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Innenpolitik

Integrationsfieber

Von Muhterem Can | 01.01.2005

Fast alle Parteien, Medien und gesellschaftlichen Einrichtungen – Schulen, Kirchen, sogar einige MigrantInnenselbstorganisationen, etc. – wollen MigrantInnen in die „deutsche“ Gesellschaft integrieren – als ob sie nach so vielen Jahren nicht ein Teil dieser Gesellschaft wären.

Die verbreitete Inanspruchnahme und Beliebtheit des Begriffes „Integration“ macht es schwierig, gegen das in diesem Begriff steckenden Konzept zu sprechen bzw. sich mit diesem Begriff auseinanderzusetzen. Verdächtigt wird die Person, die den Sinn der Integration hinterfragt oder sie überhaupt in Frage stellt.

Von der Integration…

Auf die Fragen, wie diese Integration aussehen und wer sich integrieren soll, wird in der Regel so reagiert: Integration sei ein gegenseitiger Prozess, in dem ein Geben und ein Nehmen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und MigrantInnen stattfinde. Damit soll der Verdacht aus der Welt geschaffen werden, dass die eine Gruppe sich der anderen Gruppe unterzuordnen hat. Aber, sowohl das Zuwanderungsgesetz als auch die Äußerungen der Politiker-Innen lassen keinen Zweifel daran, dass die Integration einen Anpassungszwang bedeutet. Es wird ein Erwartungskatalog für die MigrantInnen aufgestellt, in dem die Logik der bisherigen Politik gegenüber den MigrantInnen weiter existiert: Es gibt für MigrantInnen (im offiziellen Jargon „die zu uns kommenden Menschen“) überwiegend Pflichten, aber fast keine Rechte. Mensch erwartet von ihnen, dass sie sich in die „deutsche“ Gesellschaft integrieren.
Die deutsche und – um den Vorwurf des Nationalismus zu vermeiden auch – die europäische Wertegemeinschaft werden als Richtschnur für MigrantInnen definiert. Dies ist doppelt problematisch: Erstens gibt es keine solchen homogenen Wertegemeinschaften weder in Deutschland noch anderswo – und das ist gut so! Zweitens ist jeder politische Versuch, der gegenüber der kulturellen Vielfalt solche homogenen Gesellschaftsentwürfe beinhaltet, als totalitär zu bekämpfen.
Es ist auch nicht zufällig, dass in diesen Integrationsdebatten wieder einmal der Kampfbegriff „deutsche Leitkultur“ salonfähig geworden ist. Was hinter diesem Begriff steht, ist eine Hierarchisierung der Kulturen, die die eigene besser darstellt als die andere.

… zur Leitkultur.

CDU/CSU sagen klar und deutlich, woran sich die MigrantInnen anzupassen haben: an „die deutsche Leitkultur“. Andere (wie SPD, Kirchen etc.) benutzen zwar diese Bezeichnung nicht ausdrücklich, meinen aber dasselbe. Als vor vier Jahren die CDU-Spitzen Merz und Schönbohm diesen Begriff einbrachten, ernteten sie zu recht von verschiedenen Seiten herbe Kritik. Heute hat der Begriff „Leitkultur“ einen offiziellen Stellenwert in den „christlichen Volksparteien“, wie zuletzt bei dem CDU-Parteitag beschlossen wurde: „Wer unsere Werteordnung – unsere freiheitliche demokratische Leitkultur – ablehnt oder sie gar verhöhnt und bekämpft, für den ist in unserem Land kein Platz.“ Also, alter Wein in neuen Schläuchen. Merz und Schönbohm können sich freuen, dass endlich mal ihr Konzept bei ihren ParteigenossInnen – aber nicht nur bei denen – auf eine breite Zustimmung stößt. Worauf die heutige Integrationspolitik zielt, ist die Unterwerfung der MigrantInnen unter diese „deutsche Leitkultur“. Und diese Leitkulturgesellschaft findet ihre Feinde in den angeblich bereits existierenden „Parallelgesellschaften“.

Parallelgesellschaften

Die PolitikerInnen und Medien (auch teilweise mit Beteiligung der WissenschaftlerInnen) haben in letzter Zeit die Parallelgesellschaften in Deutschland entdeckt. Diese seien von MigrantInnen geschaffen worden und stellten große Hindernisse für die gelungene Integration dar. Die vom Innenminister Schily und seinesgleichen in der CDU/CSU erfundenen, abgekapselten – dem Zeitgeist entsprechend „muslimischen“ – Gesellschaften seien eine Gefahr und Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland, weswegen sie auch bekämpft werden sollen. In dieser Bedeutung bildet dieser Begriff einen rassistischen Kampfbegriff gegen die MigrantInnen.
Jenseits dieser hysterischen Bedrohungsszenarien kann das Thema aus einer anderen Perspektive analysiert werden. In der Tat gibt es in allen kapitalistischen Gesellschaften Parallelgesellschaften in verschiedener Art und Weise. Diese sind nicht unbedingt bewusst gewählte Gesellschaften bzw. Welten, sondern sie sind das Ergebnis der bereits existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen: Die Welt der ArbeiterInnenklasse (mit oder ohne Arbeit) ist nicht die der KapitalistInnen, die patriarchalische Männergesellschaft ist nicht die der Frauen und die Welt der MigrantInnen nicht die gleiche wie die der Nicht-MigrantInnen. Es gibt aber auch natürlich dieselben Erfahrungen der ArbeiterInnenklasse, Frauen und MigrantInnen, und zwar die Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung.
Dennoch gibt es eben auch Unterschiede, die zu berücksichtigen sind, um vereinfachte Erklärungen zu vermeiden. Jahrelang wurden hierzulande MigrantInnen rechtlich und sozial mit besonderen Situationen konfrontiert: ungeschütztere und schlechtere Arbeits- und Wohnverhältnisse, rechtliche Unsicherheiten oder Sondergesetze (Weigerung der politischen Partizipation) und soziale Isolation in bestimmten Stadtteilen. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse bringen MigrantInnen ins Abseits der Gesellschaft, sozusagen in eine „Parallelgesellschaft“, ob sie dies nun wollen oder nicht.

Kampf für ein gleichberechtigtes Leben für alle!

Das eigentliche Problem liegt darin, dass die MigrantInnen bisher immer als ein „Fremdkörper“ in Deutschland gesehen und wahrgenommen worden sind und nicht als ein Teil dieser Gesellschaft. Die Erfindung einer Leitkultur ist Folge bzw. Hintergrund dieser Ausgrenzungspolitik. Die Ausgrenzung und Ausbeutung von MigrantInnen ist ein gesellschaftliches Problem, das mit dem Funktionieren des heutigen kapitalistischen Systems eng verbunden ist. Das ist die eine Seite der Medaille, auf der anderen Seite stehen zusätzliche rechtliche und politische Diskriminierungen von MigrantInnen, die die gesellschaftliche Partizipation von MigrantInnen verhindern. Unsere Antwort auf den Integrationsdruck muss deshalb einen Kampf sowohl gegen die deutsche Leitkultur beinhalten als auch gegen das kapitalistische System, das die Ausbeutungs- und Ausgrenzungsverhältnisse immer wieder reproduziert.

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