Ursula von der Leyen klöppelt jetzt Brüsseler Spitze

Ursula von der Leyen (rechts) und Patrick M. Shanahan (links), stellvertretender US-Verteidigungsminister geben sich bei einem Treffen des Nato Rates im Februar 2019 die Hand. Foto: NATO North Atlantic Treaty Organization, Meeting of the North Atlantic Council in Defence Ministers' session, CC BY-NC-ND 2.0

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Glosse zur neuen EU-Kommissarin

Ursula von der Leyen klöppelt jetzt Brüsseler Spitze

Von Horst Hilse | 06.10.2019

Die Tradition der seit dem frühen 18. Jahrhundert produzierten Spitzenklöppeleierzeugnisse aus Belgien ist nicht abhandengekommen: Bis heute ist der alte Produktionsschwerpunkt des feingewebten Tuchs gefragt, um die eigene Person mittels Krägen, Manschetten, Kleider etc. ins rechte Licht zu tauchen. Nicht umsonst werden Mitmenschen mittels dieses feinen Tuchs umgangssprachlich „umgarnt“.

Plötzlich europäische Prinzessin

Seit März übt sich in dieser Kunst Ursula von der Leyen, die mittels einer zur „Schicksalswahl“ hochgejazzten Showeinlage des europäischen Laienspieltheaters zur Chefin des Kontinents aufsteigen konnte. Mit der „Schicksals-WAHL“ gab es einen Patzer bei der Aufführung: von der Leyen hatte sich gar nicht zur Wahl gestellt und bisher auch keinerlei Interesse an diesem Theater gezeigt.

Aber ihre Ziehtante Merkel hatte beschlossen, dass sie aus Berlin verschwinden musste: Dort war sie nicht mehr zu halten, nachdem einige Millionenskandale mit Beraterverträgen ans Licht gekommen waren. Eine juristische Überprüfung wäre nur noch peinlich für sie, für die Regierung und die Bundeswehr geworden.

Ihre Ziehtante Merkel hatte beschlossen, dass sie aus Berlin verschwinden musste.

Und so gelangte sie durch gewichtige „Absprachen“ an der Wahlvorstellung vorbei durch den Hintereingang auf die Bühne und sie musste dort zeigen, ob sie das Spitzenklöppelhandwerk überhaupt beherrschte.

Ja, sie schien für die Theatertruppe bestens geeignet: Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger konnte sie ohne blöde Bemerkungen die tollsten Seidenfäden klöppeln.

Rot-Grüne Kostümierung

Bei ihrer Bewerbungsrede im EU-Parlament schillerte sie in rot-grünen Farben und trat wie die Vertreterin einer rot-grünen Regierung auf. Weiblicher, sozialer, grüner solle es auf dem Kontinent werden. Eine Klimabank wurde angekündigt und ein großes neues Investitionsprogramm solle gestartet werden. Sie übernahm sogar die SPD-Forderung nach einer Arbeitslosen-Rückversicherung. Von dem konservativen EVP Bündnis im Parlament, dem ja auch ihre CDU/CSU angehört, übernahm sie zudem das Versprechen, das Spitzenkandidaten-Verfahren bei Wahlen weiterzuführen. Ein krasser Widerspruch zu ihrer eigenen Posteneroberung durch Schacher, der nicht unbemerkt blieb.

Viele glaubten ihr die neue Brüsseler Spitzenkostümierung nicht. Trotzdem wurde sie knapp mit 383 zu 327 Stimmen schließlich von den „Parlamentarier*innen“ doch noch gewählt. Natürlich hatte der gute Freund CDU-Generalsekretär Ziemiak da offenbar ein wenig „Hilfestellung“ auf einer Geheimmission in Warschau organisiert. Ohne die geschlossenen Stimmenblöcke von Orbans Fidesz-Partei aus Ungarn, der Fünf-Sterne-Bewegung Italiens und den polnischen Stimmen der nationalkonservativen PiS-Partei wäre sie sicher gescheitert.

