Wahlen sind Ereignisse an der Oberfläche. Sie ratifizieren entweder gesellschaftliche Grundsatzentscheidungen, die vorher gefallen sind, oder sie sind Indizien dafür, dass es noch nicht so weit ist. (Georg Fülberth)
Der Wahlkampf und das Ergebnis der Bundestagswahl zeigen uns:
- Der unmittelbar menschenverachtende und -gefährdende Rassismus der AfD hat sich bis in die „demokratische Mitte“ durchgefressen. Die Massenmobilisierungen gegen Rechts sind großartig und hoffnungsverheißend, aber sie haben noch nicht ausgereicht, um diejenigen, die AfD und CDU/CSU wählen wollen, massiv zu beeinflussen. Dass Grüne und SPD sich in Sprache und Regierungspolitik angepasst haben, hat ihnen nicht genutzt.
- Die vollmundig von Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ ist ebenfalls mehrheitsfähig in diesem Land. Aufrüstung und Kriegstreiberei werden weitgehend unwidersprochen hingenommen. Lediglich Stimmen für das BSW und die LINKE können als grundsätzliche Ablehnung der Militarisierung der Gesellschaft gewertet werden.
- Die US-Administration unter Trump und Musk stürzt auch Politiker:innen in Deutschland in Verwirrung.
- Die Verdoppelung der Stimmen für die AfD im Vergleich zu 2021 ist nicht nur beängstigend, bedrohlich und unmittelbar gefährlich für Migrant:innen, Linke, Gewerkschafter:innen und Minderheiten. Sie ist auch Ausdruck dafür, dass es an einem glaubwürdigen Widerstand durch Linke und Gewerkschaften gegen den Rassismus und die Umverteilungspolitik von unten nach oben fehlt, wodurch die Gesellschaft und der Parlamentarismus nach rechts verschoben wurden.
- Wenn – und soweit es im Wahlkampf überhaupt darum ging – wurde klar, dass weder für die konjunkturelle Krise noch für die strukturellen Probleme der Industrie in Deutschland ein glaubwürdiges, bürgerliches Programm existiert bei denen, die die Regierung bilden werden und wollen. Die Interessen der Mehrheit der Menschen spielen für diese Parteien sowieso – wenn überhaupt – nur eine nachgeordnete Rolle.
- Der Aufschwung der LINKE, an der Wahlurne und bei den zehntausenden Neueintritten von überwiegend jungen Mitgliedern, ist in dieser Lage mehr als ein Hoffnungsschimmer. Es schafft die reale Möglichkeit, in den kommenden Monaten und Jahren einen Gegenentwurf zum Rechtstrend zu entwickeln. Beides ist der durch den Merz-Coup im Bundestag gesteigerten politischen Polarisierung und der nachfolgenden antifaschistischen Massenmobilisierung in der Gesellschaft geschuldet. Jetzt ist der Moment für viele, „Farbe zu bekennen“, sich zu engagieren, aktiv und organisiert mitzumachen. Diesen Schwung in kontinuierliche politische Arbeit in allen gesellschaftlichen Bereichen – in den Wohnvierteln, an den Arbeitsplätzen, in den Schulen und Universitäten, aber auch in den Gewerkschaften und den anderen sozialen Bewegungen sowie auf der Straße in organisierten Widerstand umzuwandeln – wird die große Herausforderung sein. Außerparlamentarischer Widerstand ist angesagt und nicht die Hoffnung auf eine parlamentarische „Brandmauer“.
- Diese außerparlamentarische Brandmauer sollte gegen Rassismus, Nationalismus, Kriegstreiberei und für soziale Gerechtigkeit aufgebaut werden – nicht nur „gegen die AfD“.
Wir sind nicht allein
Die Welt dreht sich – gefühlt – immer schneller. Das Rad dreht sich nicht in Deutschland, auch hier ist nur ein Teil der Welt. Der russische Überfall auf die Ukraine und der Völkermord in Palästina scheinen nur weit weg; die globale wirtschaftliche Konkurrenz erscheint nur abstrakt, aber alles beeinflusst auch unsere Situation und ist Grundlage der herrschenden Politik hierzulande.
Ukraine
Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine wird beendet werden. Noch mehr Waffen und Munition können von der Ukraine, ihren Menschen und Bodenschätzen schlicht nicht bezahlt werden. Russland scheint nachhaltig geschwächt; noch mehr Krieg bringt nur noch wenig zusätzliche Schwächung – Zeit also für einen „Deal“. Für die unvorbereiteten Europäer bleibt die Aufgabe der Sicherung und Finanzierung „des neuen Friedens“.
Gaza: Ethnische Säuberung
Die Vertreibung von buchstäblich Millionen Palästinenser:innen ist leider kein Hirngespinst. Die USA rechnen mit der Angst aller Regime der arabischen Halbinsel und Nordafrikas vor einem neuen „arabischen Frühling“. Wenn die lokalen Diktaturregime die Vertreibung nicht mitmachen wollen, sollen sie für eine andere „Lösung“ bezahlen. Und der israelische Militärapparat steht nach dem straflosen Völkermord in Gaza gestärkt bereit, Ordnung und seine Kontrolle über die Region auszuweiten.
