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Innenpolitik

Gleitende Lohnskala nach unten

Von B.B. | 01.09.2005

Eigentlich wollten die Gewerkschaftsvorstände zur Linkspartei nicht richtig Stellung nehmen. Aber dann tat es der Verdi-Vorsitzende Bsirske doch. Er kritisierte die Forderung nach einem Mindestlohn von 1400 Euro brutto als zu hoch. Worauf Oskar Lafontaine und die PDS-Spitze einen Rückzieher machten.

Bsirske hatte die Forderung nach einem Mindestlohn von 1.400 Euro im Monat im Entwurf des Wahlprogramms von PDS/WASG als “unrealistisch” bezeichnet. Sie sei “politisch kaum durchsetzbar”, denn “damit würde Deutschland von Null an die Spitze der vergleichbaren Länder springen”. Er meinte, “realistisch wäre eher ein Mindestlohn von 1.250 bis 1.300 Euro pro Monat (…) Damit lägen wir im westeuropäischen Mittelfeld. Ein solcher Mindestlohn würde für etwa 2,4 Millionen Beschäftigte gelten”. Kurz bevor der Verdi-Vorsitzende öffentlich Kritik übte, hatten SPD, Grüne und Bundesfinanzminister Eichel(!) der Linkspartei vorgeworfen, ihr Forderungspaket wäre nicht verwirklichbar. Nach Franz Müntefering würden 85 Mio. Euro zur Finanzierung fehlen.
Gleitende Skala nach unten
Nach Bsirske trat Oskar Lafontaine an die Öffentlichkeit. Er hält einen Mindestlohn von 1200 bis 1250 Euro im Monat für ausreichend und fügte später hinzu: “Wir wollen nicht direkt an die Spitze in Europa gehen”. Dabei hatte Lafontaine erst wenige Tage zuvor mit Gregor Gysi die gemeinsamen Forderungen einschließlich 1400 Euro Mindestlohn auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Ihm folgte Helmut Holter, PDS-Arbeitsminister in Mecklenburg-Vorpommern: Man solle auf die Gewerkschafter und Ökonomen hören, die einen Mindestlohn von rund 1.200 Euro für angemessen hielten. “Gegnern der in Linkspartei umbenannten PDS könne damit auch Wind aus den Segeln genommen werden”, so Holter. Wichtig sei zunächst die Einführung eines Mindestlohns überhaupt. Auch für WASG-Vorstand Klaus Ernst  “ist nicht entscheidend, ob es am Ende 100 Euro mehr oder weniger sind”. Auf eine Zahl wollte er sich nicht festlegen: “Wichtig ist, dass wir uns einig sind, dass wir einen Mindestlohn brauchen”.
Griff Bsirske, dessen eigener “Mindestlohn” monatlich 13.000 Euro beträgt, den “Realismus” Münteferings auf, so überzeugten sich Lafontaine, Holter und Ernst vom “Realismus” Bsirskes. Der Logik der Realpolitik folgend, unterboten sie sogar den vom Verdi-Vorsitzenden genannten Betrag.

