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Betrieb & Gewerkschaft

Strike Bike – Ein Jahr danach: „Wir waren einfach zu blauäugig“

Von Interview: Philipp Xanthos | 01.07.2008
Vor einem Jahr, am 10. Juli begann die legendäre „Betriebsversammlung“, der Beginn von 115 Tagen Werksbesetzung, an deren Ende eine selbstverwaltete Produktion von 1 850 Strike Bikes stand. Im Mai und Juni diesen Jahres wurde in zahlreichen Städten die Dokumentation des RSB „Strike Bike – eine Belegschaft wird rebellisch“ gezeigt, so auch in Nordhausen mit einigen ehemaligen KollegInnen. Avanti sprach mit Jens Müller, vormaliges Ersatzmitglied des Betriebsrats bei Bike Systems in Nordhausen.

Vor einem Jahr, am 10. Juli begann die legendäre „Betriebsversammlung“, der Beginn von 115 Tagen Werksbesetzung, an deren Ende eine selbstverwaltete Produktion von 1 850 Strike Bikes stand. Im Mai und Juni diesen Jahres wurde in zahlreichen Städten die Dokumentation des RSB „Strike Bike – eine Belegschaft wird rebellisch“ gezeigt, so auch in Nordhausen mit einigen ehemaligen KollegInnen. Avanti sprach mit Jens Müller, vormaliges Ersatzmitglied des Betriebsrats bei Bike Systems in Nordhausen.

Avanti: Was machen die 126 BesetzerInnen von damals heute?

Jens: Der überwiegende Teil befindet sich noch bis zum 30. Juni 2008 in der sich damals anschließenden Transfermaßnahme. Danach droht die Arbeitslosigkeit! Etwa 40 KollegInnen haben neue Arbeitsplätze gefunden und einige wenige ArbeiterInnen warten auf die Rente.

Vielen ehemaligen Beschäftigten wird nichts weiter übrig bleiben, als sich bei einer der vielen Leiharbeitsfirmen zu verdingen, oder aber in die Fremde zu ziehen. Das örtliche Arbeitsamt baut schon seit einiger Zeit Druck gegen ehemalige Beschäftigte von Bike Systems auf. Vom „wirtschaftlichen Aufschwung“ ist in Nord­thüringen aber nichts zu spüren. Für 21 ehemalige Fahrradwerker könnte sich aber doch eine neue Perspektive durch die Gründung der Strike Bike GmbH auf dem ehemaligen Werksgelände ergeben. Dazu gehöre auch ich.

Welche Hoffnungen verbindet ihr mit der neuen GmbH?

Jens: Es wurde sehr viel Zeit, Energie, aber auch Geld aufgebracht, um diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Jeder der 21 „Strike Biker“ ist mit Leib und Seele dabei. Sollte es gelingen, dann würde für 21 KollegInnen der ehemaligen Bike Systems GmbH je ein neuer Arbeitsplatz geschaffen werden.

Ist eure neue Firma  selbstverwaltet, bzw. wie ist sie aufgebaut?

Jens: Es gibt fünf Gesellschafter, wobei der Verein Bikes in Nordhausen e.V. mit seinen fast 100 Mitgliedern am stärksten vertreten ist. Die anderen Gesellschafter sind auch ehemalige Mitarbeiter. Die Strike Bike GmbH hat zwei Geschäftsführer. André Kegel, auch Vorsitzender des Vereins, ist für die Produktion und Manfred Handke fürs Kaufmännische zuständig. Die Strukturen sind übersichtlich und transparent. Alle Mitarbeiter­Innen werden in die Entscheidungen eingebunden und haben Mitspracherecht. Eine GmbH, jedoch in kollektiver Selbstverwaltung, wurde also gegründet!

Seid ihr eigentlich gewerkschaftlich organisiert?

Jens: Auch wenn es damals einige Missverständnisse mit der Gewerkschaft wegen der Rolle der FAU bei der Strike-Bike-Produktion und anderer Sachen gab, so hat sich das Verhältnis wieder normalisiert. Die IG Metall Nordhausen hat uns Unterstützung signalisiert. Allerdings haben sie bislang kein Fahrrad bestellt. Natürlich sind die 21 „Strike Biker“, sofern sie organisiert waren, auch immer noch gewerkschaftlich in der IGM organisiert.

Was sind die nächsten geplanten Schritte?

Jens: Zunächst einmal läuft ja unsere Internetaktion. 2000 Räder der Marken „Volksrad“ bzw. „Strike Bike 2.0“ sind nochmals gegen Vorkasse geplant, wie damals bei der „roten“ Produktion, um wieder Material, wie von vielen unserer Materiallieferanten bei Lieferung  an Neu­kunden gefordert, vorfinanzieren zu können. Zeitgleich sind Mitarbeiter im Außendienst unterwegs, um unsere Räder Fachhändlern vorzustellen und Aufträge zu ordern. Der Aufbau neuer Vertriebsstrukturen hat z. Z. oberste Priorität. Unterstützt werden wir dabei von zwei Fahrradhändlerverbänden. Natürlich ist auch geplant, falls alle Aktionen gut anlaufen, die technischen Voraussetzungen innerhalb der Produktion zu verbessern.

Darf man ein Fahrrad „Strike Bike 2.0“ nennen, wenn es mit Arbeitskampf gar nichts zu tun hat?

