Die IV. Internationale hält aus gutem Grund das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung sehr hoch: Es ist die Grundlage für jeden antiimperialistischen Kampf.
Was Recht auf Selbstbestimmung im Einzelnen bedeutet, unterliegt freilich dem jeweiligen Klasseninteresse und der geschichtlichen Entwicklung.
I. Die Forderung nach Selbstbestimmung der Völker
ist verbunden mit den europäischen Kämpfen für die nationale Einheit im 19.Jahrhundert. Es ist eine liberale Forderung, die von der Arbeiterklasse unterstützt wurde. Als solche ist sie klassenunspezifisch: Sie sagt nichts darüber aus, was im Namen der Selbstbestimmung geschehen soll, wenn sie einmal errungen ist.
Wie alle liberalen Forderungen hört das Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes dort auf, wo das eines anderen Volkes anfängt. Es beinhaltet also z.B. nicht das Recht, ein anderes Volk gegen seinen Willen in einen Krieg hineinzuziehen.
Zu Marx’ Zeiten war mit dem Recht auf Selbstbestimmung die Schaffung eines eigenen Nationalstaats gemeint. Das war, wie Lenin schrieb, „eine notwendige Phase in der Entwicklung des Kapitalismus … eine notwendige Basis für die Entwicklung der Produktivkräfte“ (LW Bd.36, S.277).
Ihre letzte Blüte erlebte die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit in der Phase der Entkolonialisierung in den 50er und 60er Jahren des 20.Jahrhunderts. Seitdem hat imperialistische Herrschaft in den meisten Fällen (eine Ausnahme bildet u.a. Palästina) politisch eine indirekte Form angenommen; am unmittelbarsten äußert sie sich in der Schuldknechtschaft der großen Mehrzahl der Länder des globalen Südens.
Heute herrscht das Kapital auf der ganzen Welt. Sein imperiales Interesse ist nicht mehr, Eigenstaatlichkeit zu verhindern, sondern eher, den Zerfall rivalisierender Staaten zu fördern, um sie wirtschaftlich abhängiger und somit leichter beherrschbar zu machen.
Die Bedeutung des Rechts auf Selbstbestimmung hat sich mithin verschoben. Auch in der Ukraine stellt sich heute nicht die Frage nach dem eigenen Staat. Die Ukraine ist ein eigener Nationalstaat mit allem, was dazu gehört. Ein Nation Building im Sinne des Kampfs um die nationale Unabhängigkeit ist nicht mehr erforderlich. Darum kann es also im gegenwärtigen Krieg nicht gehen. Der Kampf der Ukraine gegen Russland ist kein antikolonialer Kampf.
II. Der Charakter des Krieges
Mit dem Verweis auf das Recht auf Selbstbestimmung wird in der aktuellen Debatte über den Krieg in der Ukraine das (mehr oder weniger direkte) Eingreifen der westlichen imperialistischen Regierungen auf der Seite der ukrainischen Regierung von Linken gutgeheißen. Die Regierungen werden aufgefordert, ihre Waffenlieferungen zu verstärken, manchmal wird ihnen sogar Verrat vorgeworfen, weil sie Langstreckenwaffen zurückhalten, aus Angst, selbst Opfer russischer Angriffe zu werden. Das Argument ist einfach: Die Ukraine wurde angegriffen, also hat sie ein Recht sich zu verteidigen – mit allen Mitteln. Mit allen Mitteln?
„Bei der Beurteilung dieses Krieges“, schreibt Lenin, „muß man von der geschichtlichen Situation ausgehen. Je nach … den Klassenverhältnissen … muß zu verschiedenen Zeiten auch die Stellung zum Krieg verschieden sein … Es ist unsinnig, … die Kriege in Verteidigungs- und Angriffskriege zu scheiden.“ (LW Bd.36, S.276.) (Siehe ausführlicher dazu den Exkurs „Lenin und Trotzki zur Frage der nationalen Selbstbestimmung am Ende des Textes.)
Im Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland ist der Fall klar: Russland ist eine imperialistische Macht, die Ukraine nicht. Russland verbindet mit dem Überfall auf die Ukraine ein doppeltes Ziel: Es will sein Reich möglichst weitgehend wieder in die Grenzen der alten Sowjetunion zurückzuführen und eine Pufferzone zur NATO schaffen. Der Adressat von letzterem ist aber nicht die Ukraine, sondern es sind die NATO-Staaten.
