Mitte-Links-Regierung verliert Mehrheit, radikale Linke profitiert
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Argentinien

Mitte-Links-Regierung verliert Mehrheit, radikale Linke profitiert

Von Sylvain Chardon | 02.12.2021

Wie die Ergebnisse der Vorwahlen vom 12. September 2021[i] erwarten ließen, war die peronistische Mitte-Links-Regierung trotz einiger in letzter Minute beschlossener sozialer Maßnahmen nicht in der Lage, ihr Ansehen bei ihrer sozialen Basis in der Bevölkerung wiederzugewinnen und das Ruder herumzureißen. Wie aus den neuesten Daten des argentinischen Statistikamtes hervorgeht, lag die Inflation im Oktober bei 41,8 %, und der Armutsindex betrug 40,6 % der Bevölkerung; dabei geht die Pandemie mit dem Heraufziehen des Sommers auf der südlichen Halbkugel nur geringfügig zurück.

Am 14. November wurden die Hälfte der Abgeordneten, ein Drittel der Senator*innen und mehrere Regionalparlamente neu gewählt. Die Partei „Frente de Todos“ (FdT, Front von allen) des peronistischen Mitte-Links-Präsidenten Alberto Fernández erhielt 33,57 % der Stimmen und lag damit in den meisten Provinzen weit hinter der rechten Opposition („Juntos por el Cambio“, JxC, Gemeinsam für den Wechsel) mit deren 41,97 %. Die „Frente de Todos“ verlor ihre absolute Mehrheit im Senat und ihre relative Mehrheit im Parlament (61 Sitze für JxC, 50 für FdT). Die internationalen Medien haben nur diese eine Tatsache festgehalten. Eine echte Analyse zeigt etwas ganz anderes, was im Übrigen in Kreisen der Machthabenden des Imperialismus für Beunruhigung sorgt.

Historischer Durchbruch der radikalen Linken

Die zentrale Tatsache dieser Wahl ist in einem Land, in dem Wahlpflicht besteht, die Höhe der Nichtteilnahme an der Wahl. Die Regierung von Fernández verlor aufgrund der Enttäuschung und der Wahlenthaltung der unteren Schichten 3 Millionen Stimmen. Auch die Sieger der rechten Opposition verlieren im Vergleich zu den Wahlen 2019 eine halbe Million Stimmen an Javier Milei, einen Anhänger des Libertarismus[ii] mit „bolsonaristischen“ Tendenzen. Mileis Anhänger*innen kommen außerhalb der Hauptstadt auf der Landkarte mit den Wahlergebnissen praktisch nicht vor. Trotz dieser guten Nachricht unterschätzt niemand auf der Linken in Argentinien, wo eine der blutigsten Militärdiktaturen herrschte, wie sehr dieser „Faschist“ die Herzen von Tausenden von kleinbürgerlichen „porteños“ und „porteñas“ (wie die Einwohner*innen der Hauptstadt Buenos Aires sich nennen) gewinnen konnte, jedenfalls sollten sie ihn nicht unterschätzen, insbesondere wenn die radikale Linke gerade mal knapp ein Drittel derjenigen Stimmen gewonnen hat, die der linken Mitte verloren gegangen sind.

Der Durchbruch der radikalen Linken ist jedoch historisch, da er alle Provinzen des Landes betrifft, mit einem landesweiten Durchschnitt von 5,91 Prozent der Stimmen und Ergebnissen von bis zu 25 Prozent in den ärmsten Gebieten. Die „Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad“ (FIT-U, Front der Linken und der Arbeitenden ‒ Einheit) ist auf Wahlebene mit großem Abstand zur drittstärksten Kraft im Land geworden.

Mit fast 6 Prozent und 1,4 Millionen Stimmen und durch den Einzug von Abgeordneten der radikalen Linken in alle Hochburgen des Peronismus in den städtischen Gebieten erhält diese Wahl eine nie dagewesene qualitative Bedeutung. Die Dämme der alten populistischen Bewegung in Argentinien, die jahrzehntelang die Leitung der Arbeiterklasse dargestellt hatte, haben endlich begonnen zu brechen. Hunderttausende von Jugendlichen und Arbeiter*innen, die die Bedingungen des Hungers und des Elends, die die peronistische Regierung der Frente de Todos dem Land aufzwang, nicht mehr ertragen können, haben sich befreit. Sie wollen nicht länger die betrügerischen Auslandsschulden bezahlen (die größtenteils von der rechtsgerichteten Vorgängerregierung von Mauricio Macri übernommen wurden) und die Profite von Großunternehmern und extraktivistischen Firmen mästen, die die „Pacha Mama“ (die Erde) verschmutzen.