Jens: Wer eine GmbH mit genossenschaftlichen Strukturen gründet, diese GmbH „Strike Bike GmbH“ nennt, im Oktober 2007 eine selbstverwaltete Produktion durchgezogen hat, dem kann man diesen Namen nicht absprechen! Es ist auch jetzt ein „Arbeitskampf“: um 21 Arbeitsplätze.

Steht euer Betrieb in einem Zusammenhang mit anderen Radkollektiven in der BRD?

Jens: Wir stehen seit der Strike-Bike-Produktion vom Oktober 2007 im engen Kontakt zur Radspannerei Berlin-Kreuzberg. Westberlin gehört doch immer noch zur BRD, oder?

Wenn du zurückdenkst: Was würdet ihr bei einer Betriebsbesetzung anders machen, wenn ihr in der gleichen Lage wäret, wie vor einem Jahr?

Jens: Die 115-tägige fortlaufende Betriebsversammlung als Mittel einer dauerhaften Werksbesetzung war rein rechtlich gesehen schon sehr gut. Ohne diese Betriebsversammlungen hätte unser Ausharren auf dem Werksgelände sicherlich nicht 115 Tage und Nächte gedauert. Die rechtliche Absicherung durch Prüfung von Gewerkschaft und Anwalt war jederzeit gegeben. Eine Blockade zum Zweck der Behinderung des Abtransportes des von der MIFA Sangerhausen bereits 2006 erworbenen Materials, wäre zwar gut, aber rechtlich nicht vorteilhaft für uns gewesen.

Wir als Belegschaft waren einfach zu blauäugig und hätten schon viel früher die sich ankündigende Situation hinterfragen müssen. Bisher ging es ja immer bei uns irgendwie weiter. Dazu kommt bei vielen KollegInnen eine geradezu kollektiv geprägte Mentalität, eine leidenschaftliche Identifizierung mit der Arbeit und dem dabei hergestellten Produkt und z. T. der Angst vor tief greifenden Veränderungen.

Deshalb kam es genauso, wie es nun einmal gekommen ist. Viele ArbeiterInnen würden so etwa sicherlich nicht noch einmal machen, bzw. durchmachen wollen. Was wir natürlich heute anders machen würden, wäre die Pflege der solidarischen Kontakte während der 115 Tage und darüber hinaus. Wir hätten uns vielleicht mehr öffnen müssen, mit Veranstaltungen und Vorträgen in andere Städten und auch Bundesländer gehen müssen, um noch mehr Bürger zu erreichen und auf unsere Situation aufmerksam zu machen. Gerade heute, wo
wieder 21 Strike Biker der gerade gegründeten GmbH mit dem Rücken zur Wand stehen, sind Solidarität und damit einhergehend ein solidarisches Kaufverhalten bei der Internetaktion unserer neuen Räder überlebenswichtig (Infos auf www.strike-bike.de)

Inwiefern wurden eigentlich die KollegInnen durch die ganze Sache – im Nachhinein betrachtet – politisiert? Oder ist die Welle von linken Organisationen, Gruppen und Personen über sie hinweggeschwappt?

Jens: Natürlich ist unser Kampf um den Erhalt unserer Arbeitsplätze in erster Linie ein sozialer Arbeitskampf gewesen. Wer sich aber in diesem System mit dem nationalen oder internationalen Finanzkapital anzulegen versucht hat, für den ist klar: es ist automatisch und unausweichlich ein politischer Kampf gewesen. Vielen KollegInnen war diese Problematik vielleicht noch nicht so bewusst. In den 115 Tagen, aber speziell bei der Strike-Bike-Produktion, brach über uns eine Welle der Solidarität herein. Selbst ich, als sehr politisch motivierter und interessierter Mensch, hatte da manchmal so meine Schwierigkeiten. Bei uns damals war jedeR willkommen. Wir haben auch heute noch Kontakte zu einigen Parteien, Organisationen, Gruppen und natürlich auch Einzelpersonen. Der RSB mit seinem Strike-Bike-Film und dieses Interview sind ein gutes Beispiel. Abschließend kann und muss ich sogar sagen, dass der überwiegende Teil der Belegschaft von Bike Systems von der politischen Welle überrollt wurde. Es gab sogar welche, die haben sich ganz klein gemacht und auch noch geduckt!

Wie arbeitest du die turbulenten Ereignisse des letzten Jahres auf?

Jens: Zunächst gibt es ja immer noch zahlreiche Anfragen zu Veranstaltungen, wo wir über unseren Arbeitskampf berichten sollen. Es sind immer noch so viele, dass wir bei sehr vielen Veranstaltungen aus Zeitgründen absagen müssen. Es tut uns zum Teil sehr leid um jede abgesagte Veranstaltung, aber wir müssen eine neue Firma aufbauen. Ich stehe außerdem noch mit vielen damaligen UnterstützerInnen in Kontakt. Es gibt auch mehrere Ordner, wo fast alle wichtigen Artikel festgehalten sind. Natürlich ist es für uns sehr verwunderlich, denn wir waren uns der ganzen Tragweite nicht bewusst, dass unsere Betriebsbesetzung und unsere selbstverwaltete Produktion so eine Resonanz auslösen würden. Und: Wir werden die Geschichte aufarbeiten: Zurzeit schreiben wir ein Buch!

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