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Betrieb & Gewerkschaft

Tarifautonomie: Wichtige Kampffront gegen Neoliberalismus

Von Konrad Reich | 01.12.2003

„Ich wünsche mir manchmal ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen“ so wird Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), in der „Wirtschaftswoche“ vom 30.Oktober 2003 zitiert.

„Ich wünsche mir manchmal ein großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge hineinzuwerfen“ so wird Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), in der „Wirtschaftswoche“ vom 30.Oktober 2003 zitiert.

In dieser ungebremsten Klarheit hat sich in der Bundesrepublik schon lange kein Repräsentant des Kapitals mehr öffentlich geäußert. Aber es entspricht dem, was in Teilen der Bourgeoisie schon länger gedacht, aber nur hinter vorgehaltener Hand im kleinen Kreis gesagt wird. Und es trifft auf ein in Medien und Politik erzeugtes öffentliches Meinungsklima, in dem Gewerkschaften und Betriebsräte unentwegt als die Ewiggestrigen, Betonköpfe und Blockierer verunglimpft werden.

Spätestens seit der Agenda-Rede von Kanzler Schröder am 14. März 2003 eint fast alle Parteien, Verbände, Wirtschaftsinstitute und Sachverständige die Forderung nach Aufbrechen des verkrusteten und überkommenen „Tarifkartells" durch mehr Flexibilität in den Tarifverträgen. Schröder forderte, in den Tarifverträgen müsse ein „flexibler Rahmen geschaffen werden". „Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang dessen was es bereits gibt – aber in weit größerem Umfang – auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist". Und drohend fügte er noch hinzu: „Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln haben."
Entmachtung der Gewerkschaften
Seit Wochen und Monaten überbieten sich die hinlänglich bekannten Büchsenspanner des marktradikalen Neoliberalismus gegenseitig. FDP-Chef Westerwelle forderte: „Im Bereich der Lohnfindung muss der flächendeckende Tarifvertrag verschwinden" (Dt. Bundestag 29.10.02). CDU-Fraktionsvize Merz forderte eine „Durchlöcherung des Tarifkartells" durch betriebliche Vereinbarungen unterhalb des Tarifniveaus (dpa-Gespräch 9.6.03). Michael Glos (CSU) forderte ohne Umschweife: „Wir müssen die Flächentarife beseitigen" (Sabine Christiansen 22.6.03).

Konsequenterweise haben denn auch die CDU/CSU den „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts" und die FDP den „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit" in den Bundestag eingebracht. Dort liegt bereits der von SPD/Grünen eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt".  Wie in den anderen Bereichen – von den Renten, über die Gesundheitsvorsorge, die Sozialsysteme bis zur Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung – ist für alle das neoliberale Credo Richtschnur, deregulieren und flexibilisieren.

Vor dem Hintergrund von ökonomischer Krise und Massenarbeitslosigkeit geht es Teilen der Wirtschaft und breiten politischen Kreisen um eine grundlegende Machtauseinandersetzung mit den Gewerkschaften und im Kern um die Beschneidung ihrer Fähigkeit, über Flächentarifverträge Einfluss auf die betrieblichen Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten zu nehmen. Das ureigene Handlungsfeld der Gewerkschaften, die Tarifpolitik, soll faktisch entwertet werden. Durch das Aufbrechen von Tarifvorrang und Günstigkeitsprinzip, durch die Aufwertung betrieblicher Vereinbarungen gegenüber tariflichen Regelungen sollen die Gewerkschaften entmachtet werden.

Auffällig ist dabei die Verschärfung der Argumentation im „Arbeitgeber"lager. So hat die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in einer „Zwischenbilanz der Tarifrunde 2003" ihre bisherige Zurückhaltung aufgegeben. Angesichts der „rücksichtslosen Tarifpolitik" von ver.di und IG Metall werde es bald keine Branchentarifverträge mehr geben, weil die Betriebe dadurch aus den Verbänden getrieben würden. Gesetzliche Öffnungsklauseln seien gewissermaßen das einzige Mittel, um den Flächentarifvertrag zu erhalten und die „Demontage der Tarifautonomie" zu verhindern.