Empfindlicher Stoff

Das Brüsseler Spitzengewebe ist auch für seine Empfindlichkeit bekannt. Zwar lässt sich der Stoff wunderbar dehnen und ziehen, doch nur eine spitze Kante genügt, um ihn zu beschädigen. Das musste auch die Chefin schnell erfahren. Nach vier Wochen war der Honeymoon beendet und wüste Machtkämpfe tobten. Es ging nicht mehr nur um die „klassische” Schlachtordnung „Europaparlament gegen Rat” oder „Deutschland gegen Frankreich”. Der Machtkampf erreicht alle Ebenen der EU – und nimmt extreme Formen an.

Kurzfristig angesetzten Konsultationen und Krisensitzungen prägten die Tage vor dem EU Gipfel Mitte Juni. Eigentlich wollten sich die Fraktionsvorsitzenden auf eine Art „Koalitionsvertrag“ verständigen. Aber sie hatte dabei übersehen, dass sie nach der EU Wahl keine eigene Mehrheit mehr besitzen. Und dann warf die deutsche CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer im Hochgefühl ihrer Macht in bekannter Manier eine kleine Handgranate in den Brüsseler Theaterraum. Es gebe einen „systemischen Unterschied” zwischen Deutschland und Frankreich sagte sie. Macron sei „kein Freund” des Spitzenkandidaten-Prinzips, während sich die deutsche Politik dafür engagiere. Sie unterschlug dabei einfach die SPD-Position, die als Vorbedingung für dieses Prinzip europäische Parteiorganisationen nach der Art von DIEM25 forderte.

Annegret Kramp-Karrenbauer warf im Hochgefühl ihrer Macht in bekannter Manier eine kleine Handgranate in den Brüsseler Theaterraum.

Eine weitere Breitseite kam aus dem Parlament: Die EU-Kommission sei in den letzten Jahren zu einer Erfüllungsgehilfin des Rates geworden und habe ihre Rolle als „Motor der kontinentalen Einigung” verloren. Ratspräsident Donald Tusk versuchte die Dynamik abzubremsen und lud alle Koalitionsvorsitzenden zu einem Spitzengespräch. Ohne Ergebnis.

Ohne Ergebnis blieb auch der verschobene EU-Gipfel im Juli. US-Präsident Trump, bekennender Gegner der EU, konnte die Spannungen und die Ängste im Theatersaal nochmals erheblich steigern: Trump beschwerte sich auf Twitter darüber, dass EZB-Chef Draghi über die Option weiterer Zinssenkungen gesprochen hatte. Dies mache den Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten für die EU „unfair einfacher”. Die Europäer verhielten sich nicht besser als China, gegen das Trump einen Handelskrieg führen müsse.

Warnung an Griechenland

Immerhin brachte man doch etwas zustande in Brüssel. Man einigte sich auf eine Warnung an die neu gewählte griechische Regierung. Der neue konservative Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hatte Steuersenkungen versprochen. Dafür wolle er „Bürokratie abbauen”, Sozialleistungen kürzen – und bessere Konditionen mit den Gläubigern aushandeln.

Doch die denken gar nicht daran, zu verhandeln. Der Chef des Euro-Rettungsschirms ESM, Klaus Regling (von wem wurde der doch gewählt?), betonte, das Ziel eines hohen Haushaltsüberschusses bleibe eine wichtige Auflage. Die neue Regierung wäre gut beraten, sich an die „Absprachen” zu halten, warnte auch Währungskommissar Moscovici. Die Hochfinanz dürfte inzwischen zufrieden gestellt sein. Alle Goldabbaurechte mitsamt der Umweltvergiftungen durch den verwendeten Arsenschlamm wurden von der neuen Regierung bewilligt. Varoufakis ist zuzustimmen: Schäubles Fluch hängt nach wie vor über dem Land, das seine Schuldenlast auch in 200 Jahren nicht abzahlen kann.

