Überlegungen zu den Wahlergebnissen 2020
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Puerto Rico

Überlegungen zu den Wahlergebnissen 2020

Von Jorge Lefevre Tavárez | 18.11.2020

Auch in dem „nicht-inkorporierten“ US-amerikanischen Außengebiet in der Karibik ist am 3. November gewählt worden. Jorge Lefevre Tavárez, Mitglied von Democracia Socialista (der Organisation der Vierten Internationale auf Puerto Rico, https://democraciasocialista.net/) und des Movimiento Victoria Ciudadana (MVC, https://www.mvcpr.org/) sowie Redakteur der Online-Publikation momento crítico (https://www.momentocritico.org/), analysiert den Ausgang der Wahlen für den Senat und die „Cámara de Representantes“. Sein Artikel ist auf „Democratic Left“ veröffentlicht worden, der Website der Democratic Socialists of America (DSA) in den USA.

Bei den Parlamentswahlen 2020 in Puerto Rico setzte sich der Trend der abnehmenden Unterstützung für die Partido Popular Democrático (PPD) und die Partido Nuevo Progresista (PNP) fort, diese Parteien waren im letzten halben Jahrhundert die wichtigsten politischen Kräfte des Landes. Nach Jahrzehnten neoliberaler Politik, nach der völligen Unwilligkeit der Regierung, mit einer Wirtschaftskrise umzugehen, die 2006 begann und 14 Jahre später weiter anhält, wird Puerto Rico Pedro Pierluisi als Gouverneur bekommen.

Pierluisi von der PNP vereinigte für die wichtigste Position in der puertoricanischen Regierung nur 33 % der Stimmen auf sich. Das sind fast 10 % weniger als sein Vorgänger Ricardo Rosselló, der nach massiven Demonstrationen im Sommer 2019[1] von dem Amt zurücktreten musste. Die Zahl ist noch dramatischer, wenn man die niedrige Wahlbeteiligung (50 %) in einem politischen System betrachtet, das bis vor relativ kurzer Zeit dafür bekannt war, dass es eine massive Wahlbeteiligung gab (1996 nahmen 96 % der wahlberechtigten Bevölkerung teil).

Der Zweitplatzierte, Charlie Delgado von der PPD, erhielt fast 32 % der Stimmen. Die restlichen 35 % verteilten sich auf drei Kräfte:

  • das aufstrebende Movimiento Victoria Ciudadana (MVC) konnte mit 14 % der Stimmen den dritten Platz erreichen. Die MVC ist erst im März 2019 als Bündnis verschiedener Gruppierungen gegründet worden, darunter waren die ehemalige Partido del Pueblo Trabajador (PPT, Partei des arbeitenden Volkes) und Alexandra Lúgaro, die 2016 als unabhängige Kandidatin 175.000 Stimmen erhielt;
  • die Partido Independentista Puertorriqueño (PIP), die für die Unabhängigkeit eintritt, früher die drittgrößte Partei, die, nachdem sie bei vier Wahlen in Folge nicht einmal 3 % erreicht hatte, nun 2020 historische 13 % erreichte; und
  • eine aufstrebende konservative und fundamentalistische Partei, Proyecto Dignidad, die 7 % erhielt.

Wie in Krisenzeiten üblich, wurden die traditionellen politischen Kräfte schwächer und neue Kräfte stärker. Dies könnte eine Radikalisierung entweder nach rechts oder nach links bedeuten. Die Ergebnisse dieser Wahlen zeigen, dass die zweite Option durchaus möglich ist.

