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Thesen der ISO zur Migration

Offene Grenzen passen nicht zum Kapitalismus

Von ISO | 11.04.2019

Fiktives Gespräch zwischen einem ISO-Mitglied und einem Freund namens Martin, der nicht mehr Die Linke, sondern die AfD wählt – und darüber ins Grübeln gekommen ist.

Martin: Ihr Linken mit eurer Humanitätsduselei kriegt doch gar nicht mehr mit, wie das Leben der einfachen Leute inzwischen aussieht. Früher verstanden sich Linke mal als politischer Ausdruck der Arbeiterbewegung, die soziale Frage stand für sie im Mittelpunkt. Heute ist euch jede gesellschaftliche Randgruppe wichtiger.

ISO: Flucht und Migration sind keine gesellschaftlichen Randthemen, sie sind angesichts der Ungleichgewichte, die die kapitalistische Globalisierung geschaffen hat, ein zentraler Teil der sozialen Frage auch des 21. Jahrhunderts. Die Arbeiterbewegung ist schon immer auch aus vielen Flüchtlingen erwachsen: Erinnert sei an die Millionen polnischen Arbeiter, die früher ins Ruhrgebiet strömten. Erinnert sei auch an die sechs Millionen deutsche Wirtschaftsflüchtlinge bis 1820, die in den USA eine wichtige Rolle beim Aufbau der dortigen Gewerkschaftsbewegung spielten.

Wir produzieren und konsumieren heute im Weltmaßstab, da bleibt es nicht aus, dass auch die Arbeitsmärkte global werden. Im Gegensatz zu unseren europäischen Arbeitsmärkten sind die globalen Arbeitsmärkte aber nicht reguliert. Das waren sie bei uns vor 150 Jahren auch nicht, und es bedurfte vieler bitterer Kämpfe der Arbeiterbewegung, um das zu erreichen. Vor dieser Herausforderung stehen wir jetzt wieder, nur ist der Maßstab heute ein internationaler und der Adressat der Forderungen bleibt unsichtbar hinter einer Aktionärswand verborgen. Das macht die Sache so schwer.

Richtig ist, dass viele Linke lange Zeit ihren Glauben in die Kraft der Arbeiterklasse verloren haben, aber ich wage die Feststellung, dass sich das gerade ändert.

Martin: Man kann die Grenzen für den Personenverkehr auch wieder dicht machen, vor Schengen ist auch nicht jeder reingekommen.

ISO: Ja, aber vor Schengen, das gibt es seit 1995, gab es auch keine WTO, keine Freihandelsabkommen mit Drittstaaten, keine Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Dienstleistungen und keine Klimakatastrophe.

Martin: Gegen all diese Punkt ist die Linke in den Nullerjahren auf die Straße gegangen: gegen Freihandelsabkommen, freien Kapital- und Dienstleistungsverkehr. Nur beim freien Personenverkehr, da sollen die Einwände gegen die kapitalistische Globalisierung nicht gelten? Dabei ist die Absicht doch durchsichtig: Für das Kapital ist das eine weitere Maßnahme, um den Arbeitsmarkt zu deregulieren und die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen anzuheizen.

Richtig, und auf die Lohnkonkurrenz hat die Arbeiterbewegung immer zwei Antworten gefunden, eine fortschrittliche und eine rückschrittliche: Die rückschrittliche war, dass sie Teile ihrer eigenen Klasse von bestimmten Rechten ausgeschlossen hat. Das augenfälligste Beispiel dafür ist die sog. „Schmutzkonkurrenz“ der Frauen – es ist noch gar nicht so lange her, dass Männer versucht haben, zu verhindern, dass „ihre“ Frauen arbeiten gingen. Sie denken, wenn sie das Angebot an Arbeitskräften knapp halten, haben sie auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen. Aber das ist ein Trugschluss.

Die fortschrittliche Antwort ist, wenn die Arbeiterbewegung Regelungen durchsetzt, von denen alle Lohnabhängigen etwas haben – z. B. sozialstaatliche oder arbeitsrechtliche Regelungen, die per Gesetz oder per Richterrecht gelten.

