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Geschichte und Philosophie

Nationalisierung – Konfiskation – Besitzergreifung

Von B.B. | 01.03.2009

Ein Rückblick auf die Debatte der Sozialdemokratie in Russland über die „Nationalisierung“ bzw. „Sozialisierung“ des Bodens zeigt die verschiedenen Ebenen der Enteignungsdiskussion vor 1917: Wem sollte das Land gehören und wer sollte darüber verfügen?

Ein Rückblick auf die Debatte der Sozialdemokratie in Russland über die „Nationalisierung“ bzw. „Sozialisierung“ des Bodens zeigt die verschiedenen Ebenen der Enteignungsdiskussion vor 1917: Wem sollte das Land gehören und wer sollte darüber verfügen?

Ausgangspunkt der Landfrage in Russland war die Agrarreform von 1861, mit der die Bauernschaft  von Land „befreit“ wurde, denn ein Fünftel des bäuerlichen Grund und Bodens wurde abgetrennt und den Gutsbesitzer­Innen übergeben. Für die eigenen Ländereien zahlte die Bauerschaft Ablöse, die oft beim 2- bis 3-fachen der tatsächlichen Bodenpreise lag.
Lenin zum Agrarproblem
In seinen ersten Schriften beschied sich Lenin mit Forderungen nach Aufhebung der Ablösezahlungen, der Entschädigung und Rückgabe „abgeschnittener“ Bodenstücke und der entschädigungslosen Enteignung der Apanageländer. Zur Umsetzung schlug er „gewählte örtliche Vertrauensleute“ und „Bauernkomitees“ vor1.

Die erste russische Revolution von 1905 mit ihren großen Bauernrevolten stellte das Agrarprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) auf den Prüfstand. Lenin befürwortete nun die Beschlagnahme der Ländereien der Gutsbesitzer­Innen. Die Sozialdemokratie solle die Bauernschaft gegen den Großgrundbesitz unterstützen, aber gleichzeitig die LandarbeiterInnen organisieren. Doch Lenin wollte sich noch nicht festlegen, wie eine Enteignung stattfinden solle, und wandte sich deshalb zunächst gegen die Formel der „Nationalisierung des Grund und Bodens“.
Nationalisierung
In der 1. und der 2. Duma (Parlament) forderte die Bauernpartei der Trudowiki die Nationalisierung des Grund und Bodens, d. h. ihres eigenen Landes, und im Agrarentwurf der 104 die Bildung örtlicher Bodenkomitees. Er war damit radikaler als das Parteiprogramm der SDAPR. Für den sozialrevolutionären Entwurf nach Sozialisierung des Bodens sprachen sich nur 33 der fortgeschrittenen Bauernabgeordneten aus.

Innerhalb der SDAPR wollte die Mehrheit der Fraktion der Menschewiki die „Nationalisierung“ mit der Übergabe des gesamten Grund und Bodens in das Eigentum des Staates. Über den Boden sollten aber die regionalen Gouvernementverwaltungen (Semstwos) verfügen, die Hochburgen der bürgerlichen Kadettenpartei waren.

Als Leiter der Fraktion der Bolschewiki in der SDAPR lehnte Lenin diese sog. Munizipalisierung als reaktionär ab, weil sie in der Bauernschaft das Bewusstsein von der Notwendigkeit einer zentralisierten Agrarrevolution untergrabe. Die Munizipalisierung lasse das Privateigentum an Grund und Boden für eine bestimmte Bodenkategorie zu, während die Nationalisierung es beseitige2. Durch die Nationalisierung des Landes verschwänden die Großgrundbesitzer und mit ihnen das größte Hindernis auf dem Weg zu einer kapitalistischen Bearbeitung des Bodens3.
Stockholmer Parteitag
Bei der Diskussion über die Agrarfrage auf dem Parteitag der SDAPR 1906 in Stockholm setzten sich die meisten Bolschewiki und Menschewiki für die entschädigungslose Enteignung des Bodens der Gutsbesitzer ein. Gestritten wurde über die Umsetzung der Forderung: Der Gründer der SDAPR, Plechanow, forderte die entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzerländereien ohne Nationalisierung. Der Menschewik Peter Maslow wollte die Gutsbesitzerländereien enteignen und den Semstwos übergeben – was offizielle Position der SDAPR wurde. Lenin forderte die entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzerländereien durch Bauernkomitees und die Nationalisierung des Grund und Bodens.

Die größte Tendenz unter den Bolschewiki trat für die Verteilung des Landes an die Bauern ein. In der Endabstimmung stimmte auch Lenin zu4. Er war nicht prinzipiell gegen die Landverteilung, sondern wollte wie Kautsky die Entscheidung über die Form des den Großgrundbesitzern entzogenen Eigentums den Bauern überlassen5. Von der bolschewistischen Mehrheitstendenz um Borissow übernahm Lenin den Ausdruck der Besitzergreifung des Bodens, zu der man die Bauernschaft aufrufen müsse. Die Konfiskation (entschädigungslose staatliche Enteignung) wäre dann die gesetzliche Verankerung der bäuerlichen Besitzergreifung durch ein Gesetz einer vom ganzen Volk gewählten konstituierenden Versammlung6. Die drei verschiedenen Ebenen Nationalisierung – Konfiskation – Besitzergreifung widersprachen sich also nicht, sondern ergänzten einander.
Systemsprengend oder nicht?
Da in Russland noch keine bürgerliche Revolution stattgefunden hatte, kam für Lenin nur eine kapitalistische Entwicklung in Frage. Deshalb verteidigte er die Nationalisierung des Bodens als notwendig, lehnte aber die Sozialisierungsforderung der Sozialrevolutionäre als „Phrase“ ab.  Nicht Sozialismus und Kapitalismus ständen sich gegenüber, sondern zwei Formen des Kapitalismus: Der „preußische“ Weg mit Monarchie, gutsherrlichem Grundbesitz und starker kapitalistischer Bauernschaft oder der „amerikanische“ Weg mit bürgerlicher Republik, Aufhebung des gutsherrlichen Grundbesitzes und freier kapitalistischer Farmerschaft – Junkernmonarchie oder Farmerrepublik7.

Erst kurz vor der Oktoberrevolution korrigierte sich Lenin. Im September 1917 schrieb er rückblickend: „Die Nationalisierung des Grund und Bodens ist nicht nur das ‚letzte Wort‘ der bürgerlichen Revolution, sondern ist auch ein Schritt zum Sozialismus“8.

1    LW 4/239 f.
2    LW 13/339.
3    LW 15/171.
4    LW 10/323 u. LW 10/348.
5    LW 13/368.
6    LW 10/330
7    LW 15/169 f.
8    LW 13/436 f.

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