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Innenpolitik

Unsere Agenda lautet 30/10! 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, 10€ Mindestlohn

Von D. Berger | 01.09.2004

Zur “Belebung der Wirtschaft” und zur “Bewältigung der Arbeitslosigkeit” wird von den Herrschenden die Ausdehnung des Niedriglohnsektors gefordert und aktiv vorangetrieben. Die Gewerkschaften reagieren größtenteils ratlos, aber in den sozialen Bewegungen findet die Forderung nach einem Mindestlohn wachsenden Anklang.

Zur “Belebung der Wirtschaft” und zur “Bewältigung der Arbeitslosigkeit” wird von den Herrschenden die Ausdehnung des Niedriglohnsektors gefordert und aktiv vorangetrieben. Die Gewerkschaften reagieren größtenteils ratlos, aber in den sozialen Bewegungen findet die Forderung nach einem Mindestlohn wachsenden Anklang.

Ein Großteil der Öffentlichkeit geht davon aus, dass die Politik des Sozialabbaus objektiven Zwängen folgt, weil die Sozialversicherungen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen seien. Auch die Mehrheit der Gewerkschaftsvorstände, die es eigentlich besser wissen müssten, vertreten die Meinung, dass “gespart” werden müsse (nur eben “gerecht”) und sind damit der aktuellen Offensive von Kabinett und Kapital hilflos ausgeliefert.

Dabei ist das oberste Ziel des Sozialabbaus nicht das Sparen oder die Rücknahme des Staates im Sinne von weniger Bürokratie und mehr Freiheiten für die Einzelnen. Hartz IV belegt das Gegenteil.
Das über Hartz IV anvisierte Einsparvolumen ist gewaltig, aber den im Haushalt angesetzten 4,6 Mrd. €, die es weniger an Leistungen geben wird, entsprechen schon nach heutigen Berechnungen nur ca. 3 Mrd. € tatsächlich geringere Staatsausgaben. Die Differenz ist auf eine gewaltige Aufblähung bürokratischer Maßnahmen und Zuschüsse für “Arbeitgeber” zurückzuführen, die z.B. die 1-Euro-Jobs einführen sollen.

Hauptziel: Lohndrückerei

Im Zweifelsfall wird sogar ein Mehr an staatlichen Mitteln aufgebracht, um das Hauptziel zu verfolgen, nämlich Druck auf das gesamte Lohngefüge auszuüben. Propagandistisch verbrämt wird dies mit der grenzenlos zynischen Behauptung, um unser aller Wohl zu sichern, müsse der Niedriglohnsektor ausgedehnt werden. Dabei ist er schon riesengroß und wächst seit Jahren, wie diverse Untersuchungen selbst der Bundesregierung (zuletzt von diesem Frühjahr, s. dazu Spiegel online vom 28.4.04.) belegen. Der gesamte Niedriglohnsektor machte 1980 31,3% und 1997 schon 35,9% aus (s. Kasten).