Mit der Personenfreizügigkeit ist es genauso: Dass Menschen sich frei bewegen und niederlassen dürfen, sollte ein Menschenrecht sein. Ist es aber nicht, weil das Kapital den Arbeitsmarkt kontrollieren will. Kontrolle heißt, es dürfen nur die zuwandern, die man als Arbeitskräfte gebrauchen kann, die anderen nicht. Das führt zu Rassismus, insbesondere dann, wenn die Arbeit knapp ist, da sind wir gegen.

Martin: Wie willst du denn die Lohnkonkurrenz ausschalten, wenn alle zuwandern dürfen?

ISO: Indem du dafür kämpfst, dass alle die gleichen Rechte haben und diese nicht nur für einen Teil der Lohnabhängigen gelten. Gleiche Recht bei uns, indem die Flüchtlinge nicht länger in Ghettos gesperrt werden und Arbeitsverbot bekommen, solange sie nicht wenigstens eine Duldung haben; gleiche Rechte aber auch für Migrant*innen, was Lohn und Arbeitsbedingungen betrifft. Und gleiche Rechte im internationalen Maßstab, durch staatenübergreifende soziale Regulierungen und gemeinsame Arbeitsrechte – europaweit, aber auch über Instrumente wie die ILO.

Martin: Ihr redet aber von offenen Grenzen. Ihr macht euch doch was vor, wenn ihr solch eine Forderung aufstellt, das kann doch kein Land bewältigen.

ISO: Wir machen einen Unterschied zwischen offenen Grenzen und Niederlassungsfreiheit bzw. Personenfreizügigkeit. Wir sagen: Niederlassungsfreiheit ist ein soziales Menschenrecht, damit dies aber Wirklichkeit wird, braucht es eine Angleichung der Lebensverhältnisse und grenzübergreifende soziale Regelungen. Das ist der Weg, um die wachsende soziale Ungleichheit auf der Welt zu bekämpfen. Die bekämpfen wir nicht allein dadurch, dass wir bei uns für mehr Gerechtigkeit sorgen. Wir müssen unseren Blick auch über die Grenzen hinaus richten.

Offene Grenzen ist eine Losung, die sich gegen die inhumanen Antworten der Herrschenden auf die Fluchtkatastrophen wendet, das ist das Unterstützenswerte daran. Diejenigen, die sie in den Vordergrund stellen, machen sich aber in der Regel keinen Kopf darüber, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit sie in Zukunft einmal Wirklichkeit werden kann.

Martin: Das ist doch alles Zukunftsmusik. Wir haben selber nicht genug Arbeit im Land, was holen wir uns da noch Fremde rein?

ISO: Schon mal darüber nachgedacht, dass wir seit 20 Jahren unsere Arbeitsplätze nach Asien exportieren? Die Textilindustrie, die Stahlindustrie, den Bergbau und und und… Müssen wir unsere Kleidung in Bangladesch herstellen lassen? Warum lassen wir es zu, dass Auto- und Elektronikteile in China produziert werden? Doch nur, weil dort die Arbeitskraft so viel billiger ist als hier. Das ist doch Lohnkonkurrenz vom feinsten, die gibt es doch längst real, und zwar weltweit. Wo gibt es die Massenbewegung dagegen? Was tun Gewerkschaften dagegen? Nur wenn Flüchtlinge hierherkommen, dann machen die Rechten großes Geschrei.

Martin: Weil das Zuwanderung in unsere Sozialsysteme ist. Außerdem, was willst du machen, wenn die Kapitalisten hier die Produktionsanlagen abbauen?

ISO: Die Betriebe in die eigene Hand nehmen und anfangen, sinnvolle Produkte für den heimischen Markt herzustellen, wäre eine Idee. Eine andere Idee ist, dass wir die Arbeiter- und Gewerkschaftskämpfe in den osteuropäischen und asiatischen Ländern unterstützen, damit die Arbeitskraft dort teurer wird und die Arbeiter ebenso viele Rechte bekommen wie wir. Wenn es das Lohngefälle nicht mehr gibt, gibt es auch keinen Grund, Produktion zu verlagern.

