Menschenrechte sind Verhandlungsmasse
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Uigur*innen in China

Menschenrechte sind Verhandlungsmasse

Von Mathilda Nallot und Hugo Weil | 25.11.2020

Seit Kurzem steht die wachsende Unterdrückung der Uigur*innen in der chinesischen Provinz Xinjiang nicht mehr nur in der Kritik von NGOs und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Auch manche Staaten stimmen in den Chor der Verdammnis der rassistischen Politik Pekings gegen diese ethnische Minderheit ein, sofern dies ihren wirtschaftlichen oder geopolitischen Interessen dienen kann.

Die Uigur*innen sind ein türkischsprachiges und überwiegend muslimisches Volk in Zentralasien, das seit 1759 durch die Annexion von „Ostturkestan“ zu China gehört. Heute leben schätzungsweise etwa 13 Millionen Menschen in dieser abgelegenen Region im Westen Chinas. In den 1950er Jahren und später während der Kulturrevolution begann der chinesische Staat mit der Zwangsassimilation der verschiedenen Minderheiten des Landes, die sich insbesondere gegen Tibeter und Uigur*innen richtete. Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung Chinas nahm die Unterdrückung zu, um die strategisch wichtigen Ressourcen dieser abseits und dennoch strategisch bedeutsam gelegenen Region auszubeuten. Die brutale Vorgehensweise Pekings führte zu einem Aufstieg des Nationalismus, der inzwischen auch von islamisch-fundamentalistischen Organisationen instrumentalisiert wird, darunter der mit Al-Qaida verbundenen Islamischen Partei Turkestans. Die Aufstände in Aksu 1995 dienten als Vorwand für neuerliche Repressionsmaßnahmen, die im Wesentlichen mit dem Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt werden, insbesondere nach dem 11. September 2001.

Xinjiang als Exerzierfeld …

Seither nehmen die Verfolgungsmaßnahmen zu (polizeiliche Überwachung, willkürliche Verhaftungen, Bevölkerungskontrollen), und zugleich wurden Geburtenkontrollen und eine Kampagne zur Zwangssterilisierung uigurischer Frauen eingeleitet. Damit soll der Bevölkerungsanteil der Han (der ethnischen Mehrheit in China) zulasten der Uigur*innen angehoben werden, inzwischen ist ihr Anteil von 6 % der regionalen Bevölkerung im Jahr 1949 auf über 45 % gestiegen und liegt er vor dem der Uigur*innen (40 %). Durch Dutzende von „Umerziehungs“-Lagern – in denen jedes Jahr fast eine Million Menschen eingesperrt werden – soll diese ethnische Minderheit marginalisiert werden, und zugleich wurde in Xinjiang ein Exerzierfeld geschaffen, wo das Regime neben repressiven Maßnahmen (Indoktrination von Kindern, die von ihren Familien getrennt werden, obligatorisches Erlernen des Mandarin etc.) neue Massenüberwachungstechnologien ausprobiert, die gegen die gesamte Gesellschaft eingesetzt werden können. Daneben will der chinesische Staat auch ein Exempel im „Kampf gegen den Separatismus“ statuieren und zeigen, dass das Regime zu allem bereit ist, um die Ordnung aufrechtzuerhalten: von Tibet bis Hongkong, aber auch gegen die chinesische Gesellschaft im Ganzen.

… und geostrategische Region

Mit diesen rassistischen Maßnahmen versucht Peking, eine Bevölkerungsminderheit in einer Region, die für seine „Neuen Seidenstrassen“-Projekte entscheidend ist, zur Räson zu rufen. Xinjiang ist riesig (16 % des chinesischen Territoriums) und sorgt für 84 % der nationalen Baumwollproduktion. Daneben liegen dort viele Rohstoffe wie Mineralien und seltene Erden, und Ölpipelines laufen zusammen. Außerdem sind viele multinationale Unternehmen vor Ort und beuten die billigen und fügsamen Arbeitskräfte aus. Zwischen 2017 und 2019 wurden 80.000 Uigur*innen in die Fabriken in der Region geschickt. Konzerne wie Gap, Adidas, C&A, Tommy Hilfiger, H&M, Uniqlo, Nike, aber auch Amazon, Nokia, Apple oder Volkswagen nutzen die repressiven Verhältnisse in Xinjiang aus, ohne sich dazu zu äußern! Für die Bourgeoisie wiegt der Profit bekanntlich schwerer als die Moral!

Ein Herz für Uigur*innen

Aus denselben egoistischen Interessen heraus ändern die westlichen Staaten momentan ihren Ton und stellen China an den Pranger. Sie seien „besorgt um die Menschenrechte“, in Wahrheit aber reagieren sie auf den Aufstieg der Chinas zur wirtschaftlichen Weltmacht, wenn Trump, Le Drian oder der Chef des deutschen Siemens-Konzerns die Unterdrückung der Uigur*innen kritisieren. Nicht, dass die westlichen Imperialisten plötzlich ihr Herz für die Unterdrückten entdeckt hätten: Sie tolerieren Diktatoren ebenso wie Dschihadisten, wenn es in ihrem Interesse liegt… Aber angesichts der „strategischen Rivalität“ Chinas (so die EU) und des „systemischen Konkurrenten“ (so der BDI) dient der Verweis auf die Situation in Xinjiang dazu, Handelssanktionen gegen konkurrierende chinesische Unternehmen zu „rechtfertigen“. Durch diesen diplomatischen Druck hoffen sie, ihre Position auszubauen, was aber nichts am Schicksal der Uigur*innen ändern wird, wie sie selbst genau wissen.

Übersetzung aus dem Französischen von MiWe

Quelle:

Wochenzeitung l’Anticapitaliste vom 22.10.2020, https://lanticapitaliste.org/actualite/international/camps-travail-force-dictature-et-multinationales-occidentales-contre-les

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