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Innenpolitik

Parolen und Perspektiven: Sind wir das Volk?

Von Oskar Kuhn | 01.09.2004

Die Montagsdemonstrationen und Kundgebungen haben Kabinett & Kapital aufgeschreckt. Unter der Parole “Wir sind das Volk” der 1989er Protestbewegung in der damaligen DDR bekunden noch beschäftigte und erwerbslose Lohnabhängige nun seit Wochen ihren Unmut über Hartz IV und die damit verbundenen schwerwiegenden Folgen.

Die Montagsdemonstrationen und Kundgebungen haben Kabinett & Kapital aufgeschreckt. Unter der Parole “Wir sind das Volk” der 1989er Protestbewegung in der damaligen DDR bekunden noch beschäftigte und erwerbslose Lohnabhängige nun seit Wochen ihren Unmut über Hartz IV und die damit verbundenen schwerwiegenden Folgen.

Dieser weitere ermutigende Schritt zum Protest und zur Eigeninitiative aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse und sozialer Initiativen verdient unsere volle Unterstützung. Es gilt den sozialen Protest zu vernetzen, zu internationalisieren und eine Gegenmacht aufzubauen.
Die Bourgeoisie hatte dies schnell verstanden. Die bürgerliche Medienmacht beeilte sich, ehemalige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler wie Vera Lengsfeld und Joachim Gauck aus der Versenkung auszugraben und Minister Clement bei dem Vorwurf, hier würde das historische Vorbild von 1989 missbraucht und lediglich (!) eine Plattform für rechte und linke Parolen geboten, zu sekundieren. Doch so lächerlich dieser Versuch war, den Protest gegen allgemeinen Sozial- und Lohnabbau einzudämmen, es stimmt schon: Die Polarisierung der Klassenkräfte durch Sozialabbau stellt einmal mehr die Frage “Nach rechts oder links?” auf die Tagesordnung. In diesem Zusammenhang ist in der Tat die Parole “Wir sind das Volk” kritisch zu hinterfragen.

Parole?

Leo Trotzki äußerte einst zur Bedeutung von Parolen: Sie seien unzulässige Verallgemeinerungen politischer Programme, aber als solche natürlich von unschätzbarem Wert! In der Tat, eine Parole ersetzt nicht das Programm, aber sie erzeugt Zusammengehörigkeit Betroffener und verleiht der politischen Kräftekonstellation eine gewisse Dynamik. Dieser Schuss kann allerdings auch nach hinten losgehen. Im vorliegenden Fall – “Wir sind das Volk” – liegt die Unzulänglichkeit und kontraproduktive Seite der Parole auf der Hand.

Aus der Vergangenheit

Das Volk ist eine Kategorie der Vergangenheit. Das Volk war geschichtlich der Dritte Stand zu Zeiten der bürgerlichen Revolutionen. In gegensätzlicher Stellung zu Klerus und Adel umfasste der Dritte Stand damals die heutigen gegensätzlichen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft: Bourgeoisie, Kleinbürgertum und ArbeiterInnenklasse. Wer heute “Wir sind das Volk” ruft, appelliert an den “Gemeinsinn” einer längst vergangenen Epoche des Klassenkampfes.
In dieser Logik gerät die Parole zum Bittstellertum. 1905 führte der Pope Gapon die politisch noch unreife russische ArbeiterInnenklasse zum Zarenhof, um an die Gnade der Mächtigen zu appellieren. Diese Demutsgeste wurde von den Gewehren und Säbeln der zaristischen Kosaken unterbunden und endete für zahllose Arbeiterinnen und Arbeiter im Tod. Auch wenn heute (noch) nicht geschossen
wird: Appelle an die Herrschenden führen zu nichts!

Ausgrenzend

“Wir sind das Volk” grenzt zahllose MigrantInnen und Menschen ohne deutschen Pass aus. Zudem ignoriert die Parole die internationale Dimension des Sozial- und Lohnabbaus. Identität bedarf immer der Abgrenzung; hier besteht die reale Gefahr rassistischer Ausgrenzung und Manipulation durch faschistische Kräfte. 1923 während der großen Inflation und Ruhrkrise machten sich faschistische Kreise um den nationalistischen Terroristen Schlageter die Konfusion der damaligen KPD-Führung in dieser Frage zu Nutze und konnten unsäglichen Einfluss auf die Protest- und Streikbewegung an Rhein und Ruhr gewinnen.
Schließlich unterschlägt die Parole die zentrale Problematik der Auseinandersetzung um Hartz IV und allgemeiner der Agenda 2010. Es ist der entschiedene Klassenkampf von oben, der die Menschen empört und deshalb auf die Straße bringt. Es ist die antagonistische Stellung, die der Bundeskanzler und der Konzernchef auf der einen Seite und die Verkäuferin, der Erwerbslose und der Migrant auf der anderen Seite einnehmen und die es aufzuheben gilt. Der Konzernchef und die Verkäuferin bekommen per Pass bescheinigt, dass sie zum gleichen Volk gehören. Doch ihre Interessen sind gegensätzlicher Natur. Deshalb brauch die sich formierende Protestbewegung Parolen, die genau den
Tatbestand des Klassenkampfs hervorheben.

Keine Klassenversöhnung !

Wie gesagt, Parolen alleine entscheiden nicht über das Schicksal der heutigen Auseinandersetzungen. Aber sie sind ein gar nicht so schlechtes Abbild der Stoßrichtung der Bewegung. Deshalb muss Schluss sein mit Parolen nationaler Borniertheit und klassenversöhnlerischer Appelle. Die meisten Menschen sind sich dieser Bedeutung vielleicht nicht bewusst, aber der Fortgang der Ereignisse wird ihnen schmerzhaft verdeutlichen, dass die Herrschenden noch stets auf das Volk gepfiffen haben, während sie nichts so sehr fürchten wie die revolutionäre Gärung der ArbeiterInnenklasse!

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