Und was die Zuwanderung in die Sozialsysteme betrifft: Wenn du die Migrant*innen hier arbeiten lässt, dann zahlen die ein. Aber derzeit wird ja alles unternommen um sie auszusperren, das kostet nicht nur Geld, das schafft auch Frust, gesellschaftliche Spannungen und Kriminalität. Wenn wir sie in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt integrieren würden, wenn wir ihre Fähigkeiten nutzen würden, wären sie eine echte Bereicherung.

Martin: Weißt du, was mich richtig ärgert? Um die Flüchtlinge wird ein Riesenbuhei gemacht, da stehen auf einmal Milliarden zur Verfügung. Von der Einwanderung in die Sozialsysteme mal ganz abgesehen – die kriegen ja auch Hartz IV –, die Kommunen müssen richtig für die zahlen: Wohnungen, Bildungsangebote, Taschengeld, die ganze Palette. Das Geld fehlt bei der Sanierung von Schulen, beim Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, usw. Es gibt so viele Ausgegrenzte und Arme in Deutschland, die sind nur höchst selten eine Zeile wert, geschweige, dass für sie ein Cent mehr ausgegeben wird. Die Bundesregierung schwimmt im Geld, aber zu einer armutsfesten Kindergrundsicherung kann sie sich nicht aufraffen. Integriert doch erstmal diese Leute, bevor ihr euer Herz für die Flüchtlinge öffnet.

Da verkündet die Kanzlerin vollmundig: „Wir schaffen das“. Nix schafft sie. Sie kriegt nicht mal die eigene Verwaltung in den Griff. In 13 Jahren Kanzlerschaft hat sie es nicht hingekriegt, die Renten armutsfest zu machen, und 30 Jahre nach der Wende gibt es für Ostdeutschland immer noch keine industrielle Perspektive. Und da wollt ihr Millionen Flüchtlinge intergieren? Geh, das glaubst du doch selber nicht…

ISO: Wir könnten es schaffen. Das Land ist reich, die Kassen des Bundes, sogar der meisten Länder und vieler Städte und Gemeinden quellen über, selbst die Rentenversicherung sitzt auf Milliarden Überschüssen. Und in der Bevölkerung gibt es eine Riesenhilfsbereitschaft. Alle Welt redet über die 6,8 Millionen AfD-Wähler*innen, in der Flüchtlingshilfe sind aber doppelt so viele engagiert, und das dauerhaft. Und die Regierung tut nichts, um diese Hilfsbereitschaft zu stärken, sie ist ihr eher ein Dorn im Auge, weil da etwas passiert, was sie nicht unter Kontrolle hat.

Du hast ja Recht. Diese Regierung schafft die Integration der Flüchtlinge nicht – aus denselben Gründen, weshalb sie es auch nicht schafft, die Armut wirksam zu bekämpfen. Im Grunde wollen sie das gar nicht. Denn trotz aller Rhetorik ist ihre oberste Leitlinie nicht Hilfe für Menschen in Not, sondern die Auslese nach ökonomischer Nützlichkeit für das Kapital. Diese Leitlinie gilt nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Einheimische. Von den Auswärtigen sollen nur die hierherkommen dürfen, die die Wirtschaft gebrauchen kann. Und auch die Hartz-IV-Gesetze sind nur dazu da, die Beschäftigten zu disziplinieren und die Konkurrenz zwischen ihnen zu verschärfen. Was hier abgeht, erkennst du daran, dass im Juni tagelang ein angeblicher „BAMF-Skandal“ durch die Medien geisterte, eine Behördenleiterin abgesetzt wurde und sich später herausstellte, dass an der Sache nichts dran war. Aber dass gerichtlich nachweislich 250.000 Hartz-IV-Bescheide falsch ausgestellt wurden, scheint nur Betroffene zu interessieren.

Hätte Merkel sich tatsächlich und dauerhaft für eine wirkliche Willkommenspolitik eingesetzt, statt auf den Standpunkt der ökonomischen Nützlichkeit einzuschwenken, wäre sie nicht Bundeskanzlerin geblieben. Das wäre ein Bruch mit der Kapitallogik gewesen.

