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Geschichte und Philosophie

Rosa Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki

Von Ron Dibani | 01.12.2007

Im September und Oktober 1918 schrieb Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis eine Broschüre über die russische Revolution. Dafür benutzte sie nicht nur die deutsche, sondern auch die russische Presse jener Zeit, die von Freunden in ihre Gefängniszelle geschmuggelt wurde. Sie hat diese Schrift niemals abgeschlossen oder überarbeitet, da der Ausbruch der deutschen Revolution ihr die Freiheit brachte.

Im September und Oktober 1918 schrieb Rosa Luxemburg im Breslauer Gefängnis eine Broschüre über die russische Revolution. Dafür benutzte sie nicht nur die deutsche, sondern auch die russische Presse jener Zeit, die von Freunden in ihre Gefängniszelle geschmuggelt wurde. Sie hat diese Schrift niemals abgeschlossen oder überarbeitet, da der Ausbruch der deutschen Revolution ihr die Freiheit brachte.

Die erste Ausgabe dieser Broschüre wurde nach Rosa Luxemburgs Tod 1922 von ihrem Kampfgenossen Paul Levi herausgegeben. Diese Ausgabe war jedoch nicht vollständig, und 1928 wurde nach einem wiederaufgefundenen Manuskript eine neue Ausgabe veröffentlicht.

Rosa Luxemburg hat in diesen Aufzeichnungen die Oktoberrevolution und die Bolschewiki enthusiastisch unterstützt. Dies geht hervor aus dem Zitat aus eben dieser Schrift im Artikel von B.B. in der letzten Avanti.

Aber der gleiche Text enthält auch eine sehr scharfe und für mich berechtigte Kritik an Lenin und Trotzki in der Frage der Demokratie, die heute nach Stalinismus und kapitalistische Restauration Russlands, sich wie eine Prophetie der weiteren Entwicklung offenbart.

Rosa war klar, dass die durch den Verrat der westlichen Sozialdemokratie verursachte Isolierung der russischen Revolution, zu Verzerrungen in ihrer Entwicklung führen musste. Ohne internationale revolutionäre Unterstützung müssen „auch die größte Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen verwickeln.” Aber sie warnte gleichzeitig: „Das Gefährliche beginnt dort, wo sie [Lenin und Trotzki] aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungener Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.”
Die konstituierenden Versammlung
Ein wichtiger Punkt der Kritik Rosa Luxemburgs betraf die Auflösung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki. Sie schrieb: „Es ist eine Tatsache, dass Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der Konstitutionsversammlung stürmisch forderten […]. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten Schriftchen Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag, ,der Oktoberumschwung sei geradezu eine Rettung für die Konstituante´ gewesen, wie für die Revolution überhaupt. ,Und als wir sagten´, fährt er fort, ,dass der Eingang zur konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretellis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.´ Dieselben Führer, die die konstituierende Versammlung gefordert hatten, ließen sie am 6. Januar 1918 auflösen.”

Für Rosa war diese Entscheidung und ihre Begründung, eine Situation der Doppelherrschaft zu verhindern, ein Fehler der Bolschewiki. Sie hätten einfach Neuwahlen durchführen lassen sollen, die den aktuellen Stand des Bewusstseins und das wirkliche soziale Kräfteverhältnis repräsentiert hätten. Was Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre vorschlug, war eine Kombination der Sowjets und der konstituierenden Versammlung: „Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht”
Die Frage der Demokratie
Rosas Hauptkritik an den Bolschewiki zielte darauf ab, dass sie für die Einschränkung und Aushöhlung der Arbeiterdemokratie verantwortlich waren. „ Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats”1 Rosa meinte, die Bolschewiki seien von dieser Konzeption abgewichen: „Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, dass die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, welches dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück nicht so”.
Legitimität des Sozialismus
Der Sozialismus lässt sich für Rosa Luxemburg seiner Natur nach weder oktroyieren noch durch Ukase einführen. In ihrer Kritik berührt sie die heute hoch aktuelle Frage der Legitimität und Glaubwürdigkeit des Sozialismus in den Augen der Arbeiterklasse, der Bevölkerung. Niemand wird bestreiten können, dass für die überragende Mehrheit der Menschen heute die Vorstellung von der Legitimität einer Regierung mit seiner Wählbarkeit im Rahmen von allgemeinen Wahlen und das Stimmrecht aller, untrennbar verbunden ist. Gegen alle plumpe und ultralinke Kritik der bürgerlichen Demokratie, schreibt Rosa:
 „Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen.”

Rosa Luxemburg sagte voraus, dass das Proletariat in der Sowjetunion politisch enteignet werde: „Lenin und Trotzki haben an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution(en), wird zum Scheinleben, in der (dem) die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft …”

D
agegen setzte sie ihr berühmtes: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden”.

1     Wenn die Begriffe „Diktatur des Proletariats” und „sozialistische Demokratie” Synonyme sind, dann ist es kein Verrat am Marxismus den ersten Begriff, der auf sehr viele Menschen, aus sehr verständlichen Gründen abschreckend wirkt, zugunsten des Zweiten fallen zu lassen.
 

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