Niedriglohn ohne Grenzen

Klar ist, dass der Staat sicherlich auch sparen will, denn sonst kann er nur schwer den Spitzensteuersatz weiter senken, so wie dies von 45 auf 42% für den 1.1.2005 vorgesehen ist. Wer den Reichen geben will, muss dies schließlich bei den Armen und Bedürftigen holen. Der neueste Vorstoß mit Hartz IV macht deutlich, dass es nach unten keine Grenzen gibt.
Klar ist aber auch: Wenn ein Arbeitsloser bisher im Schnitt 732 € Arbeitslosengeld und 522 € Arbeitslosenhilfe bekam, dann ist für die Noch-Beschäftigten in Zukunft ein drohender Absturz in die Arbeitslosigkeit mit einem Arbeitslosengeld II – 345 € in Westdeutschland, 331 € in Ostdt. – eine geradezu bodenlose Frechheit. Diese Bedrohung soll zum Hinnehmen schlechter Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne führen.
Hinzu kommt, dass gemäß Hartz IV für Arbeitslose eine Beschäftigung von einem Drittel unter den Tariflöhnen akzeptabel sein soll. Da nicht wenige Löhne unter 6 € liegen (vgl. Avanti Juni 2004 sowie die WSI-Studie), sind künftig Löhne von 4 € und darunter “zumutbar”!
Und wer bis vor kurzem noch geglaubt hat, alles drehe sich nur um notwendige Einsparungen der Staatsausgaben (oder der Sozialversicherungen), der wurde spätestens mit der Clement’schen 1-€-Offensive eines Besseren belehrt. Der Staat zahlt dafür, dass solche Jobs eingerichtet werden. Wenn es nach Clement geht (er hätte gern 600 000 solcher Jobs) wird der Staat dafür bis zu 3 Mrd. € aufbringen mit dem klar erkennbaren Doppeleffekt, dass zum einen über diese “Drehtür” viele bestehende Arbeitsplätze aus dem ersten Arbeitsmarkt verschwinden werden, und zweitens das gesamte Lohngefüge enorm unter Druck gerät. Die Regierung lässt sich also die allgemeine Gewöhnung an grenzenlos niedrige Löhne einiges kosten!

Gewerkschaften gespalten

Nutznießer wird niemand anderes als das Kapital sein, denn schon ist absehbar wie die Argumentation zu den angeblichen Besitzstandswahrern (den Noch-Beschäftigten) laufen wird, die so unanständig sind, dass sie bei steigenden Lebenshaltungskosten auch steigende Löhne haben wollen: Es wird also vermehrte Bestrebungen geben, Nullrunden durchzuführen, die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zu verlängern, das Urlaubsgeld zu kürzen etc.
Angesichts der Lohnsenkungsoffensive der Herrschenden dürfen also Gewerkschaften und soziale Bewegungen nicht beim üblichen Tagesgeschäft

stehen bleiben und das in zweifacher Hinsicht: Sowohl was die inhaltlichen Forderungen angeht als auch, was die Widerstands- bzw. Aktionsformen angeht. So müssen zwar die Montagsdemos ausgedehnt werden, aber man muss sich beispielsweise auch die Einrichtungen “an die Brust nehmen”, die solche 1-€-Jobs anbieten. Dort sollte mensch vor dem Eingang intensive und nicht enden wollende Gespräche mit den Betroffenen führen…
Die Gewerkschaften sind in der Frage des Mindestlohns tief gespalten und daher handlungsunfähig (auf dem DGB-Bundkongress 2002 wurde die konkrete Zahl 1500 € Mindestlohn u. a. auf Betreiben der IGM gekippt; vgl. dazu die Avanti Nr. 87 vom Sommer 2002 sowie Nr. 110 vom Juni 2004). IGM und vor allem DGB und BCE blocken immer noch erfolgreich. Ihre Begründung, dies untergrabe die Tarifautonomie, zieht nicht. Die Tarifautonomie und vor allem die Kapitulationspolitik in Sachen Arbeitszeit, Aushöhlung des Flächentarifs etc. hat an keiner Stelle die Absenkung von Löhnen oder die Unverschämtheiten von Hartz IV verhindert.
Und schon gar nicht wurden damit Mitglieder gewonnen oder gehalten (wie die interne Begründung lautet), denn die Tarifpolitik der Gewerkschaften ist seit Jahren alles andere als überzeugend oder motivierend.

Müntes neuestes Angebot, über Mindestlöhne zu reden, soll selbstverständlich den Protesten die Spitze nehmen. Er wird aber niemals einen akzeptablen, nämlich menschenwürdigen Mindestlohn vorschlagen, sondern nur einen, der dem Kapital nicht weh tut. Wie niedrig der dann wäre, ist leicht auszurechnen.
Mindestlohn!
Was Niedriglöhne und vor allem Armutslöhne für die betroffenen Menschen wirklich bedeuten, nämlich ein menschenunwürdiges Leben, ist nicht nur dem Kapital, sondern auch den herrschenden Parteien vollkommen schnurz. Das Arbeitsgericht Bremen hat im Jahr 2000 (!) einen Stundenlohn von 11,50 DM als sittenwidrig erklärt und orientierte sich dabei an der Pfändungsgrenze (im Jahr 2000 umgerechnet 930 €1; 2001 waren es 940 €). Das waren damals (auf die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit umgerech
net) 1312,52 € brutto = 8,92 € in der Stunde (s. Kasten).

