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Geschichte und Philosophie

Götzendämmerung in Moskau und Budapest

Von Helmut Dahmer | 01.04.2006

Am 25. Februar 1956 wurden die schon abreisebereiten 1.500 sowjetischen Delegierten des 20. Parteitags der KPdSU – nicht aber die ausländischen Gastdelegierten – überraschend noch einmal zu einer Sondersitzung zusammengerufen.

Am 25. Februar 1956 wurden die schon abreisebereiten 1.500 sowjetischen Delegierten des 20. Parteitags der KPdSU – nicht aber die ausländischen Gastdelegierten – überraschend noch einmal zu einer Sondersitzung zusammengerufen.

Nikita Chruschtschow, der Generalsekretär, las ihnen eine mehrstündige Anklagerede gegen Stalin vor: „Über den Personenkult und seine Folgen”. Chruschtschow stützte sich auf den Bericht einer im Herbst 1955 (gegen den Widerstand Molotows) eingesetzten Kommission, die den gegen die Kommunistische Partei gerichteten Terror der Jahre 1936-1938 näher untersucht hatte. Chruschtschow prangerte weder Stalins Herrschaftsinstrument, die GPU, noch den „Archipel GULag” der Zwangsarbeits- und Vernichtungslager an, weder Stalins internationale Politik noch die Zwangskollektivierung oder den „politischen Genozid” (Isaac Deutscher) – die Vernichtung aller oppositionellen Gruppen innerhalb und außerhalb der Partei. Seine Anklage beschränkte sich auf die „Zerstörung” der (längst schon stalinisierten) Partei in den Jahren nach 1934, auf das militärische Desaster von 1941 und auf die strafweise Deportation ganzer Ethnien. Stalins Despotie bezeichnete er (wie vor ihm schon Malenkow) verharmlosend als „Personenkult”, den Massenterror umschrieb er mit „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit”. Die Delegierten traf es wie ein Schock. Alexander Jakowlew, der unter ihnen war, berichtete später, sie seien so überrascht und beschämt gewesen, daß sie nicht gewagt hätten, einander auch nur in die Augen zu sehen. Einigen der noch anwesenden kommunistischen Parteiführer wurden in der Nacht zum 26. Februar Übersetzungen der Chruschtschow-Rede vorgelesen. Das SED-Politbüromitglied Karl Schirdewan sagte nach seiner Rückkehr aus Moskau zu seiner Frau: „Stalin ist für die Geschichte gestorben!” Im „Westen” wurde die Chruschtschow-Rede schon im Juni 1956 veröffentlicht. Die 7,2 Millionen Mitglieder der KPdSU (etwa 3,6% der Bevölkerung) wurden durch Verlesung des Dokuments mit dem Inhalt vertraut gemacht; gedruckt erschien der Text in der Sowjetunion aber erst drei Jahrzehnte später. Hatte Chruschtschow im Februar 1956 mit seinen geheimen „Enthüllungen” Stalin aus den Reihen der kommunistischen Halbgötter verstoßen, so holten Budapester Demonstranten nur acht Monate später, am 23. Oktober, die sieben Meter hohe, bronzene Statue des Tyrannen von ihrem Sockel und zerschlugen sie in tausend Stücke.
Der Totengräber der Revolution
Stalin, der „Totengräber der Revolution”, wie Trotzki ihn schon 1926 genannt hatte, war am 5. März 1953 im Alter von 73 Jahren gestorben, mitten in Vorbereitungen zu einer neuen Welle des Massenterrors, die wohl auch seine Paladine im „Parteipräsidium” (wie das Politbüro damals hieß) den Kopf gekostet hätte. Der Tod des Zentraldespoten führte im Sommer 1953 zu Aufständen in den sowjetischen Lagern und zur Erhebung gegen das SED-Regime in der DDR. Diese Emeuten wurden zwar niedergeschlagen, signalisierten aber den Stalin-Erben, dass es hohe Zeit war, den innenpolitischen Druck in der SU und in den Satellitenstaaten zu mäßigen. Die politischen Repräsentanten der sowjetischen Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie waren vor allem an der Sicherung ihres eigenen Lebens und der ökonomisch-politischen Grundlagen ihrer Macht interessiert. Eine Reduktion des Terrors und eine allmähliche Besserung des Lebensstandards sollten die Massen ruhig stellen. Chruschtschow hatte den Nimbus des „Vaters der Völker” zerstört; er glaubte, die Stalin-Clique könne sich auch ohne Stalin an der Macht halten. Doch der „Sowjet-Mythos”, dem so viele Millionen Menschen in den dreißiger und vierziger Jahren angehangen hatten, taugte, nachdem der Oberhirt der proletarischen Weltherde posthum als ein paranoider Massenmörder entlarvt worden war, kaum mehr zur Massenbindung:
Berija, Chruschtschow, Gorbatschow
