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Betrieb & Gewerkschaft

Schöne neue Callcenter-Welt

Von joe hill | 01.01.2004

Während anderswo Arbeitsplätze abgebaut werden, scheint eine Branche nach wie vor zu wachsen. Gerade Studierende und andere Menschen, welche nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können oder einfach nichts Besseres finden konnten, arbeiten dort für zumeist wenig Geld unter prekarisierten, d. h. ungeschützten Arbeitsbedingungen.

Während anderswo Arbeitsplätze abgebaut werden, scheint eine Branche nach wie vor zu wachsen. Gerade Studierende und andere Menschen, welche nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können oder einfach nichts Besseres finden konnten, arbeiten dort für zumeist wenig Geld unter prekarisierten, d. h. ungeschützten Arbeitsbedingungen.

Der Hauptgrund für die Entstehung von Callcentern ist darin zu finden, dass viele Unternehmen ihre Telefonabteilungen mit bisher fest angestellten Beschäftigten auflösten oder ausgliederten. Deren Aufgaben werden nun einer externen Firma übertragen, was zumeist billiger ist. In dieser neuen Branche gelten zumeist nicht mehr die durch Tarifverträge abgesicherten sozialen Standards und Regularien, die noch in den Kernbereichen der Wirtschaft bestehen. Arbeitsrechtliche Mindeststandards (bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung, Wochenend- und Nachtzuschläge) werden dabei häufig noch unterschritten, was dadurch begünstigt wird, dass die Fluktuation außerordentlich hoch ist. Niemand arbeitet dort gerne und lange. Viele Callcenter entlassen regelmäßig nach wenigen Monaten Tätigkeit die "Mitarbeiter" (dies gleicht einer "Probezeit" als Dauerzustand) – und erwerbslose Menschen gibt es ja schließlich viele.
Gewerkschaftsfreie Zone
Callcenter sind eine weitgehend betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zone. Wer stellt sich schon dort auf einen längeren Kampf ein, wo jede/r sofort Reißaus nimmt, wenn ein besserer Job winkt und nur ein Bruchteil fest angestellt ist. So genannte "flache Hierarchien" sorgen zumindest teilweise für eine gewisse Corporate Identity, ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der "eigenen" Firma. Dementsprechend jämmerlich sind die Löhne. 7,50 bis 9,50 Euro in der Stunde sind die (manchmal noch unterbotene) Regel. Für die im Sinne des Unternehmens erfolgreichen ArbeiterInnen winken allerdings noch Prämien – so für diejenigen, welche zum Beispiel Spaß daran haben, Menschen am Telefon Zeitschriftenabos, Lotterielose o.ä. aufzuschwatzen. Meistens muss mensch sich auch noch einem höllischen Arbeitstempo unterwerfen, um für den Grundlohn genügend "Kontakte" pro Stunde zu machen. Die Arbeit ist physisch so belastend (zumal es nur wenige, zumeist nicht bezahlte Pausen gibt), dass tägliche Arbeitszeiten von 4-6 Stunden nicht nur auf Grund des gerade von Studierenden benötigten Teilzeitcharakters, sondern vor allem wegen der nervtötenden Belastung an Telefon und Bildschirm kaum überschritten werden. Widerstand wird dadurch erschwert.
"Militante Untersuchung"
Gewerkschaften haben sich erst spät und häufig nicht aus eigenem Antrieb mit der Situation in Callcentern auseinandergesetzt. Lediglich einige alte ausgegliederte Telefonzentralen mit höherem Organisationsgrad stellen eine Ausnahme dar. Begünstigt wurde dieser Zustand auch noch durch die traditionelle Konzentration der Gewerkschaftsbürokratien auf Hochlohn- und Kernbereiche. Interessenvertretung und Widerstand von Lohnabhängigen äußern sich daher häufig am Rande oder außerhalb des DGB. Ein Beispiel hierfür ist die Berliner Gruppe Call-Center-Offensive (CCO); entstanden aus einer "militanten Untersuchung"1  Berliner Linksradikaler. In diesem wie in anderen Fällen gelang es dabei zumindest punktuell, die dort Beschäftigten über ihre Rechte und Möglichkeiten aufzuklären, in Einzelfällen kam es auch zu Kämpfen, in denen zumindest geringe Erfolge (wie Abfindungen bei Kündigungen) durchgesetzt werden konnten.Auch war die Tendenz zu beobachten, dass in Einzelfällen die Gründung von Betriebsräten gegen die Unternehmen durchgesetzt werden konnten. Damit verbunden war durchaus auch ein verstärktes Interesse an Gewerkschaften.
Junge Lohnabhängige
In Callcentern wie auch in anderen prekarisierten Bereichen ist ein ansteigender Teil von gerade jungen Lohnabhängigen beschäftigt. Daher ist es unumgänglich, auch dort eine Betriebsarbeit zu entwickeln. Dies kann sich auf Grund der oben geschilderten Zustände nicht immer in den traditionellen Formen vollziehen. Zwar ist es auch dort sinnvoll, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren. Doch das Umfeld mit einem Organisationsgrad von weit unter 10 Prozent und fehlender gewerkschaftlicher Tradition der dort Beschäftigten sorgt im Positiven wie im Negativen für Ausgangsbedingungen, welche fern bundesdeutscher gewerkschaftlicher Routine steht.

1 Militante Untersuchung, von italienischen Linksradikalen um die Zeitschrift Quaderni Rossi in den frühen 1960ern entwickelte Analyse- und Kampfmethode, betriebliche Situationen dadurch zu untersuchen indem mensch selbst dort arbeiten geht und Teil der dortigen Kämpfe wird.

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