Das Ausmaß der angestrebten russischen Besetzung des Landes steht dabei keineswegs fest. Es hängt im Gegenteil in höchstem Maße von Zugeständnissen ab wie der Aufnahme der Ukraine in die NATO, der Stationierung von NATO-Truppen auf ukrainischem Boden usw. Diese sind aber mit den Regierungen der NATO-Staaten auszuhandeln.
Die gegenwärtige ukrainische Regierung will das Land enger an die EU und an die NATO binden und sich aus dem ehemals sowjetischen Einflussbereich lösen. Die NATO-Staaten wiederum sind mit eigenen Interessen an diesem Krieg beteiligt.
Ginge es nur um das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine, wären unsere Sympathien ungeteilt auf der Seite der Ukraine. Aber es geht um eine globale Konfrontation. Deshalb haben wir es nicht mit einem reinen Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland zu tun, sondern mit einem imperialistischen Krieg, der von Seiten der NATO mit dem erklärten Ziel geführt wird, „Russland so weit zu schwächen, dass es nicht mehr auf die Beine kommt“. Es geht der NATO nicht um den Schutz und das Wohl der ukrainischen Bevölkerung, im Gegenteil: Ihr und den USA geht es darum, die Ukraine vollständig in den eigenen Einflussbereich zu zerren und ihre Rohstoffe und qualifizierte Arbeitskraft auszubeuten. Dazu gehört auch der Abbau demokratischer und sozialer Rechte.
In einem imperialistischen Krieg aber sind wir Defätisten. Wir sind nicht für den russischen Sieg in der Ukraine, noch für einen Sieg der NATO über Russland.
Der imperialistische Charakter des Ukrainekriegs wird auch noch an anderer Stelle deutlich: nämlich daran, dass die Ukraine aus eigener Kraft heraus nicht in der Lage ist, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Selenskyj mangelt es schmerzlich an Waffen und an Soldaten. Er ist schon lange nicht mehr sein eigener Kriegsherr und abhängig von Washingtons Gnaden. Über den Ausgang des Krieges wird nicht in Kiew entschieden, so sehr westliche Propagandisten diesen Eindruck aufrechtzuerhalten wünschen.
Der imperialistische Charakter des Krieges mindert ganz und gar nicht das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Sie besagt nur, dass Linke in der Solidarität mit der Ukraine nicht den westlichen Imperialismus anrufen können, ohne damit dessen eigene Interessen zu unterstützen. Die Linke kann sich nicht in eine wie auch immer geartete Gemeinschaft mit ihm begeben. Sie kann Solidarität nur auf der Basis einer völligen Klassenunabhängigkeit leisten. Und da sie nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft und unter eigenem Kommando militärische Hilfe zu organisieren, muss sie sich auf humanitäre Hilfe mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen beschränken.
Das ist ein gänzlich anderer Standpunkt als der von Teilen der Friedensbewegung, die in der Russischen Föderation immer noch die alte Sowjetunion sehen oder mindestens einen schwächeren Imperialismus, den es gegen den stärkeren zu verteidigen gelte. Dies ist eine rein geopolitische Argumentation, in der die Lage und die Interessen der ukrainischen Arbeiterklasse keine Rolle spielen. Eine solche Haltung ist ebenso wenig internationalistisch wie der militärische Schulterschluss mit der NATO.
Der globale imperialistische Charakter des Krieges wird von denen, die ausschließlich die russische Aggression verurteilen, den aggressiven Charakter der Politik der NATO-Staaten aber unterschlagen, rundweg bestritten. Sie sehen die Ursache ausschließlich im russischen Imperialismus, wenn er nicht gar im Charakter Putins gesucht werden muss.