Deswegen sagen wir: Man kann den Flüchtlingen nicht menschenfreundlich begegnen und gleichzeitig große Teile der eigenen Bevölkerung vernachlässigen und in die Abwärtsspirale treiben. Das Umgekehrte gilt natürlich genauso: Man kann kein Programm für Sozialreformen auflegen, das nur für den einheimischen Teil der Bevölkerung gilt, das geht nur in einem Apartheidstaat. Die Flüchtlingsfrage ist von der sozialen Frage nicht zu trennen. Ein rein humanitärer Ansatz greift ebenfalls zu kurz, er verkennt, dass es hier nicht nur um Hilfe, sondern um gleiche soziale Rechte und Chancen geht. Und die lassen sich mit den kapitalistischen Prinzipien Profit und Konkurrenz nicht vereinbaren.

Martin: Dann können wir aber nicht als erstes die Grenzen aufmachen und ganz Afrika zu uns holen. Die sitzen auf gepackten Koffern, wenn wir da nicht einen Riegel vorschieben, können wir uns unseren Lebensstandard hier abschminken.

ISO: Die weitaus größte Zahl derer, die flüchten, ziehen in andere Regionen ihres eigenen Landes bzw. in Nachbarländer, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Das größte Flüchtlingslager der Welt ist mit ca. 400 000 Menschen in Kenia. Zu uns kommt nur ein Bruchteil. Blamieren wir uns da nicht vor der Türkei, dem Libanon oder Jordanien, oder jetzt Mexiko, die Millionen Flüchtlinge aufnehmen, obwohl diese Länder selbst arm sind, während wir für uns in Anspruch nehmen, ungestört vom Weltgeschehen unseren Reichtum konsumieren zu dürfen?

Kein Mensch nimmt freiwillig die Strapazen einer Flucht auf sich, das sind schließlich keine Touristen. Es ist und war immer Zwang, der die Menschen dazu treibt, alles, was sie haben, zu verlassen und sich in eine unbekannte Zukunft aufzumachen.

Die Rechnung, dass die Versorgung von Geflüchteten Arme noch ärmer mache, geht nicht auf: Kämen tatsächlich weniger Geflohene, bekäme ein Hartz-IV-Empfänger nicht einen Cent mehr, geringe Löhne würden deshalb nicht steigen, und Mittelständler hätten nicht weniger Angst vor dem sozialen Abstieg. Hinter diesen Sorgen steht ein anderes Problem: die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich.

Martin: Sie kommen jetzt nicht zu uns, weil die Wege so weit und wir so ungastlich sind. Aber wenn wir die Grenzen aufmachen und auch noch legale Fluchtwege für sie schaffen, dann kommen sie alle.

ISO: Das wird es nicht geben. Offene Grenzen passen nicht zum Kapitalismus. Der Widerpart zum Schengenraum ist Frontex, eine bewaffnete Grenze.
Der Kapitalismus braucht Grenzzäune, weil er ein soziales Gefälle braucht, auch und gerade international. Das Kapital beansprucht für sich weltweit grenzenlose Offenheit, für die Freizügigkeit der Menschen aber sollen enge Kriterien gelten: Hast du eine gute Ausbildung, genügend Geld, bist du jung genug usw. Das gilt sogar innerhalb der EU, obwohl die Personenfreizügigkeit zu den „vier Freiheiten“ im EU-Vertrag gehört.

Die Forderung nach Niederlassungsfreiheit oder offenen Grenzen ist deshalb, wenn man sie durchdenkt, immer auch eine Forderung, den Kapitalismus abzuschaffen, damit ein menschliches Miteinander möglich wird. Für jemanden, der nach Systemkritik sucht, wäre das doch was, oder?

Martin: Trotzdem können wir nicht alle aufnehmen. Irgendwo muss es eine Grenze geben.