Auch das Streikrecht wird von der BDA immer unverhüllter in Frage gestellt. Bei den Streiks der Lufthansa-Piloten, den angedrohten Streiks der Lokführer und bei dem Arbeitskampf in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie handele es sich um „Missbrauch des Tarifrechts" in dem jeweils „eine kleine Minderheit" ganze Betriebe und Branchen lahm lege. Der Gesetzgeber müsse solchen Entwicklungen entgegentreten, damit die „Verhältnismäßigkeit der Mittel" und ein „Mehrheitenschutz" gewahrt bleibe. Hierbei erhalten die Arbeitgeber Flankenschutz aus der Politik. Im Arbeitskampf für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland nahm die Kritik aller Parteien teilweise solche Formen an, dass sie den Forderungen nach Einschränkung des Streikrechts Vorschub leistete.
Warum überhaupt Tarifverträge?
Tarifverträge regeln den Arbeitsmarkt, indem sie als Kollektivverträge verbindliche Vorgaben von einheitlichen und eben nicht unterschreitbaren Mindeststandards der wichtigsten Arbeits- und Einkommensbedingungen für die individuellen Arbeitsverträge machen. Sie greifen dadurch in die Marktbeziehungen zwischen Beschäftigten und Arbeitgeber ein. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird auf diese Weise der möglichen Konkurrenz der ArbeitnehmerInnen untereinander zumindest teilweise entzogen, der Konkurrenzdruck dadurch verringert. Aus „Arbeitgeber"sicht übernehmen die Tarifverträge eine Kartellfunktion und schaffen dadurch relativ einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten. Konkurrenz wird so weitgehend über Produktivitätserhöhung und Innovation am Produkt, dem Material, der Maschinerie und dem Produktionsprozess ausgetragen. Gleichzeitig garantiert der Flächentarifvertrag den Kapitalisten durch die Friedenspflicht während der Laufzeit relative Ruhe in den Betrieben und das Heraushalten der Gewerkschaften.
Was wollen sie erreichen?
Inhaltlich dreht sich die Auseinandersetzung um das Ausmaß der Flexibilität und Differenzierung in künftigen Tarifverträgen. So hat der Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall Hans-Werner Busch Tarifpolitik nach dem Durchschnittprinzip kritisiert und Optionen zur Differenzierung nach Ertragslage und zur Unterschreitung tariflicher Mindeststandards gefordert. Entgelterhöhungen müssten über mehrere Jahre hinweg unterhalb des Durchschnittsbetriebs angesiedelt werden.

Klar wird: Wer mehr Flexibilität und Differenzierung in Tarifverträgen fordert, will Kosten und das Niveau der Tarifstandards insgesamt senken. Hauptkampffeld ist die Unterschreitung tariflicher Mindestnormen. Dabei ist auffällig, dass nicht nur stark exportorientierte Branchen wie Metall und Chemie mehr Flexibilität fordern, sondern auch binnenmarktorientierte Wirtschaftszweige des Verbrauchsgütergewerbes und des Handels und der öffentliche Dienst. Angriffspunkte sin
d dabei alle Tarifregelungen, von der Arbeitszeit, über Entgelt bis zum besonderen Kündigungsschutz für Ältere. Flexibilisierung und Differenzierung nicht nur im wirtschaftlichen Krisenfall, sondern als Regelfall.
Wie reagieren die Gewerkschaften?
Bislang ist die Reaktion der Gewerkschaften eher hilflos und widersprüchlich. Kein Wunder, denn sie werden die Geister nicht mehr los, die sie selbst gerufen haben. 1998 haben sie sich mit dem „Bündnis für Arbeit" auf ein Konzept zur Senkung der Lohnnebenkosten verpflichtet und die Begründung akzeptiert, durch Kostensenkung würde wieder mehr Beschäftigung geschaffen. Anders übrigens der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB), der im letzten Jahr eine systematische Kampagne gegen die Senkung der Lohnnebenkosten unter dem Motto „Lohnnebenkosten sichern unsere Sozialsysteme" geführt hat. Vielleicht eine Erklärung für das enorme Mobilisierungspotential gegen Sozialabbau in Österreich.