Im Jahr 2016 entfielen 20 % der Gesamtstimmen auf Optionen, die weder PPD noch PNP waren. Allerdings können nur 2,5 % eindeutig als „progressiv“ angesehen werden: die Stimmen für die PIP und die PPT. Zählt man die Stimmen zusammen, die nun 2020 für PIP und MVC abgegeben worden sind, ist festzustellen, dass 28 % der Gesamtstimmen an anti-neoliberale, pro-dekolonisierende Bewegungen gegangen sind, die auch klar in Opposition gegen das undemokratisch von den USA ernannte Fiskalaufsichtsgremium stehen, gegen die „Junta“, die über die Budgets der Regierung und ihre Ämter entscheidet und die radikalere neoliberale Maßnahmen durchsetzt, als eine Partei umsetzen könnte, da sie den Verlust der Massenunterstützung zu befürchten hätte. Sowohl PIP als auch MVC haben eine starke Position zugunsten eines Audits der immensen Staatsschulden, die zu einer weiteren Krise der puertoricanischen Wirtschaft geführt haben. Insbesondere MVC hat seine Position für ein Audit der Schulden mit der Forderung nach deren Streichung verbunden, und zwar mit der Begründung „change of circumstance“ wegen des Hurrikans María und der Erdbeben 2019/2020. Ein Jahr nach den massiven Demonstrationen gegen Ricardo Rosselló könnte die mögliche Konsolidierung einer progressiven Front innerhalb und außerhalb der institutionellen Politik bedeuten, dass sich in den kommenden Jahren eine beträchtliche Kraft herausbildet.

Der zunehmende Mangel an Legitimität innerhalb der traditionellen Institutionen könnte auch damit verbunden sein, dass diese Institutionen jetzt unregierbar sind.

Was bedeuten diese Ergebnisse und Zahlen? Zum einen ist ein zunehmender Legitimationsmangel für die puertoricanische Regierung festzustellen. Für viele waren die Wahlen 2016 das erste Anzeichen dafür, dass in einem System, in dem jemand regieren kann, dem die Mehrheit nicht zugestimmt hat, etwas nicht in Ordnung ist: Ricardo Rosselló gewann die Wahl mit nur 41 %. Jetzt haben die 33 % für Pierluisi die Debatte über Reformen unseres politischen Systems intensiviert. Viele fordern einen „zweiten Wahlgang“ im Wahlprozess oder die Legalisierung von Wahlbündnissen oder -koalitionen (wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Puerto Rico möglich waren, aber nach Verfassungs- und Rechtsreformen in den 1950er Jahren illegal geworden sind).

Eine Zeit lang konnte Rosselló jedoch mit einer gewissen Leichtigkeit regieren, denn die PNP hatte durch einen Erdrutschsieg in der Legislative gewonnen und mehr als Zweidrittel der Positionen sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat inne. Nach seinem Rücktritt konnte Wanda Vázquez, die neue Gouverneurin, ungeachtet der internen Konflikte innerhalb der PNP weiter regieren.

2020 sieht das Szenario ganz anders aus. Die PNP kann über keine der beiden Kammern alleine bestimmen. Die PPD verfügt im Senat über eine einfache Mehrheit, allerdings mit nur einer Stimme. Keine Partei hat alleine die Kontrolle über das Parlament. Der zunehmende Mangel an Legitimität innerhalb der traditionellen Institutionen könnte auch damit verbunden sein, dass diese Institutionen jetzt unregierbar sind.

Das sind Möglichkeiten, die durch die Wahlergebnisse entstanden sind, aber nur organisierte und konkrete Aktionen kann sie Wirklichkeit werden lassen.

Noch wichtiger ist, dass es zum ersten Mal in der zeitgenössischen Geschichte von Puerto Rico eine bedeutende Anzahl von Senator*innen und Repräsentant*innen gibt, die nicht zu den historischen und neoliberalen politischen Parteien gehören. Viele davon sind eindeutig progressiv, einige sogar antikapitalistisch.

Der Senat von Puerto Rico hat 27 Mitglieder; 5 davon sind nicht von PPD oder PNP. Das MVC hat zwei Senator*innen bekommen; die PIP einen; die fundamentalistische Dignidad ebenfalls einen; und es gibt einen unabhängigen Senator. Von diesen 5 sind 3 eindeutig anti-neoliberal. Einer von den dreien, Rafael Bernabe vom MVC, ist ein bekannter Marxist.[2]

Das „Puerto Rican Territorial House“ hat 51 Mitglieder; 5 gehören nicht zur PPD oder PNP. Drei davon sind in der MVC und je eine*r in PIP und Dignidad. Die „representatives“ von MVC und PIP sind wiederum eindeutig anti-neoliberal.