Damit gibt es aber kein Halten mehr: Wenn „der Ukraine“ Recht nur widerfahren kann, indem die NATO Russland (offen oder verdeckt) den Krieg erklärt, dann steht man, ob man will oder nicht, im Lager der NATO – was Carola Rackete auch zugibt, wenn sie in ihrem Interview mit der konservativen Turiner Industriellenzeitung La Stampa sagt:
„Ich kritisiere die NATO nach wie vor für die Fehler, die sie gemacht hat, insbesondere in Nordafrika oder im ehemaligen Jugoslawien. Aber links sein bedeutet, auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, ob in Palästina, Kurdistan oder der Ukraine. Ich stehe an der Seite der Menschen in Hongkong und Taiwan, für das Recht auf Selbstbestimmung und für die Demokratie. Es ist keine Frage von Ost oder West, von Russland oder der NATO. Es ist eine Frage des Imperialismus. Man muss den Schwächeren helfen, sich gegen den Missbrauch durch die Stärkeren zu wehren, und Russland ist eindeutig stärker als die Ukraine.“
Das ist exakt die elende Argumentation der sog. „Wohlmeinenden“, die „der bürgerlich-chauvinistischen Propaganda verfallen“, gegen die Lenin und Trotzki scharf polemisiert haben. „Imperialistisch“ ist hier nur Russland, die NATO „hat Fehler gemacht“. Wohin das führt, haben die Grünen mit ihrer „humanitären“ Begründung von Interventionskriegen seit den 90er Jahren mehr als deutlich gemacht.
III. Was heißt das für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine?
Zum einen heißt das:
1. Wir erkennen an, dass die Linke nicht in der Lage ist, militärisch etwas in die Waagschale zu werfen. Wenn wir dazu aber nicht in der Lage sind, dürfen wir auch keine solche Propaganda machen, denn die mündet immer in der Anrufung derer, die unser Feind sind – und auch der Feind des ukrainischen Volkes.
2. Wir formulieren somit auch keine Kriegsziele für die Ukraine. Darüber hat allein die ukrainische Bevölkerung zu entscheiden. Wir fordern allerdings, dass dabei den Minderheiten im Land die gleichen Entscheidungsrechte zugebilligt werden wie der Mehrheitsbevölkerung. Wir stellen uns nicht weniger gegen den ukrainischen Nationalismus als gegen den großrussischen Chauvinismus.
3. Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand, weil nicht erkennbar ist, dass die Ukraine in absehbarer Zeit die russischen Truppen aus dem Land vertreiben kann; unter diesen Bedingungen die Kriegshandlungen aufrechtzuerhalten, schwächt die Ukraine täglich mehr, als dass sie sie stärkt.
Die ukrainische Bevölkerung hat ein Interesse daran, dass die Kampfhandlungen so schnell wie möglich aufhören: Sie zahlt in jeder Beziehung die Zeche, während die Besserverdienenden in ihren Reihen sich dem Kriegsdienst entziehen und eine aufstrebende Mittelklasse den Krieg zu nutzen versucht, um sich der Oligarchenherrschaft zu entledigen (sie nennen es: „das sowjetische Modell loswerden“; oder: „eine rechtsstaatliche Ordnung herbeiführen“) und selber an die Fleischtöpfe zu kommen.
Mitten im Krieg findet ein neoliberaler Umbau der Ukraine und ihr Zuschnitt auf EU-Normen statt. Das lässt klar erkennen, was der innenpolitische Zweck des Krieges ist und warum die ukrainische Arbeiterklasse damit nichts am Hut haben kann: Es ist nicht ihr Krieg. Und anders als in anderen nationalen Befreiungskriegen verschafft ihr das Bündnis mit der Mittelklasse auch keine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, sie werden schlechter.
IV. Das berührt die zweite Ebene, die innere nationale Einheit:
Die Tatsache, dass die Ukraine angegriffen wird und sich verteidigen muss, macht ihren Kampf noch nicht zu einem nationalen Befreiungskrieg. Es ist ein konventioneller Krieg zwischen zwei bürgerlichen Staaten, dem alle Merkmale eines Volkskriegs fehlen. Zu Anfang hat es diese noch gegeben, auch linke Versuche einer Bildung selbständiger militärischer Einheiten. Das Militär hat jedoch sehr schnell die Kontrolle darüber wiedererlangt, die Verhängung des Kriegsrechts hat kritische Meinungen unterdrückt und die „Reform“ des Arbeitsrechts, die Privatisierungen und die anhaltende Korruption haben ihr Übriges getan, die Bevölkerung diesem Krieg zu entfremden. Die wachsende Zahl von Deserteuren ist ein Ausdruck davon.
Die Unterstützung für Selenskyjs Kriegführung ist keineswegs einhellig und je nach Landesteil unterschiedlich stark. Das hat auch mit dem schwachen inneren Zusammenhalt der ukrainischen Nation zu tun.