Realismus?
Die Argumentation der “Realpolitiker” enthält drei Elemente: Die Behauptung 1400 Euro wären “politisch kaum durchsetzbar”, weil damit “Deutschland” oder “wir” “an die Spitze der vergleichbaren Länder springe(n)”  bzw. “an die Spitze in Europa gehen” würde(n), ist rein nationalborniert und daher abzulehnen.
Mit beiden Beinen auf dem Boden des Parlamentarismus stehend, hängt für Müntefering, Bsirske, Lafontaine, Holter und Ernst die Durchsetzung einer Forderung vor allem von den “Finanzen” ab, und nicht vom lebendigen Kräfteverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital, das beeinfluss- und veränderbar ist. Haben jahrelange Lohnverluste und Verarmung, d.h. die Verschlechterung der Kräfteverhältnisse, die Debatte um einen gesetzlichen Mindestlohn überhaupt erst aufs Tapet gebracht, basiert der “Realismus” der Gewerkschaftsbürokratie auf den Versäumnissen der eigenen Vergangenheit. Hätten sich die DGB-Gewerkschaften, wie die anderer Länder, frühzeitig für einen Mindestlohn eingesetzt, dann gäbe es ihn entweder schon oder wir müssten heute nicht mit der Diskussion fast bei Null anfangen. Für Bsirske sind die 1400 Euro “unrealistisch”, weil davon weit mehr als 2,4 Mio. Lohnabhängige betroffen wären. Doch liegt in dem umfassenderen Personenkreis und in der größeren Betroffenheit gerade die Chance zur Durchsetzung eines höheren Mindestlohns.
Der “Realismus” des Verdi-Vorsitzenden respektiert auch die Vermögensverhältnisse in der BRD. 756.000 Dollarmillionäre besitzen 2,916 Billionen Dollar. Vermögen wie von Aldi häufen sich auch dank der Billiglöhne der VerkäuferInnen an. Wen sollen da die Vorwürfe der Nicht-Durchsetzbarkeit bzw. der Nicht-Finanzierbarkeit erschrecken?

Konflikt
Innerhalb der PDS stießen die Äußerungen zur Abschwächung der Forderung auf Widerspruch. Die PDS-Bundestagsabgeordnete Petra Pau hält die 1.400 Euro “nicht für aus der Luft gegriffen. Sie leiten sich u. a. aus dem Sozialrecht ab und orientieren sich an der so genannten Pfändungsgrenze”. Ihre Kollegin Gesine Lötsch betont, “von Arbeit muss man leben können. Das ist mit 1.400 Euro gewährleistet. Da kann man nicht so einfach 150 Euro abziehen”. Joachim Bischof (WASG) sprach sich ebenfalls für 1400 Euro aus. Anders der Wahlkampfleiter des Linksbündnisses, Ramelow. Er hält einen Betrag von 1250 Euro für “tragfähiger”. Zu sich selbst im Widerspruch, und ungewollt den Mechanismus der “Realpolitik” der Linkspartei offenbarend, erklärte er: “Die Frage ist nicht, was wir auf Parteitagen als Summe festlegen. Entscheidend sei vielmehr, was die Linkspartei als Opposition per Gesetz im Bundestag durchsetzen könne”. Damit könnte sich Ramelow einen gesetzlichen Mindestlohn ganz sparen: “per Gesetz im Bundestag” wird die Linkspartei weder die Sofortforderung nach 1200, 1250, 1300 oder 1400 Euro, noch irgendeine andere Reform durchsetzen! Reformen, die wirklich die Lage der ArbeiterInnenklasse verbessern, sind nicht Ergebnisse gesetzgeberischer Initiativen, sondern Nebenprodukte des Klassenkampfs von unten.
Doch auch Wahlkampfleiter Ramelow kann uns dort, wo er sich bestens auskennt – im Apparat der PDS – einen Tipp geben. Bereits am 10. August wusste er: “Die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1400 Euro werde im Wahlprogramm, das Ende August beschlossen werden soll, nicht mehr auftauchen. Stattdessen werde es wohl auf 1250 Euro hinaus laufen. Die Linkspartei folge damit dem Rat relevanter Leute wie Frank Bsirske”.

Unsere Forderung:Mindestlohn 1500 Euro brutto!
Die Forderung nach einem Mindestlohn ist innerhalb des Kapitalismus durchsetzbar. Gleichwohl verschreckt sie Unternehmerverbände wie Gewerkschaftsführung. Die einen wollen nicht geben, die anderen wollen nicht fordern. Im Jahr 2003 lag die Armutsschwelle bei 1442 Euro Brutto (1012 Euro netto). Das waren 50% des durchschnittlichen Vollzeitlohns. Die Pfändungsfreigrenze lag 2004 bei 940 Euro. Von da aus muss ein Mindestlohn bzw. Mindesteinkommen auch für Erwerbslose (!) bei 1500 Euro liegen.
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