Vor den Ergebnissen am „Election Day“ war es schwierig, sich ein solches günstiges Szenario für die Linke in der Legislative vorzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass es im „House“ und im Senat anhaltende interne Kämpfe und Konflikte geben wird. Es ist bedeutsam, dass der anti-neoliberale und antikapitalistische Diskurs nun eine wichtige Plattform in der institutionellen Politik und in den Medien haben wird. Wir werden jedoch sehen müssen, inwieweit diese Bündnisse die Opposition zu einer kreativen Kraft machen können; wir werden sehen müssen, wie weit sie die fortschrittlichen politischen Programme, die beide Kräfte (MVC und PIP) teilen, vorantreiben und umsetzen können. Es liegt auf der Hand, dass dies ständige Mobilisierungen und Aktivitäten erfordern wird; es wird eine organische Beziehung zwischen den institutionellen Kämpfen innerhalb der Legislative und den Kämpfen erfordern, die Arbeiter*innen, Feministinnen und Umweltschützer*innen an allen Ecken und Ende der Insel führen werden. Diese verschiedenen Räume – getrennt voneinander, aber im Dialog miteinander ‒ könnten auch die Opposition gegen das „Fiscal Oversight Board“ stärken. Das sind Möglichkeiten, die durch die Wahlergebnisse entstanden sind, aber nur organisierte und konkrete Aktionen kann sie Wirklichkeit werden lassen.

Wird die breite sozialistische Bewegung imstande sein, in diesen verschiedenen politischen Räumen koordiniert zu handeln, sich im Kampf zu vereinen, gemeinsam vorwärts zu gehen? Die Zeit wird es zeigen, aber die Gegenwart erfordert es.

Die Sozialist*innen werden genügend Arbeit vor sich haben. Obwohl sowohl MVC als auch PIP eindeutig anti-neoliberale Plattformen haben, fehlt bei beiden Parteien eine Betonung des Klassenkampfes und des Klassenbewusstseins, was das Potenzial zur Verbreitung und Durchsetzung ihrer politischen Programme stark einschränken kann. Innerhalb der MVC gibt es eine beträchtliche Anzahl von Sozialist*innen (in Gestalt von „Democracia Socialista“ oder von neu entstehenden sozialistischen Gruppen), die vor der Aufgabe stehen werden, mit einer eher unkoordinierten und unorthodoxen Organisationsstruktur zurechtzukommen. Obwohl die PIP diesmal von sozialistischen Aktiven stark unterstützt worden ist, gibt es eigentlich nicht viele Sozialist*innen, die in ihr mitarbeiten.

Es scheint so, als würden die positiven Wahlergebnisse die Folgen eines eher sektiererisch anmutenden Wahlkampfs auflösen. Wird die breite (wenn auch noch relativ kleine) sozialistische Bewegung imstande sein, in diesen verschiedenen politischen Räumen koordiniert zu handeln, sich im Kampf zu vereinen (ohne dass wir unsere Differenzen verbergen), gemeinsam vorwärts zu gehen? Die Zeit wird es zeigen, aber die Gegenwart erfordert es.

Ohne in einen leichtfertigen Triumphalismus zu verfallen, ohne die Annahme, dass sich aus diesen Ergebnisse automatisch eine antikapitalistische Bewegung entwickeln wird, sollten wir jedoch die Möglichkeiten für das Wachstum und die Entwicklung der Linken erkennen, die sich an diesen Resultaten entzünden könnten. Es gibt keine andere Wahl, als weiterzumachen.

7. November 2020

Aus dem Englischen und Kastilischen übersetzt und bearbeitet von Friedrich Dorn

Quellen:

Jorge Lefevre Tavárez: „A reflection on the Puerto Rican elections” (7. November 2020), https://www.dsausa.org/democratic-left/a-reflection-on-the-puerto-rican-elections/
https://internationalviewpoint.org/spip.php?article6899

Jorge Lefevre Tavárez: „Notas sobre los resultados electorales en Puerto Rico, 2020“, https://www.momentocritico.org/post/notas-sobre-los-resultados-electorales-en-puerto-rico-2020

(frd) Puerto Rico, die 1493 für die damalige Weltmacht Spanien eroberte viertgrößte Insel in der Karibik, ist nach dem Krieg zwischen Spanien und den USA 1898/99 von der Unterjochung durch eine niedergehende alte europäische Kolonialmacht in die Abhängigkeit von dem aufsteigenden imperialistischen Imperium in Nordamerika übergegangen. Es wurde „non-incorporated territory“ der USA ‒ ohne Wahlrecht und ohne Repräsentation im Senat. 1952 konnte das Land eine eigene Verfassung annehmen, so dass es aus der von den Vereinten Nationen aufgestellten Liste der Kolonien gestrichen werden konnte; der offizielle Namen wurde „Estado Libre Asociado de Puerto Rico“ (auf Englisch wiedergegeben mit „Commonwealth). Seit 1917 sind Puertoricaner*in­nen Bürger*innen der USA, so dass sie frei zwischen der Insel und dem „Mainland“ hin- und herreisen können. Zur Realität gehört, dass Puerto Rico schätzungsweise 3,2 Millionen Einwohner*innen hat, während etwa 5 Millionen Puertoricaner*innen, die in den USA leben und dort nach den Mexikanischstämmigen die zweitgrößte Gruppe innerhalb der „Hispanics“ ausmachen.

Das politische Leben wird nicht zuletzt von den Auseinandersetzungen um den Status der Insel beherrscht: Die PPD, die der Demokratischen Partei in den USA nahesteht und als Mitte-Links-Partei beschrieben wird, tritt für den Status Quo ein. Die PNP, die als Mitte-Rechts-Partei gilt und der Republikanischen Partei nahesteht, setzt sich für die Aufnahme von Puerto Rico als 51. Staat in die Vereinigten Staaten von Amerika ein. Die PIP, früher drittgrößte Partei des Landes und Mitgliedspartei der Sozialistischen Internationale, tritt für die Unabhängigkeit ein. Bei einem Referendum, das im August bzw. November 2012 stattfand, stimmten zunächst 53,99 % der Wahlberechtigten gegen den „gegenwärtigen territorialen Status“; bei dem zweiten Votum stimmten 61,16 % für „statehood“ (in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 33,34 % für einen „sovereign free associated state“ und 5,49 % für Unabhängigkeit. Bei einem weiteren Plebiszit stimmten 97,2 % für die Umwandlung in einen US-Bundesstaat, 1,3 % für die Beibehaltung des Status quo und 1,5 % für die Unabhängigkeit von den USA; die Wahlbeteiligung lag allerdings nur bei 22 %, die Opposition hatte zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Am 3. November 2020 wurde erneut ein Referendum abgehalten, dabei stimmten 623.053 Wahlberechtigte (52,34 %) für die sofortige Umwandlung in einen Bundesstaat der USA, 567.346 (47,66 %) dagegen; die Wahlbeteiligung lag bei 52 %. Hierüber entscheiden aber nicht die Wähler*innen auf Puerto Rico, sondern der Kongress in Washington, D.C.

Einen Abriss der aktuellen Lage in der US-Kolonie Puerto Rico, wo die Wirtschaftskrise ohnehin schlimmer war als in den USA selber und der von der Gouverneurin angeordnete „economic shutdown“ sie weiter verschlimmert hat (offizielle Arbeitslosenrate: 23 %) hat Dan La Botz im Juli in einem Artikel geliefert, den er im Juli für L’Anticapitaliste, die Wochenzeitung der französischen NPA, verfasst hat. Auf Englisch: „Puerto Rico Faces Crises: COVID, Hurricanes, Earthquakes, Drought“, https://newpol.org/puerto-rico-faces-crises-covid-hurricanes-earthquakes-drought/.


[1] Zu dem Skandal, der durch die Veröffentlichung von Chat-Nachrichten als „Telegramgate“ und „RickyLeaks“ in die Geschichte eingegangen ist, und den größten Protesten in der Geschichte der Insel siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Telegramgate; ausführlicher: https://en.wikipedia.org/wiki/Telegramgate oder https://es.wikipedia.org/wiki/Protestas_en_Puerto_Rico_de_2019. (Anm. d. Übers.)

[2] Rafael Bernabe ist Professor an der Universidad de Puerto Rico in Río Piedras; zusammen mit César J. Ayala hat er das Buch Puerto Rico in the American Century. A History since 1898 veröffentlicht (Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2007; Ausgabe auf Spanisch: San Juan: Ediciones Callejón, 2011). Er ist Mitglied von Democracia Socialista. (Anm. d. Übers.)

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