Die Ukraine war in der letzten Phase der Sowjetunion deren industriell und kulturell entwickeltster Teil. Ihr ökonomischer Absturz nach ihrem Ende als sowjetischer Teilstaat war bedeutend stärker als der in Russland, ihre staatlichen Institutionen deutlich schwächer und ihre aus der sowjetischen Bürokratie entstehenden Oligarchen blickten außenwirtschaftlich in die verschiedensten Richtungen. Eine innere nationale Einheit konnte so nicht zustande kommen, zumal die Ukraine keine solche Tradition hat. Es hätte eines gemeinsamen Aufbauprojekts bedurft, um eine solche Einheit zu schaffen, nicht des Auseinanderfallens in tausend private Raubzüge. Ein Krieg aber, der die bestraft, die den Kopf für ihn hinhalten, und letztlich in Schuldknechtschaft mündet, kann und wird eine solche Einheit nie herstellen.
V. Die dritte Ebene
Es gibt noch eine dritte Ebene, das ist der postsowjetische Charakter der Ukraine und die spezifische Belastung, die er für die Linke in Europa bedeutet.
Im größeren Teil der nachsowjetischen Ukraine hat sich – befeuert durch die „orange Revolution“ und durch den russischen Angriffskrieg erst recht – ein starker Wille entwickelt, sich dem liberalen Kapitalismus anzuschließen. Viele verstehen unter dem Recht auf Selbstbestimmung im Grunde den Anschluss an die EU (schon weniger an die NATO).
Die mittel-osteuropäischen Staaten haben das um 1990/91 herum ebenso getan. Der Unterschied ist, dass in Polen, Tschechien, Ungarn, Ostdeutschland usw. damals nur westliche ausländische Mächte hineinregiert haben, während Russland sich völlig raushielt. Die „Wende“ verlief also unblutig. Die Linke im Westen konnte nur zuschauen. Wir waren natürlich gegen den Beitritt dieser Länder zur NATO und zur EU. Aber wir konnten ihn nicht verhindern – es war die mehrheitliche Entscheidung der Bevölkerungen und es war der Preis, den die Linke dafür zu zahlen hatte, dass das Erbe der Oktoberrevolution so schändlich vertan worden war.
Wir zahlen diesen Preis immer noch. Wenn eine Vertreterin aus Lwiw am Ende der Ukraine-Veranstaltung in Berlin im Juni 2024 sagt: „Wir wissen, wo wir hingehören“, dann raubt uns das den Atem. Wir teilen ihren Standpunkt nicht, aber wir haben ihn zu respektieren und können auch verstehen, dass ihnen die westliche Lebensweise mehr zusagt. (Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Die Vertreterin aus Krywyj Rih sagte: „Uns ist egal, wo wir leben, Hauptsache, wir leben in Sicherheit.“)
Damit geraten wir aber in einen Abstand zu ihnen, unsere Ausgangspunkte sind schlicht grundverschieden: Wir wollen aus dem liberalen Kapitalismus raus, sie wollen hinein. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied der Positionen, den man auch mit schönen Worten nicht zukleistern kann.
Das heißt, es bleibt in Europa eine Ost-West-Spaltung der Linken, die sich jetzt wieder in der Frage der Haltung zum Ukrainekrieg manifestiert. Diese Spaltung lässt sich nicht voluntaristisch überwinden; vielmehr müssen wir versuchen, Brücken zu schlagen im Bewusstsein, dass diese Spaltung vorhanden ist.
VI. Selbstbestimmung ist mehr als staatliche Unabhängigkeit
Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet heute deutlich mehr als nur staatliche Unabhängigkeit. Es muss den neuen Methoden imperialistischer Dominanz Rechnung tragen und die Schuldenfrage in den Mittelpunkt stellen. Nationale Selbstbestimmung ist ohne Demokratie und Freiheit von kolonialer Ausbeutung nicht möglich.
Was also ist internationalistische Pflicht in der Ukraine?
1. die Kräfte vor Ort zu stärken, die sich der neoliberalen Zurichtung widersetzen – durch gewerkschaftliche Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe und eine Kampagne für die Schuldenstreichung;
2. eine gemeinsame nichtkapitalistische Aufbau- und Zukunftsperspektiven im europäischen Rahmen von unten zu entwickeln;
3. die russische Antikriegsbewegung gegen den russischen Imperialismus zu unterstützen;
4. die Aufrüstung der NATO und ihre Kriegstreiberei zu bekämpfen.