Eine erste Initiative zur Ent-Stalinisierung (nämlich zur Freilassung eines Großteils der Sklaven des „Archipels GULag” und zu einer Neutralisierung Deutschlands) ging absurderweise von Berija aus, dem Chef der Geheimpolizei, den Stalin 1945 seinem Verbündeten Roosevelt kurzerhand als „unseren Himmler” vorgestellt hatte. Chruschtschow, der fürchtete, Berijas Reformen würden das Regime destabilisieren und Stalins langjähriger Günstling strebe nach der Alleinherrschaft, brachte in den Führungsgremien eine Mehrheit gegen ihn zustande und sicherte sich die Unterstützung einflußreicher Militärs. Im Juli 1953 wurde Berija verhaftet, wegen wirklicher und fiktiver Verbrechen angeklagt und gegen Jahresende erschossen. Stalins Komplizen, jenes gute Dutzend von Parteiführern seiner Fraktion, die die Jahre des Massenterrors überlebt hatten und an der Macht wie an den Verbrechen des Despoten beteiligt waren, hatten sich auf diese Weise von der finstersten Gestalt in ihrer Mitte befreit, vom Herrn des GULag, der  beim Foltern und Morden selbst Hand angelegt hatte. Von nun an wurden „Reformen” nur mehr zögerlich in Gang gebracht; die Parteiführer gingen einen Schritt vorwärts und hielten dann erschrocken inne oder nahmen die Neuerung auch wieder zurück. Sie sahen nicht, dass sie selbst einer wirklichen Änderung des Regimes im Wege standen und dass das von ihnen nicht reformierbare politisch-ökonomische System am Ende dem Kapitalismus wieder zufallen würde. Chruschtschow, der letzte Muschik und Utopist im Kreml, setzte sich 1957 mit Hilfe der Mehrheit des Zentralkomitees gegen die stalinistischen Hardliner im Parteipräsidium (Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow) durch. Auf dem 22. Parteitag von 1961 versuchte er noch einmal, die Ent-Stalinisierung weiterzutreiben. Nach Meinung seiner Genossen aber war er längst schon „zu weit” gegangen; sie stürzten ihn 1964 und schickten ihn in Pension. Das in seine nachterroristische Phase eingetretene, im übrigen reformunfähige sowjetische System siechte dann noch ein weiteres Vierteljahrhundert dahin. Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution (1956) und des „Prager Frühlings” (1968), der gescheiterten Intervention in Afghanistan (1979-1988) und dem schließlichen Sieg der (1980 gegründeten und 1981 wieder verbotenen) polnischen „Solidaritäts”-Bewegung (1989) unternahm Gorbatschow (in den Jahren 1985-1991) einen letzten Reformversuch. Doch die durch Jahrzehnte von der millionenstarken KPdSU gegängelte und von der Geheimpolizei terrorisierte, durch Krieg und Mangelwirtschaft zermürbte Bevölkerung blieb passiv. Nach dem Scheitern eines Putschversuchs der stalinistischen Fraktion wurden (1991) sowohl die Kommunistische Partei als auch der Zwangsverband der Sowjetunion aufgelöst. Nun trat das ein, was die kommunistischen Gegner Stalins seit den zwanziger Jahren befürchtet hatten: Staat und Wirtschaft waren zugrundegerichtet, Partei und Bürokratie suchten ihr Heil in der Flucht, restaurierten den Kapitalismus und mutierten alsbald zu dessen neuer,
führender Klasse.
Zu einer Ent-Stalinisierung, die diesen Namen verdiente, ist es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (und in den Nachfolge-Organisationen der stalinistischen Parteien) bis heute nicht gekommen. Die Auseinandersetzung mit der Stalinzeit, die Konfrontation mit der wirklichen Geschichte des Landes seit 1917 und die Trauer über die Menschenmassen, die einem zum Scheitern verurteilten Projekt geopfert wurden, bleiben künftigen Generationen überlassen. Die Öffnung aller geheimen Archive, die Identifizierung der Mörder und die Exhumierung der Opfer der Massenmorde sind vertagt. Keiner von Stalins Schreckensmännern, die das Jahr 1953 überlebt haben, musste sich je vor Gericht verantworten. Noch immer gibt es auf dem Roten Platz kein Denkmal für Stalins Opfer, noch immer residieren Berijas Nachfolger in der Lubjanka. Die Geheimpolizei, der stalinistische Staat im Staat, hat die Partei und die Sowjetunion überdauert. Einer aus ihren Reihen, Putin, ist derzeit Präsident der GUS. Und erst vor wenigen Tagen, im Februar 2006, hat er nicht etwa die Schließung der Sondergefängnisse des FSB (wie der „Inlandsgeheimdienst” inzwischen heißt) verfügt – des berüchtigten Folter-Gefängnisses Lefortowo und anderer Zentren des Schreckens –, sondern nur “gebilligt”, dass sie künftig formell (wieder) dem Justizministerium unterstellt werden sollen…
Ausgang aus dem Labyrinth
Die antikapitalistisch und radikaldemokratisch orientierten Minderheiten von heute müssen den Ausgang aus dem Labyrinth der kapitalistischen Weltwirtschaft erst noch finden. Die Vergegenwärtigung der Verfallsgeschichte der russischen Revolution wird ihnen die Sinne schärfen.

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