Immerhin hat dieser Fluch bewirkt, dass mit dem Hafen von Piräus ein weiteres Puzzle in das globale Projekt der chinesischen Seidenstraße zur Einigung Eurasiens eingefügt werden konnte. Der chinesische Staatskonzern Cosco kaufte ihn einfach.

Macrons Retourkutsche

Den plumpen frontalen Angriff von Kramp-Karrenbauer hat Macron nicht vergessen. Es folgt die Antwort: Die EU soll weiblicher werden, hatte Frau von der Leyen gesagt. Christine Lagarde, die französische Favoritin wurde nun zur neuen EZB-Chefin gekürt. Bei einer Scheinabstimmung zur Probe im Europaparlament ‒ das bei Finanzfragen ja kein Abstimmungsrecht hat ‒ stimmte eine Mehrheit von 394 gegen 206 für diese Personalie. Damit stünde die „Schwarze Null“ von Schäuble und die gesamte von Deutschland dominierte Finanzpolitik der EU zur Disposition. Denn die Ansage Lagardes war: „Ich stimme daher mit der Ansicht des EZB-Rats überein, dass eine hochgradig konjunkturstützende Geldpolitik für eine längere Zeit gerechtfertigt ist.” ‒ was das Ende der deutschen Verehrung für die „schwarze Null“ und damit ein Bruch mit der deutschen Finanzpolitik wäre.

Eine Aussprache mit der Kandidatin im „Parlament“ wird es nicht geben, da das Parlament dieses Recht nicht hat. Die Linke ist deshalb sauer und kritisiert dies als „fehlenden Respekt für die Demokratie”. Wen juckt’s?

Das Dream-Team von der Leyens

Sie sieht gut aus, die neue Spielschar der EU-Kommission um Ursula von der Leyen. Die erste Frau an der Spitze der mächtigen Brüsseler Behörde hat alle Wünsche erfüllt, die ihr die Staats- und Regierungschefs der EU bei der umstrittenen Nominierung im Juli 2019 aufgetragen haben.

Die Kommission ist weiblicher geworden, die versprochene Parität wurde nur knapp verfehlt. Sie ist politisch einigermaßen ausgewogen, auch wenn Grüne kaum und Linke gar nicht eingebunden wurden. Und die bisher vernachlässigten Süd- und Osteuropäer haben wichtige Posten bekommen.
Margrethe Vestager, Vera Jourova und Sylvie Goulard werden die neuen „starken Frauen“ in Brüssel sein – neben von der Leyen natürlich, die alle Strippen zieht. Mit dem Letten Valdis Dombrovskis wird der Osten aufgewertet, mit dem Italiener Paolo Gentiloni der Süden.
Und dass der Ire Phil Hogan künftig für den Handel zuständig sein wird, ist ein starkes Signal an die Briten. Nach dem Brexit wollen sie – wenn er denn kommt – ein Freihandelsabkommen mit der EU aushandeln. Irland sitzt dabei nun in der ersten Reihe.

Doch das „Dreamteam“ hat ein gewaltiges Problem: Die Ressorts wurden einzelnen Personen auf den Leib geschnitten – aber nicht so, dass es der Sache dient, sondern der Person bzw. dem dahinterstehenden EU-Land. Erneut erweist sich daran der feudale, vordemokratische Charakter des EU-Gebildes.

Mit leeren Händen?

Wohin die Reise unter der deutschen EU-Chefin hingehen soll, wird zunehmend unklar.