Eine Stimme des Widerstands, die bei den am meisten Ausgebeuteten Gehör gefunden hat

Argentinien entspricht keineswegs den geschönten Bildern der Reisebüros, die ein weißes Land zeigen: es beheimatet 30 indigene Völker; „los negros“ (die Schwarzen) in den „villas“ (Slums), die Opfer des Rassismus der weißen Aristokratie, sind selten Schwarzafrikaner*innen, sondern vorwiegend Indianer*innen oder Mestiz*innen. Im Laufe der Geschichte wurden sie massakriert, kulturell gedemütigt, ihres Besitzes und ihres Landes beraubt, aber es gibt sie noch; und wie ihre chilenischen Nachbar*innen sind sie vor einer Reihe von Jahren in den Widerstand gegangen. Ob es die Mapuche sind, die ihr angestammtes Land zurückerhalten wollen, das ausschließlich zum Vorteil westlicher Großkonzerne wie Benetton und Lewis privatisiert wurde, oder die Kolla, Quechua und Toba, die sich gegen die kanadischen oder chinesischen extraktivistischen Firmen wehren, die Land, Wasser und Kultstätten verschmutzen. 2017, in der Amtszeit von Präsident Macri (2015‒2019), ermordeten Gendarmerie und Polizeikräfte von Präfekturen Santiago Maldonado und Rafael Nahuel und starteten eine rassistische Kampagne, um die indigenen Völker zu dämonisieren. Sie gingen sogar so weit, terroristische Gruppen zu erfinden, um die Unterdrückung zu legitimieren, die Präsident Fernández fortgesetzt hat.

Aus diesem Grund haben die stark von Mapuche bevölkerten Gebiete in den Provinzen Neuquén oder Chubut mit über 15 % und die Andenbewohner*innen von Jujuy mit über 25 % für die FIT-U gestimmt. Wie Lenin und der Che (ursprünglich Argentinier) gesagt haben: Wenn die am meisten Benachteiligten die Politik übernehmen, kann sich die Situation sehr schnell ändern.

Bloß ein Wahlbündnis oder demokratische Massenbewegung?

Um diese Wahlergebnisse zu konsolidieren und Fortschritte in Richtung ökosozialistischer Lösungen zu machen, bräuchte es weit mehr als eine einfache Wahlübereinkunft (die zugegebenermaßen besser ist als nichts). Notwendig wäre eine breite, einheitliche und demokratische Bewegung aller Kräfte der radikalen Linken, die viel größere Teile der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend anspricht und viele Unabhängige und Protagonist*innen des Klassenkampfs in ihren Reihen zusammenbringt. Davon sind wir weit entfernt, die Organisationen der FIT-U haben jeweils ihre eigenen Versammlungen und Siegeskundgebungen organisiert.

Damit das neue Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds massiv abgelehnt wird, um die Organisation der Arbeiterviertel und der Jugend voranzutreiben und damit die Kämpfe der Arbeiter*innen, für die Umwelt und gegen die Unterdrückung wegen des Geschlechts noch mehr Dynamik gewinnen, ist jedoch die Herausbildung einer großen einheitlichen Bewegung unerlässlich.

Aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Wilfried

Quelle: „Le gouvernement argentin perd sa majorité et l’extrême gauche améliore ses positions“, in: LʼAnticapitaliste, Nr. 592, 25. November 2021, https://lanticapitaliste.org/actualite/international/le-gouvernement-argentin-perd-sa-majorite-et-lextreme-gauche-ameliore-ses


[i] Die „elecciones primarias“, die in Argentinien meistens PASO (Primarias, Abiertas, Simultáneas y Obligatorias) genannt werden, sind 2009 eingeführt worden; alle Parteien müssen daran teilnehmen. Wie bei den Parlamentswahlen herrscht Wahlpflicht.
Zum Ergebnis der diesjährigen Vorwahlen siehe den Artikel von Sylvain Chardon mit der Überschrift „Rückschlag für den argentinischen Präsidenten, Radikalisierung links und … rechts“ in: LʼAnticapitaliste, Nr. 583, 23. September 2021, https://lanticapitaliste.org/actualite/international/revers-pour-le-president-argentin-fernandez-radicalisation-gauche-et-droite.

[ii] Der vor allem in der US-amerikanischen Politik einflussreiche Libertarismus (von französisch: libertaire, freiheitlich, freiheitsliebend; englisch: libertarianism) ist eine politische Philosophie und Bewegung, die die individuelle Freiheit als Kernprinzip hochhält. Es wird zwischen den Richtungen „Linkslibertarismus“, „Rechtslibertarismus“ und „Anarchokapitalismus“ unterschieden. Am weitesten verbreitet ist der „Right-libertarianism“, für den in den USA der politische Kommentator Lew Rockwell (Jg. 1944, Vorsitzender des Mises Institute) steht, der den Begriff „Paläolibertarismus“ geprägt hat; sein Mentor war Murray Rothbard (1926‒1995), Vordenker der 1971 gegründeten „Libertarian Party“ (ca. 200.000 registrierte Wähler*innen); eine bedeutende Ideologin war und ist mit ihren Romanen und Sachbüchern die aus Russland stammende und seit 1926 in den USA lebende Beststellerautorin Ayn Rand (1902‒1982), die von „rationalem Egoismus“ sprach und für uneingeschränkten Kapitalismus eintrat. (Anm. d. Übers.)

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