VII. Exkurs: Lenin und Trotzki über das Recht auf nationale Selbstbestimmung
Die beiden russischen Revolutionäre haben stets darauf gepocht, dass eine Sachlage nur aus dem Gesamtzusammenhang zu beurteilen ist, getreu dem Wort Hegels: „Das Wahre ist das Ganze.“ Aus diesem Grund widerspricht er z.B. dem Argument, weil Deutschland Belgien überfallen habe, müssten Sozialisten jetzt auf der Seite der Entente stehen:
„Die Sozialchauvinisten des Dreiverbands (jetzt Vierverbands), (in Rußland Plechanow und Co.) berufen sich mit Vorliebe auf das belgische Beispiel. Aber dieses Beispiel spricht gegen sie. Die deutschen Imperialisten haben die Neutralität Belgiens schamlos gebrochen, wie es die kriegführenden Staaten, die im Bedarfsfall alle Verträge und eingegangenen Verpflichtungen brechen, stets und überall getan haben. Angenommen, alle an der Einhaltung der internationalen Verträge interessierten Staaten hätten Deutschland den Krieg erklärt mit der Forderung, Belgien zu räumen und zu entschädigen. In diesem Fall wäre die Sympathie der Sozialisten natürlich auf seiten der Feinde Deutschlands. Aber der Haken ist gerade der, daß der ‚Drei(bzw. Vier)verband‘ den Krieg nicht um Belgiens willen führt; das ist aller Welt bekannt, und nur Heuchler suchen es zu vertuschen. England will die deutschen Kolonien und die Türkei plündern, Rußland Galizien und die Türkei … Auf der Basis des gegenwärtigen Krieges zwischen den gegenwärtigen Regierungen kann man Belgien nicht anders helfen als dadurch, daß man mithilft, Österreich oder die Türkei usw. zu erdrosseln! Was hat das mit ‚Vaterlandsverteidigung‘ zu tun?“ (LW Bd.21, S.305f.)
An anderer Stelle polemisiert Lenin: „Karl Radek … rennt in dem Artikel ‚Das Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ … sehr heftig gegen das Selbstbestimmungsrecht an, wobei er … unter anderem folgendes Argument anführt: das Selbstbestimmungsrecht stärke den Glauben, ‚als sei es Pflicht der Sozialdemokratie, jeden Unabhängigkeitskampf zu unterstützen‘. Vom Standpunkt der allgemeinen Theorie ist dieses Argument geradezu empörend, denn es ist offensichtlich unlogisch: Erstens gibt es keine einzige demokratische Teilforderung und kann es keine geben, die nicht zu Mißbräuchen führen könnte, wenn man den Teil nicht dem Ganzen unterordnet; wir sind nicht verpflichtet, ‚jeden‘ Unabhängigkeitskampf oder ‚jede‘ republikanische oder antiklerikale Bewegung zu unterstützen …
Betrachten wir indes statt dieser allgemeinen Argumente die besonderen Verhältnisse in Polen: seine Unabhängigkeit ist jetzt ohne Kriege oder Revolutionen ‚undurchführbar‘. Einzig und allein um der Wiederaufrichtung Polens willen für einen europäischen Krieg sein – das hieße ein Nationalist schlimmster Sorte sein, die Interessen der kleinen Anzahl von Polen höher stellen als die Interessen von Hunderten Millionen Menschen, die durch den Krieg leiden … Die Losung der Unabhängigkeit Polens jetzt aufstellen, angesichts des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen den imperialistischen Nachbarstaaten, heißt in der Tat einer Utopie nachjagen, in engstirnigen Nationalismus verfallen, die Voraussetzung der gesamteuropäischen oder zumindest der russischen und der deutschen Revolution vergessen.“ (LW Bd.22, S.357f.)