Welcher Mindestlohn?

Wenn heute ein Mindestlohn erkämpft und durchgesetzt wird, dann hat er nur dann eine positive Wirkung, wenn er zwei Bedingungen erfüllt:

Erstens muss er so hoch sein, dass er nicht als Begründung zum Absenken von Löhnen dienen kann (dies ist teilweise in den USA der Fall). Würde er tatsächlich bei 10 € durchgesetzt, beträfe dies inzwischen annähernd ein Drittel der abhängig Beschäftigten. Das gesamte Lohngefüge würde also von unten her stabilisiert und gestützt. Die darüber liegenden Löhne bekämen Auftrieb (aufgrund des verbreiteten Wunsches eines Abhebens von den “gering Qualifizierten”).
Zweitens muss dieser Mindestlohn dynamisiert werden, sprich jedes Jahr um den Prozentsatz des Anstiegs der Lebenshaltungskosten angehoben werden.

Wir sollten also auf den Montagsdemos (neben der Forderung nach kompletter Rücknahme von Hartz IV) zwei Hauptparolen vertreten:

Auf die Arbeitslosigkeit gibt es nur eine gesellschaftlich vernünftige und vertretbare Antwort, das ist die radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich unter definierten Arbeitsbedingungen. Deshalb: Verteilung der Arbeit auf alle Hände!

Gegen die Verelendungsoffensive der Herrschenden muss ein Mindestlohn durchgesetzt werden, der ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Deswegen kann gar nicht massenhaft genug die inzwischen kursierende Parole vorgetragen werden: Unsere Agenda lautet 30/10: 30 Stundenwoche, 10 € Mindestlohn.

Mindestens 10 Euro
Bei einer 38-h-Woche kamen wir auf dieser Argumentationsbasis bisher schon auf 9.15 €. Da in den letzten Jahren die Sozialhilfe real nicht angepasst wurde, müsste allein schon ausgehend von den gestiegenen Lebenshaltungskosten und der anzupassenden Pfändungsfreigrenze der Lohn mindestens 10 € betragen, bzw. 1500 € bei einem Vollzeitjob.

Bei einer 38,5 Stundenwoche wären dies 1670 Euro brutto (was bei Steuerklasse I etwa 1050 € netto entspricht).

Niedriglohn
International anerkannt wird ein Einkommen als Niedriglohn definiert, wenn es weniger als 75% des Durchschnittsverdienstes beträgt.

In der BRD erreichen 4,2 Mio abhängig Beschäftigte nur 50 bis 75% des Durchschnittsverdienstes (24% der Vollzeitbeschäftigten). 2,1 Millionen Menschen erzielen weniger als 50% des Durchschnittsverdienstes (12% der Vollzeitbeschäftigten). Zusammen sind das also 6,3 Millionen der Vollzeitbeschäftigten, Tendenz steigend:
Im Zeitraum von 1980 – 1998 haben vor allem die prekären Löhne (50-75% des Durchschnittsverdienstes) in Westdeutschland von 3,661 Mio (=19,3%) auf 4,175 Mio. (23,8 %) und in Ostdeutschland von 1,049 Mio. (22%) auf 1,125 Mio (26 %) zugenommen.
(Quelle: Für die Zahlen bis 1998 – dem Regierungsantritt von Schröder – siehe “Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung”, Berlin 2001; dies war der erste und schätzungsweise letzte Bericht dieser Art; für die neueren Zahlen siehe die einschlägigen Untersuchungen des WSI.)1.

1 Dies war damals so festgesetzt auf etwas oberhalb des Sozialhilfeniveaus einer erwerbstätigen Person von seinerzeit 870 €

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