ISO: Pass mal auf. Wenn die heute zu uns kommen, dann auch deshalb, weil wir bei ihnen sind. Chemiegiganten wie Bayer nehmen ihnen ihr Land weg und entziehen Kleinbauern dadurch ihre Lebensgrundlage. Europäische Flotten fischen die Fanggründe vor Afrikas Küsten leer und nehmen den dortigen Fischern die Arbeit und der Bevölkerung ein Grundnahrungsmittel weg. Somalia ist ein Beispiel dafür, die mussten sich dann auf die Piraterie verlegen und werden jetzt von europäischen Soldaten als Terroristen gejagt.

Beim alltäglichen Einkauf profitieren wir von den extrem niedrigen Löhnen der Näherinnen in Bangladesch und der Kaffeepflückerinnen in Westafrika. Mit unserer abgetragenen Kleidung und abgelaufenen Lebensmitteln machen wir ihre lokalen Märkte kaputt. Wir plündern ihre Rohstoffe und kippen ihnen dafür unseren Müll vor die Nase.

Nach wie vor ist es so, dass wir die Länder des Südens, und besonders Afrika, hauptsächlich als Rohstoff- und Agrarlieferanten, bestenfalls noch als Hersteller von Vorprodukten für unsere Industrie behandeln. Wir zwingen ihnen diese Wirtschaftsbeziehungen geradezu auf, u. a. durch Freihandelsabkommen. Sie müssen dann für den Export nach Europa (oder in die USA) produzieren, während sie nicht mal genug für den eigenen Bedarf herstellen können.

Seit 120 Jahren nennt die Linke solche Beziehungen Imperialismus. Er produziert Armut und Perspektivlosigkeit, noch nie war die soziale Ungleichheit auf der Welt so groß wie heute, und daran haben die Länder des globalen Nordens ein großes Maß an Mitschuld.

Diese Mitschuld gibt es sogar ganz unmittelbar: Die große Flüchtlingswelle 2014/2015 wurde von den westlichen Ländern indirekt ausgelöst, weil sie der UN-Flüchtlingshilfe schlicht die Gelder für ihre Arbeit gestrichen haben. 
Im Dezember 2014 musste das Welternährungsprogramm die Versorgung von 1,7 Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge wegen Geldmangel einstellen. Mit Ausnahme der Niederlande haben alle EU-Länder die Zahlungen an das Programm 2015 heruntergefahren. Deutschland senkte die Hilfe von 301 Millionen auf 143 Millionen.

Martin: Deswegen sagen ja auch alle: Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.

ISO: Aber meistens ist etwas anderes damit gemeint. Wenn die Regierung davon spricht, Fluchtursachen zu bekämpfen, dann will sie sich zur Schiedsrichterin in den internen Streitigkeiten eines Landes aufspielen, etwa in Mali, damit sie ihre Waffen dahin verkaufen kann. Maßnahmen zur Friedenssicherung und Konfliktprävention gelten heute als entwicklungsförderliche Maßnahmen und können als solche abgerechnet werden, damit werden Waffenlieferungen zu einem Teil der Entwicklungshilfe. Die Grünen sind da nicht besser, die haben den humanitären Imperialismus im Jugoslawienkrieg geradezu erfunden.

Wenn wir wirklich Fluchtursachen bekämpfen wollten, wäre die erste und wirksamste Maßnahme die, dass wir diese imperialistischen Produktionsverhältnisse, die den größten Teil der Menschheit zwingt, für den Reichtum der westlichen Welt (und da hauptsächlich der Wenigen) zu produzieren, abschaffen. Das meint für die Länder des Südens den Boden denen, die ihn bearbeiten, und eine eigenständige, nachhaltige industrielle Perspektive, die an den Interessen des Landes ausgerichtet ist und nicht dem Westen als verlängerte Werkbank dient. Und wir im Norden stellen die Güter unseres täglichen Bedarfs wieder selber her und schicken den Joghurtbecher nicht dreimal um die Erde, bevor er auf unserem Teller landet. Wir müssen auch unseren Konsum zum Thema machen, wenn wir Fluchtursachen bekämpfen wollen.

Martin: Geht es auch ’ne Nummer kleiner? Das ist ja arg weit weg von dem, was wir hier und heute beeinflussen können…

ISO: Das ist die einzige wirklich humanitäre Alternative zum Dauerkrieg gegen die Flüchtlinge.