Natürlich gibt es auch noch Kriege des alten Stils, räumt Lenin ein. Er zählt dazu u.a. „die Serben, die um ihre nationale Existenz kämpfen“ (LW Bd.36, S.278). Die serbische Sozialdemokratie hatte aber, im Gegensatz zu anderen unterdrückten Völkern des Habsburgerreichs, gegen die Kriegskredite gestimmt. Ihr Vorsitzender, Dušan Popović, schrieb 1915: „Wenn die Sozialdemokratie irgendwo das Recht hatte, für den Krieg zu stimmen, dann vor allem in Serbien. Für uns aber war die entscheidende Tatsache, dass der Krieg zwischen Serbien und Österreich nur ein kleiner Teil einer Totalität war, nur der Prolog zu einem größeren, europäischen Krieg, und dieser hatte – davon waren wir zutiefst überzeugt – einen deutlich ausgeprägten imperialistischen Charakter. Daher hielten wir es als Teil der großen sozialistischen, proletarischen Internationale für unsere Pflicht, uns dem Krieg entschieden entgegenzustellen.“ (Zit. nach: AK Beau Séjour: Sterben und sterben lassen. Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt. Berlin 2024. S.11f.)
Lenins Schlussfolgerung: Die neuen Kriege stellen Sozialisten vor andere Aufgaben als die alten, sie lauten nun nicht mehr „Vaterlandsverteidigung“, sondern „Umwandlung des ‚nationalen Krieges‘ in den Bürgerkrieg“: „Man kann den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht vollziehen, ohne den nationalen Rahmen zu sprengen, sowenig der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus möglich war ohne die nationalen Ideen.“ (LW Bd.36, S.281, 282.)
Er lehnte es auch ab, „jede Angliederung eines ‚fremden‘ Territoriums als Annexion [zu] bezeichnen, denn im allgemeinen sind die Sozialisten für das Verschwinden der Grenzen zwischen den Nationen, für die Annäherung und Verschmelzung der Nationen, für die Bildung von größeren Staaten“. Unter Annexion „kann und muß“ man „bloß die Angliederung eines Landes gegen den Willen seiner Bevölkerung verstehen“ (LW Bd.36, S.363). Anders als wohl die meisten Sozialdemokraten seiner Zeit war er jederzeit bereit, Grenzen in Frage zu stellen, ein Denken in nationalstaatlichen Grenzen lehnte rundheraus ab: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“, wiederholte er den Satz aus dem Kommunistischen Manifest.
Er spottete über die „Sozialisten“, die Annexionen anderer Staaten verurteilen, aber über die Annexionen des eigenen Staates hinwegsehen – „d.h. sie verfallen der bürgerlichen chauvinistischen Propaganda“. Er wird da sehr konkret: „Es ist klar, dass sowohl die französischen ‚Sozialisten‘, die den Krieg um Elsaß-Lothringen rechtfertigen, als auch die deutschen, die nicht die Freiheit der Lostrennung Elsaß-Lothringens von Deutschland fordern, gleichermaßen Annexionisten sind, wie sehr sie auch das Gegenteil beteuern mögen. Es ist klar, dass die russischen ‚Sozialisten‘, die gegen den ‚Zerfall Russlands‘ sprechen oder schreiben oder die heute direkt oder indirekt einen Krieg rechtfertigen, der darum geführt wird, wer Polen im Namen der Losung ‚Frieden ohne Annexionen‘ knechten soll, genau solche Annexionisten sind…“ (LW Bd.36, S.364).
Lenin hat scharf unterschieden, wer die Forderung nach Selbstbestimmung erhebt, ob sie aus einem imperialistischen oder aus einem vom Imperialismus unterdrückten Land kommt. Er bestand darauf, dass die Arbeiterklasse im imperialistischen Land unbedingt für das Recht der unterdrückten Nation auf Lostrennung eintreten müsse, dass die Arbeiterklasse des unterdrückten Landes aber unbedingt einen internationalistischen Standpunkt beziehen – also die Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse des imperialistischen Landes suchen müsse. So schreibt er 1916 in „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Thesen)“:
„[D]ie Sozialisten der unterdrückten Nationen [müssen] auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der andern Länder … zu bestehen.“ (LW Bd.22, S.149.)
Was war der Sinn dessen? Beide Male war es derselbe universalistische Ansatz und dasselbe Ziel: alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der internationalen Einheit der Arbeiterklasse im Wege stehen können. Der Fokus war stets auf die Internationale gerichtet.
In der Ukraine ist heute ein solcher internationalistischer Ansatz kaum zu finden. Linke ukrainisch-russische Zusammenarbeit ist, neben propagandistischer Zusammenarbeit, meist Solidaritätserklärung russischer Antikriegsaktivist:innen mit der Bevölkerung der Ukraine. Umgekehrt ist ein Bemühen, gegen den chauvinistischen antirussischen Strom in der Ukraine anzuschwimmen, kaum festzustellen.
