstellung‘ und Unterstützung von Ansätzen der Selbstorganisation
  4. Pandemiegerechter Umbau von Gemeinschaftseinrichtungen unter Beteiligung derjenigen, die dort betreut werden oder arbeiten, wie beispielsweise:
    1. Vergrößerung der Räume
    1. Einbau von leistungsstarken Lüftungsanlagen
    1. Verkleinerung der Gruppen
    1. Täglicher (?) Schnelltest
  5. Pandemiegerechter Umbau von Betrieben, ebenfalls unter Beteiligung aller, die dort arbeiten, a bis d wie oben
  6. Umgang mit den Entstehungsbedingungen von Pandemien wie
    1. Industrielle Landwirtschaft
    1. Rohstoffabbau
    1. Umweltzerstörung
    1. Klimazerstörung etc.

Und dann, zu diesen Bedingungen: #ZeroCovid, also eine befristete vollständige Ausgangssperre, unter Auslassung aller überlebenswichtigen Bereiche, gestaltet von Betroffenen. Damit ist nicht gemeint, dass 1-5 vorher „erledigt“ sein müssen, sondern es muss deutlich werden, dass auch #ZeroCovid allenfalls eine kurzfristige Entspannung bringen kann, aber keine Lösung bedeutet, wenn  es nicht gelingt, den Maßnahmen, die dieser Staat durchführt, bzw. durchführen soll ihren Klassencharakter zu nehmen; wenn es uns nicht gelingt, der von oben verordnete Verwaltung der Pandemie die Selbstorganisation und Selbstermächtigung denjenigen, die sich schützen wollen und müssen, erfolgreich entgegenzusetzen. Und wenn nicht langfristig die Ursachen im Zusammenleben der Menschen angegangen werden.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite