Ein Durchbruch für die Linke?

Foto: Cory Doctorow, Democratic Socialists of America jacket from San Francisco, Bernie Sanders Rally, LA Convention Center, Los Angeles, California, USA, CC BY-SA 2.0

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US-Wahlen 2020

Ein Durchbruch für die Linke?

Von Pierre Beaudet | 19.11.2020

Im Verlauf der letzten Tage bestätigt sich der Sieg von Joe Biden, so dass die Obstruktionspolitik von Donald Trump immer schwieriger wird. Die strategischen Kerne des US-amerikanischen Establishments, darunter viele der republikanischen Abgeordneten, bedeuten ihm, er solle sich klein machen. Außerdem ist es Trump, obwohl 70 Millionen Menschen für ihn gestimmt haben, bisher nicht gelungen, eine Massenbewegung gegen das, was er als Betrug bezeichnet, auszulösen. Eine Post-Trump-Ära bricht an, die die Lage für die Galaxie der linken Bewegungen in den Vereinigten Staaten verändern dürfte.

Ein zaghafter, aber bedeutender Durchbruch für die Linke

Die Wiederwahl der linken Demokratinnen Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar sowie der beiden Frauen palästinensischer Herkunft Rashida Tlaib und Iman Jodeh zeigte den Erfolg einer langfristig angelegten Arbeit, die ihnen eine ziemlich starke lokale Basis verleiht. Einige weitere Amtsträger*innen, die mit den Democratic Socialists of America (DSA) in Verbindung stehen, werden dazu beitragen, dass diese Partei in Kongressdebatten und in den Medien ein größeres Gehör bekommt. Den DSA ist es gelungen, dass zehn Mitglieder, ebenfalls unter dem Label der Demokratischen Partei, in den Senat und in das Repräsentantenhaus des Staates New York einziehen. Bemerkenswert ist ferne, dass auch in Chicago mehrere DSA -Mitglieder in den Stadtrat gewählt worden sind.

Für Meagan Day, die der nationalen Leitung der DSA angehört[1], sind diese Fortschritte ein Beleg für das Wachstum der größten linken Bewegung seit Jahrzehnten, was sich auch am Mitgliederzuwachs zeigt: „Allein in den letzten Wochen des Wahlkampfes haben wir fast 10.000 neue Mitglieder registriert“, was eine wichtige, aber immer noch kleine Basis in einem Land mit 320 Millionen Menschen darstellt.[2] Vielleicht wichtiger als die Wahl selbst, sagt Meagan, ist die Tatsache, dass die Kampagnen dazu dienten, eine organisierte Volksbasis aufzubauen, ein Projekt, „das Jahrzehnte brauchen wird“, warnt sie. Nach Ansicht der DSA-Aktivistin „müssen wir den Klassenkampf in die Wahlen einbringen und Wahlfragen mit Arbeiter- und Gemeinschaftskämpfen verbinden“. Sie weist darauf hin, dass der Fortschritt der DSA vor allem den neuen Generationen zu verdanken ist, die manchmal als „Arbeitslose mit Diplom“ bezeichnet werden; sie leben unter sehr prekären Bedingungen, wie sie in der Wirtschaft vorherrschen, sie führen dazu, dass der soziale Status der Mittelschichten absinkt. „Es wäre notwendig, sich mit der Arbeiterbewegung zu verbinden und vor allem die Verbindung zu den radikalisierten Bewegungen in den afroamerikanischen Gemeinschaften herzustellen.“ „Keimzellen dieser Konvergenz sind in den Mobilisierungen der Black Lives Matter entstanden, die sehr multirassisch waren.“

Trump wurde geschlagen, aber die Rechte hat gewonnen

In den letzten Jahren waren die DSA am Versuch von Bernie Sanders beteiligt, die Demokratische Partei zu transformieren, die seit den 1980er Jahren insgesamt nach rechts gerückt ist.[3] Der große Wendepunkt kam unter Bill Clinton in den 1990er Jahren, als sich die Partei von ihren traditionellen Bastionen in der Arbeiterklasse und der afroamerikanischen Gemeinschaft gelöst und zum Champion der neoliberalen Umstrukturierung geworden ist. Der Schwerpunkt des politischen Raumes verlagerte sich in dieser Zeit stark nach rechts, sowohl in wirtschaftlichen und sozialen Fragen als auch bei der Verteidigung des amerikanischen Empire.

Wir machen uns keine Illusionen. Biden wird den gleichen neoliberalen und imperialistischen Weg weitergehen.

Meagan Day

Mit der Wahl von Barak Obama ist wieder eine gewisse Hoffnung aufgekommen, aber der erste schwarze Präsident entschied sich nach dem Crash von 2008 dafür, die Wall Street zu retten und die repressive Struktur unangetastet zu lassen, die in den Übergriffen der Polizei, dem massenhaften Einkerkern und der Jagd auf Migrant*innen ohne Papiere zum Ausdruck kommt.

Nach der Amtszeit von Obama gab es einen Versuch, mit Bernie Sanders einen anderen Kurs einzuschlagen, Hunderttausende junge Menschen setzten sich dafür ein; der Versuch scheiterte jedoch schließlich, denn es gelang dem demokratischen Establishment, Joe Biden durchzusetzen.[4] „Wir machen uns keine Illusionen“, erklärt Meagan. „Biden wird den gleichen neoliberalen und imperialistischen Weg weitergehen. Seine knappe Mehrheit spiegelt die Tatsache wider, dass die Menschen eher gegen Trump als für ein echtes Projekt der Erneuerung gestimmt haben.“ In der Tat wiederholt Biden selbst immer wieder: „Es wird keine grundlegenden Veränderungen geben.“

Da die Präsidentschaftswahl viel Aufmerksamkeit erregt hat, „vergessen wir zu festzustellen, dass die republikanische Rechte im Kongress sehr stark geblieben ist (sie dominiert weiter den Senat) und sogar ihre Hochburgen in mehreren Staaten behalten hat. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Mehrheit der Weißen für Trump gestimmt hat.“

Trumpismus ohne Trump?

Das alles bedeutet, dass das Spiel nach Ansicht mehrerer Beobachter noch lange nicht aus ist. Es ist möglich, dass die ungehemmte Rechte, sofern sie sich nicht in internen Kämpfen verzettelt, das Projekt Trumpismus ohne Trump neu definiert. Mitch McConnell, der Senator von Kentucky und Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, könnte als Schattenregierung agieren und Biden zwingen, in Bezug auf seine wenigen Versprechen wie zum Beispiel die Wiedereinführung der Krankenversicherung einzuknicken.

Wie ist der Bruch denkbar?

Kali Akuno, der in Jackson (Mississippi) ein bedeutendes Netzwerk von Verbänden und Kooperativen leitet[5], ist der Ansicht, dass die Linke weiter gehen und aufhören muss, vom Wahlkampf besessen zu sein. Er hält es für möglich, „to transform the narrative“ (ein anderes Narrativ zu finden) und auf die Massenbewegung zu setzen, die nach der Ermordung von George Floyd entstanden ist. „Wir konnten feststellen, dass Tausende Menschen bereit sind, weiter zu gehen, bis hin zu autonomen, militanten Aktionen, Menschen, die nicht zögern, die so genannten Gesetze beiseite zu schieben und in Richtung Bildung von Ansätzen von Volksmacht zu gehen“, wie es in Jackson geschah. „Ein Dialog zwischen dem BLM-Milieu und den DSA ist notwendig, um zu vermeiden, dass alle nur vor sich hin arbeiten.“

Wir müssen ein sozialistisches Projekt mit Millionen von Menschen aufbauen, was möglich ist, wenn wir den Sektengeist hinter uns lassen, der so lange erschwert hat, dass die Linke vorankommt.

Meagan Day stimmt zu, sie betont aber, dass der Durchbruch bei der Wahl nicht beiseitegeschoben werden kann. Sie räumt jedoch ein, dass angesichts der Kooptationsfähigkeit eines mächtigen Systems ein Risiko besteht, dass die Progressiven in das Getriebe der parlamentarischen Debatten absorbiert werden, dass die linken Mandatsträger*innen wegen einiger weniger progressiver Gesetzes- oder Verwaltungsmaßnahmen ihre Transformationsziele aus den Augen verlieren können.

„In der Vergangenheit“, betont Akuno, „hat die Linke, als sie im institutionellen Raum Fuß gefasst hat, es versäumt, eine nachhaltige soziale Kraft herauszubilden (so geschehen mit den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, die sich in den Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg am ,New Dealʻ beteiligt haben).“

„Wir müssen sehr aufpassen“, betont Meagan Day, „dass die Anti-Trump-Mobilisierung, die es jetzt gerade gebracht hat, nicht in der schmalzigen Rhetorik von Biden und dem demokratischen Establishment auflöst. Wir müssen ein sozialistisches Projekt mit Millionen von Menschen aufbauen, was möglich ist, wenn wir den Sektengeist hinter uns lassen, der so lange erschwert hat, dass die Linke vorankommt. Solch ein Projekt müssen wir auf allen Ebenen angehen, auch und vor allem auf den Straßen und mit Massenmobilisierungen gegen den neoliberalen Kapitalismus, gegen den Rassismus, gegen das Patriarchat.“

Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried Dubois; die Anmerkungen wurden zum Teil aus der Quelle übernommen, allerdings überarbeitet und ergänzt.

Pierre Beaudet ist in sozialen Bewegungen in Québec und internationalen Solidaritätsbewegungen aktiv. Er unterrichtet „internationale Entwicklung“ an der Université du Québec en Outaouais, ist Mitbegründer der NGO „Alternatives“ und Redakteur der politisch-theoretischen Zeitschrift Nouveaux Cahiers du socialisme. Zuletzt hat er ein Buch zur Geschichte von internationalen Befreiungs- und Solidaritätsbewegungen veröffentlicht (Un jour à Luanda, Montréal: Éditions Varia, 2018).

Quelle:

Pierre Beaudet, „États-Unis : les défis de la gauche“, Plateforme altermondialiste, 9. November 2020,
http://alter.quebec/etats-unis-les-defis-de-la-gauche/


[1] Die Zitate von Meagan Day und Kali Akuno stammen von ihren Beiträgen auf einem Webinar, das am 7. November im Rahmen der diesjährigen Konferenz von „Historical Materialism“ stattgefunden hat.
Auf der Veranstaltung „The 2020 US Election: Bourgeois Democracy in Crisis“ haben Meagan Day, Kali Akuno und Peter Drucker (Mitglied der niederländischen Sektion der Vierten Internationale) gesprochen; Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=yenbB5fxkY4&list=PLcqXhvSDf0z1_1fjg5P3KstOLswjRjk_f&index=5
„Historical Materialism“ ist eine theoretische Zeitschrift, verbunden mit einer Buchreihe und den jährlichen Konferenzen. Darum hat sich ein Netz von marxistischen Intellektuellen aus Großbritannien, USA, Englisch-Kanada usw. gebildet. Siehe https://www.historicalmaterialism.org/; https://www.historicalmaterialism.org/news/historical-materialism-online-2020.

[2] Die DSA haben inzwischen etwa 80.000 Mitglieder. Bei der Gründung im Mai 1982 sollen es 6000, 2002 sollen es 8000 gewesen sein. Ein stürmischer Mitgliederzuwachs, ein höherer Bekanntheitsgrad und eine Radikalisierung setzten 2017 nach der Wahl von Trump zum Präsidenten ein; im September 2018 hatten die DSA ca. 50.000 Mitglieder.

[3] Unter dem Druck der Gewerkschaften und unter der Ägide von Franklin Delanoe Roosevelt sowie seines „New Deal“ gab es während und nach der großen Krise der 1930er Jahre eine Linksentwicklung der Demokratischen Partei.

[4] Sanders erlitt eine Niederlage zum Teil deswegen, weil der „Caucus“ der afroamerikanischen Abgeordneten (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Congressional_Black_Caucus) ihn nicht unterstützt hat.

[5] Kali Akuno ist Mitbegründer und „co-director“ der Cooperation Jackson, Organizer des Malcolm X Grassroots Movement, Leiter der Menschenrechts-Bildungsabteilung des U.S. Human Rights Network, unterstützt die Black Socialists in America (BSA); für viele weitere Einzelheiten über ihn siehe https://www.keywiki.org/Kali_Akuno. Siehe auch ein ausführliches Gespräch, das zwei Mitarbeiter der Zeitschrift New Politics mit ihm geführt haben: https://newpol.org/issue_post/revolutionary-black-nationalism-twenty-first-century.

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