Wenn Lenin keine Gelegenheit ausgelassen hat, den großrussischen Chauvinismus zu geißeln, rechnet Trotzki in ebenso scharfen Worten mit dem ukrainischen Nationalismus ab. Er schreibt im April 1939 – da ist die Ukraine geteilt in den Teil, der Polen zugeschlagen worden war, und den Teil, der zur Sowjetunion gehörte; es hat unter Stalin eine Russifizierung und mit der Kollektivierung der Landwirtschaft eine ungeheure Hungersnot stattgefunden und die Wehrmacht bereitet sich, unter dem Vorwand, das Land vom „sowjetischen Joch“ zu befreien, auf die Besetzung der Ukraine vor:
„Die neue Zuspitzung der ukrainischen Frage ist aufs engste verknüpft mit der Entartung von Sowjetunion und Komintern, den Erfolgen des Faschismus und dem Näherrücken des nächsten imperialistischen Krieges …
Nach Auffassung der alten bolschewistischen Partei sollte die Sowjetukraine eine machtvolle Achse werden, um die herum sich die übrigen Teile des ukrainischen Volkes vereinigen sollten. Es ist unbestreitbar, daß die Sowjetukraine in der ersten Periode ihres Bestehens eine mächtige Anziehungskraft, auch in nationaler Hinsicht, entwickelte und Arbeiter, Bauern und revolutionäre Intelligenz der von Polen versklavten Westukraine zum Kampf anspornte. In den Jahren der thermidorianischen Reaktion wandelte sich jedoch die Lage der Sowjetukraine und damit der Rahmen der ukrainischen Frage insgesamt deutlich. Je größer die einmal geweckten Hoffnungen waren, desto schmerzlicher war nun die Enttäuschung. Die Bürokratie unterdrückte und plünderte das Volk auch in Großrußland aus. Aber in der Ukraine komplizierte sich die Angelegenheit durch die Zerstörung nationaler Hoffnungen … Die Sowjetukraine wurde für die totalitäre Bürokratie zum Verwaltungsabschnitt einer Wirtschaftseinheit und einer UdSSR-Militärbasis …
Die Arbeiter- und Bauernmassen in der Westukraine, der Bukowina und der Karpato-Ukraine sind desorientiert: Wohin soll man sich wenden? Was soll man fordern? In dieser Situation gerät die Führung natürlich in die Hände der reaktionärsten ukrainischen Cliquen, deren ‚Nationalismus‘ sich darin ausdrückt, das ukrainische Volk mit dem Versprechen einer fiktiven Unabhängigkeit an den einen oder anderen Imperialismus zu verkaufen.“ (TS Bd.1.2, S.1168f., 1173f., 1176f.)
Trotzki verteidigt das Recht der Sowjetukraine, aus der Sowjetunion auszutreten, aber die Unterwerfung unter einen anderen Imperialismus ist indiskutabel:
„Meiner Meinung nach kann es heute keine andere Losung geben als diese: Eine vereinigte, freie und unabhängige Sowjetukraine der Arbeiter und Bauern …
Nur hoffnungslose, pazifistische Dummköpfe können sich vorstellen, dass die Befreiung und Vereinigung der Ukraine durch friedliche diplomatische Mittel, durch Referenden, Beschlüsse des Völkerbunds usw. erreicht werden kann. Keinen Deut besser sind freilich jene ‚Nationalisten‘, die die ukrainische Frage dadurch lösen wollen, dass sie einem Imperialismus Handlangerdienste gegen den anderen leisten … Das Programm für die Unabhängigkeit der Ukraine ist in der Epoche des Imperialismus unmittelbar und unlösbar mit dem Programm der proletarischen Revolution verbunden. Es wäre verbrecherisch, irgendwelche Illusionen in diesem Punkt zu hegen.“ (Ebd., S.1178.)
Wenn man das Wort „sowjetisch“ streicht, und überdies in Rechnung stellt, dass die internationale Arbeiterbewegung heute um Längen schwächer ist als damals, ihre Fähigkeit, eine politische Alternative aufzuzeigen, mithin viel kümmerlicher, hat man damit eine ganz gute Beschreibung der Richtung, in die unser Handeln auch heute gehen muss.