  • Klima: Europa soll der erste klimaneutrale Kontinent werden – bis 2050. Wie dieses Ziel zu erreichen wäre, ließ von der Leyen bislang völlig offen. Auch die Frage, ob Klima- und Energiepolitik in einer Hand bleiben und was mit Verkehr und Landwirtschaft wird, blieb unbeantwortet. Einen „Cluster” soll es geben, den Rest wird man dann sehen.
  • Wirtschaft und Finanzen: Der Stabilitätspakt soll bleiben, von der Leyen kündigte keine Reformen an. Auch auf den Beitrag der Fiskalpolitik zur Stützung der Konjunktur, ging sie nicht ein. Kein Wort zur drohenden Rezession in Deutschland, nichts zum Handelskrieg der USA. Dies obwohl die 63-jährige Französin Lagarde ankündigte, die Axt an den deutschen Heiligenschrein legen zu wollen. Die Wirtschaft in der Euro-Zone sei mit einigen Risiken konfrontiert. Neben dem amerikanisch-chinesischen Handelskrieg nannte sie auch die Gefahr einer Rezession in Deutschland. Die Inflation im Währungsraum sei zu niedrig und liege unter der Zielmarke von zwei Prozent.
  • Brexit: Frau von der Leyen hat erklärt, dass sie den Brexit ablehne und die Briten so lange wie möglich in der EU sehen möchte. Aber das Problem der irischen Grenzen und der Wahlen in Gibraltar noch vor dem Austrittsdatum von Großbritannien sind ihr keinen Satz wert.
  • Katalonien: Die Regierung in Madrid hat eine Liste der neu gewählten Abgeordneten vorgelegt – doch ohne die Namen von drei katalanischen Separatisten. Es fehlt auch der ehemalige Regionalpräsident Carles Puigdemont. Nun werfen 76 Europaabgeordnete Spanien vor, „Demokratische Grundrechte zu verletzen”.
  • Türkei und Flüchtlingspolitik: Seit Wochen droht Erdoğan mit dem Einmarsch in Syrien, um in einer „Pufferzone“, die das autonome Kurdengebiet Rojava umfasst, etwa 3 Millionen Flüchtlinge anzusiedeln. Das alles firmiert bei von der Leyen unter „European Way of Life” – irreguläre Migration soll gestoppt werden, Fachkräfte sollen aber vermehrt nach Europa kommen. Am umstrittenen Flüchtlingsdeal mit der Türkei will von der Leyen festhalten, auf die Drohungen aus Ankara gegen Griechenland und die EU geht sie nicht ein.
  • Saudi-Arabien: Auf Druck von Frankreich und Großbritannien wurde das Despotenreich von einer Schwarzen Liste der Geldwäscher und Terrorfinanziers gestrichen. Auch Deutschland trug den Beschluss mit. Damit konterkarieren Justizministerin Barley und Finanzminister Scholz die Position der Sozialdemokraten im Europaparlament. Deutschland wird sich nicht an einer von den USA geführten Militärmission in der Straße von Hormus beteiligen. Auf der einen Seite stehen – ähnlich wie vor dem Irak-Krieg vor 16 Jahren – die USA und Großbritannien, die auf militärisches Säbelrasseln setzen. Auf der anderen stehen Deutschland, Frankreich und wohl auch Spanien, das das britische Vorgehen gegen Iran durch die Tankerfestsetzung vor Gibraltar verurteilt hatte.

Könnte es sein, dass von der Leyen am Ende mit leeren Händen dastehen wird und alle nur noch den Kopf schütteln werden über eine gute Schauspielerin im Demokratietheater mit den feinen Brüsseler Spitzen? Einer der erfahrensten EU-Korrespondenten, Jean Quatremer schreibt in der französischen Libération, sie habe sich bereits in einem Bunker verschanzt.

Das erinnert fatal an ihre letzten Schritte im deutschen Nationalstaat. Wer erinnert sich denn heute noch an ihre größte „Reform“ in der deutschen Politik: Sechs Monate lief die Diskussion um die Erhöhung von Hartz-IV unter der Familienministerin Frau von der Leyen. Fünf Euro waren es dann am Ende für Familien mit Kindern!

Da ist ihr Einstieg mit ihrer Forderung nach 500 Milliarden für die europäische Rüstungsindustrie schon von anderem Kaliber. Es müssen dort ja auch ganz andere Interessen bedient werden.

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