Außerdem wird fast gebetsmühlenartig wiederholt, eine gesetzliche Öffnung der Tarifverträge sei nicht erforderlich, diese seien schon ausreichend flexibilisiert. In der Tat hat eine Untersuchung des WSI 2002 ergeben, dass in 35% der Betriebe und 22% der Dienststellen bereits tarifliche Öffnungsklauseln angewendet werden. Ein schlechte Ausgangslage, wenn mensch gegen weitere Flexibilisierung angehen will. Vor allem dann, wenn die Flexibilisierung in besonders kritischen Bereichen wie der Arbeitszeit und dem Einkommen erfolgt ist. Schlechte Beispiele hierfür sind die ohne Not vorangetriebene Arbeitszeitverlängerung über Ergänzungstarifvertrag im Forschungs- und Entwicklungszentrum von Bosch in Schwieberdingen sowie die aktuelle Diskussion über einen Tarifvertrag für ausgegliederte Dienstleistungssparten der Metall- und Elektroindustrie, der um 30% unter dem bisherigen Tarifniveau liegt.

Diese Strategie der „kontrollierten Dezentralisierung" durch die Gewerkschaftsbürokratie muss angeprangert werden, dann wird es auch gelingen, insgesamt wieder Dämme zum Schutz der Flächentarifverträge aufzubauen.

Was bedeutet „Günstigkeitsprinzip“?
Was tarifvertraglich gesichert ist, kann nicht abweichend geregelt werden. Dies ist nach dem Tarifvertragsgesetz nur dann zulässig, wenn es der Tarifvertrag ausdrücklich gestattet und wenn es für den Arbeitnehmer günstiger ist. Erlaubt sind bisher aber nur Günstigkeitsvergleiche innerhalb des gleichen Regelungsbereiches, z. B. Entlohnung oder Arbeitszeit. Nicht verglichen werden dürfen unterschiedliche Regelungsbereiche, wie Arbeitsplatzsicherung mit Länge der Arbeitszeit oder Bezahlung. Dies ist auch richtig, weil sonst die Wirkung des zwingenden Tarifrechts praktisch durch die Erpressungsmöglichkeiten der Arbeitgeber ausgehebelt würde.
H.N.

Kabinett und Kapital wollen die Arbeitszeit verlängern
Allein die Verlängerung der Arbeitszeit in der gesamten Wirtschaft um eine Stunde pro Beschäftigte® (dies sind dann 1,6 Mrd. Stunden im Jahr) entspricht dem Umfang von 1 Million Arbeitsplätzen. Da die längere Arbeitszeit ohne Lohnausgleich geleistet werden soll, wird im Inland keine erhöhte Kaufkraft entstehen und der Weltmarkt lässt ich bekanntlich nicht willkürlich ausdehnen. Der Effekt wäre also ein doppelter: Beim Kapital bleiben dann mindestens 25 Mrd. € zusätzlicher Gewinne hängen und die Erwerbslosenzahlen steigen um 1 Mio. mit allen Folgen für die Sozialkassen, die Stimmung im Betrieb usw.
Der 1. Vorsitzende der IG Metall hat dargelegt, dass allein die Verlängerung der Arbeitszeit von 35 Stunden auf 40 Stunden in der Metall- und Elektroindustrie 435 000 Stellen vernichten würde. Die Frage wird sein: Welche Linie setzt sich in der IG Metall (und nicht nur dort) durch: die des Nachgebens in Richtung Flexibilisierung oder die des Widerstands gegen Arbeitszeitverlängerung und gegen Flexibilisierung. Nur wenn die Gewerkschaften den Kampf um eine massive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Einkommens- und Personalausgleich (bei definierten Arbeitsbedingungen) auf ihre Fahnen schreiben, kann den aktuellen Angriffen wirklich begegnet werden und kann bei den KollegInnen auch das notwendige Engagement entstehen. Werden die KollegInnen aber über Öffnungsklauseln auf die betriebliche Ebene zurückgeworfen, hat der Abwehrkampf kaum eine Chance. (Detaillierte Zahlen zu „Mehr Wachstum durch längere Arbeitzeit und andere Geschichten aus dem ökonomischen Märchenland“ vg. auch Wipo-Schnelldienst Nr. 2/2003 des DGB)

D. B.

Was bedeutet „Tarifvorrang“?
Was in Tarifverträgen geregelt ist oder üblicherweise geregelt wird, kann nach § 77 Abs.3 Betriebsverfassungsgesetz nicht Gegenstand von Betriebsvereinbarungen sein. Der Tarifvorrang schützt davor, dass Gewerkschaften und Betriebsräte gegeneinander ausgespielt werden können. Und er verhindert, dass Tarifverträge nur noch eine Art Richtlinie darstellen, die aber jederzeit durch Betriebsvereinbarungen außer Kraft gesetzt werden können.

K. R.


 

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