Einigkeit besteht bei den Vertretern der deutschen „Staatsräson“
Bei den Vertretern der deutschen „Staatsräson“, also bei den herrschenden Parteien in Deutschland, besteht Einigkeit, dass Israel und seine völkermörderische Politik bedingungslos unterstützt werden. Das schließt auch die zunehmende Repression gegen jede Art propalästinensischer Solidarität mit ein.
Die bedingungslose Treue zum US-Imperialismus in außenpolitischen Fragen war im wahrsten Sinne des Wortes billig, solange man sich mit ein bisschen Beteiligung an der NATO an der weltweiten Ausplünderung beteiligen konnte.
Streitpunkte für neue Koalition
Ein wichtiger Teil im Geschacher um eine neue Koalition wird also sein: Wie viel soll und darf die Aufrüstung kosten? Welcher Anteil wird durch Schulden finanziert? Welcher Anteil soll durch Kürzungen im Bundeshaushalt aufgebracht werden? Welche Teile des Sozialstaates sollen noch weiter ausgehöhlt werden? Welche Investitionen in Infrastruktur (Stromnetze, Energieverbilligung, Bahn und Verkehr, Bildungs- und Gesundheitswesen) und in sogenannte Zukunftsbranchen und Klimaschutz werden getätigt und welche nicht? Darüber hinaus ist nicht erkennbar, mit welcher Strategie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie wiederhergestellt werden soll. Steuergeschenke und Umverteilung an Unternehmen und Reiche sind dafür nicht ausreichend.
Rassismus noch schlimmer
Hinsichtlich der „Migrationspolitik“ haben sich, mit Ausnahme der LINKE, alle anderen Bundestagsparteien im Wahlkampf auf eine weitere Verschärfung der Gangart gegen Geflüchtete und auf den Ausbau des Grenzregimes geeinigt. Für die von Abschiebung und weiterer Schikanierung Betroffenen ist dies schon heute eine lebensbedrohliche Katastrophe. Aufgrund des großen Wahlerfolgs der AfD ist ein weiteres Wachstum der rassistischen Gewalt des faschistischen Pöbels absehbar.
Massenhaft gegen rechts
Wir erleben seit den letzten Wochen eine antirassistische und antifaschistische Massenmobilisierung von bisher nicht gesehenem Ausmaß und gleichzeitig die zig-tausendfache Entscheidung einer neuen Generation, die sich entscheidet zu organisieren. Die Losung „Gemeinsam gegen den Faschismus“ wird nur dann dauerhaft tragen, wenn sie mit einer gesellschaftlichen Perspektive der Hoffnung gefüllt wird.
Ihr sozialer Inhalt muss sich an den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung ausrichten. Die sozialen Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung sind vor allem höhere Einkommen und Renten, bezahlbare Mieten und Lebenshaltungskosten, der Erhalt und die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, ein funktionsfähiges Gesundheits- und Bildungswesen, der Erhalt und Ausbau öffentlicher Infrastruktur und Dienstleistungen sowie ein wirksamer Klimaschutz, der durch die reichen Profiteure des Kapitalismus bezahlt wird.
Das Miteinander zu besprechen, sich auf Forderungen zu verständigen, gemeinsam dafür aktiv zu werden, kann ein weiterer Schritt sein. Die Linke hat auf diese Themen gesetzt und ist auch deswegen derart gestärkt worden. Das zeigt: Es ist die soziale Frage, die linke Politik ausmacht.
Dauerhaft, überall, gemeinsam
Dauerhaft arbeitende Gruppen und Komitees überall können aus einmaligen Demonstrationen eine dauerhafte, präsente Bewegung machen. Darüber hinaus ist es gut, wenn diese Bewegung überall, wo Gesellschaft stattfindet, gezielt hineinzuwirken versucht. Langfristig besteht unsere Perspektive darin, massenhaft Unterstützung für antifaschistische Aktionen – bis hin zu Streiks am Arbeitsplatz und Generalstreiks – aufzubauen.
Auf der Straße setzen wir auf breiteste Bündnisse und massenwirksame Aktionsformen, damit ganz wörtlich „kein Platz für Faschisten“ gilt.
Dass sich jetzt Millionen auf der Straße gegen Rechtsruck und Faschismus engagieren, zehntausende als Mitglieder bei der Partei Die Linke neu engagieren, ist ein Hoffnungsschimmer trotz des Rechtsrucks. Die Herausforderung ist, mit diesen politisierten Menschen eine gemeinsame Tagespraxis zu entwickeln. Das wird nicht die 20 Prozent harter Rassist:innen und Rechter in der Bevölkerung verschwinden lassen. Aber es kann denen, die heute gegen den Rechtsruck auf die Straße gehen, Ermutigung, Kraft zum Durchhalten und Weitermachen sowie eine gemeinsame, solidarische Handlungsperspektive geben.