Wenn du an diesem internationalen System der Plünderung der Ressourcen und der Natur nichts änderst, bekämpfst du keine einzige Fluchtursache: weder den Klimawandel, noch die Kriege, noch die Armut. Dann kommen immer neue Wellen von Flüchtlingen. Du treibst nur den Preis für sie in die Höhe. Seit dem Jahr 2000 sind im Mittelmeer 35.000 Menschen auf der Flucht ums Leben gekommen. Kannst du dir das vorstellen? Wollen wir das dulden? Und glauben wir im Ernst, das würde unsere Gesellschaften nicht zutiefst entmenschlichen, wenn wir Flüchtlinge nur als Eindringlinge behandeln? Wo bleibst du denn dann mit deinen sozialen Forderungen?
Und es wäre nicht einmal besonders effektiv: Denn sie sind potentiell viel mehr als wir, und es gibt keine Grenze, die man nicht überrennen kann. Willst du sie dann alle erschießen? Das kann nur in Kriegen enden.

Genauso wie der Klimawandel sagen uns die Flüchtlinge, dass ein wirklicher Systemwechsel fällig ist, nicht nur so ein von Wutbürgern inszenierter, damit ein paar Leute an die Macht kommen, die sonst keine Chance hätten.

[Pause]

Der größte Teil dessen, was wir konsumieren, wird nicht bei uns hergestellt; wir beanspruchen für uns Rohstoffe und Arbeitskräfte anderer Kontinente; wir pusten das meiste CO2 in die Luft und sind verantwortlich dafür, dass die Meeresspiegel steigen und Menschen in ärmeren Ländern deshalb ihr Land verlassen müssen; wir kippen unseren Plastikabfall in die Meere, dass die Fische daran verhungern und sind verantwortlich für sich häufende Wirbelstürme, Dürren, Überschwemmungen und sonstige Folgen des Klimawandels. Das alles sind globale Probleme, wir können sie nur im globalen Maßstab lösen.

Selbst dann, wenn wir zurückfinden zu regionalen Kreisläufen, ist es immer noch so, dass die natürlichen Ressourcen auf der Welt ungleich verteilt sind und wir kooperativ über deren Nutzung entscheiden müssen, nicht in Konkurrenz zueinander oder gar im Krieg gegeneinander.

Fakt ist, dass sich das Modell der Nationalstaaten überlebt hat, die Entwicklung der Produktivkräfte ist zu weit fortgeschritten, als dass jedes Land die großen Entscheidungen selbstgenügsam für sich treffen könnte, ohne auf die Anderen Rücksicht zu nehmen.

Wir können das Rad nicht zurückdrehen, wir können nur nach vorne schauen. Und das heißt: Wir müssen die Konzerne (das sind zumeist westliche) angreifen für die Plünderungen und Verwüstungen, die sie anstellen; wir müssen gegen sie gemeinsam und grenzübergreifend den Widerstand organisieren; wir müssen für gleiche soziale und politische Rechte auf der Welt kämpfen; und wir müssen Modelle der sozialen Sicherung finden, die jenseits des Nationalstaats liegen.

Für alle diese Aufgaben gibt es heute schon Ansätze, aber wir müssen daraus eine Zukunftsvision machen.

Natürlich unterstützen wir unterhalb dieser Ebene alles, was dient:

  • der vollständigen Wiederherstellung des Asylrechts – d. h. u.a. Abschaffung der Residenzpflicht, keine Unterbringung in Lagern länger als zwei Wochen usw.
  • der unverzüglichen und vollständigen Integration der Flüchtlinge, insbesondere in den Arbeits- und Wohnungsmarkt;
  • der Abschaffung von Frontex und der Fluchtbekämpfungspolitik der EU-Regierungen;
  • der Unterstützung der Seenotrettung und der andere Flüchtlingshilfeinitiativen.

Die Welthandelsorganisation WTO, der Währungsfond IWF und die Weltbank dienen nur dazu, die Strukturanpassungsprogramme im Interesse des Kapitals durchzusetzen, sie gehören aufgelöst.

Hier der ganze Text als Flyer zum Herunterladen.

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