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Betrieb & Gewerkschaft

Gewerkschaftskrise: Auf der Suche nach Antworten

Von B.B. | 01.12.2003

Die Gewerkschaften der BRD stecken in einer umfassenden Krise: Mangelndes öffentliches Echo, interne Krisen, Kritik von den Mitgliedern, Ablehnung bei Außenstehenden.

Die Gewerkschaften der BRD stecken in einer umfassenden Krise: Mangelndes öffentliches Echo, interne Krisen, Kritik von den Mitgliedern, Ablehnung bei Außenstehenden.

Die linken Zusammenhänge, die sich vor und nach dem Mai ‘68 innerhalb der traditionellen Gewerkschaften gebildet hatten, sind weitgehend zerfallen. Sie hatten es nie geschafft, im DGB neben der Sozialdemokratie, den ChristdemokratInnen oder der DKP eine offen auftretende klassenkämpferische Tendenz zu bilden.

Eine ganze Generation von AktivistInnen, die sich damals auf den Klassenkampf berief, lebt bereits im Ruhestand oder geht demnächst in Rente. Der Rückgang der linken Bewegung zwischen 1980 und 2000 hat nicht nur "linke" Gewerkschaftsflügel zersetzt, Vertrauensleute und Betriebsräte in die Resignation getrieben. Mit dem politischen Gesamtspektrum ging auch die Gewerkschaftsbürokratie nach rechts. Wer erinnert sich noch daran, dass Anfang der 70er Jahre die damalige IG Chemie links von der IG Metall positioniert war?
Systemkonkurrenz statt Klassenkampf
Während sich in den Apparaten die kämpferischen Kreise zersetzten, wurde die Tradition der Sozialpartnerschaft und der Anpassung an das kapitalistische System weitergegeben. Typisch für die BRD-Linke mit ihrer Furcht vor dem "Klassenkampf": Gerade der Zusammenbruch der DDR ließ den linken Flügel der Gewerkschaftsbürokratie bis auf wenige Ausnahmen in sich zusammenfallen. Denn dort war das Lagerdenken USA – Sowjetunion vorherrschend, nicht der Klassenkampf. Und an der betrieblichen Basis fehlte den nachrückenden jüngeren Generationen der Lohnabhängigen die Kampferfahrung. Nur sie konnte neues elementares Klassenbewusstsein prägen.
Keine Antworten
Auf der ideologischen Ebene hatte die Gewerkschaftsbürokratie die Verwandlung des Kapitalismus in seine neoliberale Form zunächst überhaupt nicht mitbekommen. Alle, wirklich alle Teile der Gewerkschaftsbürokratie riefen noch 1998 zur Wahl der SPD und zum Regierungswechsel auf, als die sozialdemokratische Partei bereits ihre sozialliberale Orientierung durch eine neoliberale ersetzt hatte.

Heute trägt ein Teil der Bürokratie (z.B. die IGBCE) die Wende zum Neoliberalismus mit. Ein anderer versucht mit hilflosen Appellen Einfluss auf "ihre" Regierung zu nehmen. Ein dritter Teil der Gewerkschaftsführung hält sich aus Angst vor der Konfrontation mit Regierung SPD-Grünen und dem Kapital von Aktionen zurück.

Adäquate Antworten auf den neoliberalen Kapitalismus findet die Gewerkschaftsbürokratie nicht und kann sie auch nicht finden. Denn eine alternative Strategie ist nicht das Zurück zum Sozialliberalismus, mit dessen Zerfall der Neoliberalismus vorherrschend wurde, sondern der Aufruf zum Klassenkampf. Und diese Hürde ist auch für den Peters-Flügel der IG Metall bei weitem zu hoch. Unkonventionelle Ideen kommen aus der Antiglobalisierungsbewegung. Ihr ist die verbreitete Kritik am Neoliberalismus zu verdanken, sie hat die Vorherrschaft neoliberaler Ideen zumindest ansatzweise in Frage gestellt – nicht die Gewerkschaften.
Keine Lösungen
Die fehlenden Antworten werden in vielen Betrieben hautnah erlebt. Entlassungen? Innerbetriebliche Lohn- und Gehaltssenkungen? Arbeitszeitverlängerung? Wie das Beispiel der Arbeitszeitverkürzung zeigt, sind die Gewerkschaften in der Debatte (von der Aktion erst gar nicht zu reden) meist abwesend. Die Arbeitszeit wird dann von angepassten Betriebsräten im Sinne des Kapitals geregelt.

Die gewerkschafts- und betriebspolitische Enthaltsamkeit legt bei ganzen Schichten von Lohnabhängigen die Schwelle zum Austritt immer niedriger. „Wofür überhaupt Gewerkschaftsbeitrag bezahlen? Verzichten kann ich auch alleine." Wo die Antworten fehlen und wo es keinen entschlossenen Kampf gibt, mangelt es an Glaubwürdigkeit.

Die Krise der Gewerkschaften, die durch die Massenerwerbslosigkeit ständig genährt wird, wird von der Bürokratie überwiegend als Finanz- oder Organisationskrise wahrgenommen. Die Antworten werden auf der gleichen Ebene gesucht. Aber weil sie keine wirkliche Strategie gegen den Neoliberalismus findet bzw. der gescheiterten sozialpartnerschaftlichen nachläuft, wird die Gewerkschaftsbürokratie auch kaum ihre organisatorischen und finanziellen Probleme in den Griff bekommen. Zumindest von vielen AktivistInnen wird die Krise der Gewerkschaften als sehr umfassend wahrgenommen.
Das ABC verlernt
Stoßen die Gewerkschaften in "ihren" Kernschichten der FacharbeiterInnen zunehmend auf Kritik oder Unverständnis, so sind sie in neuen proletarisierten Bereichen oft völlig abwesend. Bei der zunehmenden Zahl der ArbeiterInnen und Angestellten, die sich in Billigjobs und Teilzeitarbeit wiederfinden, werden Gewerkschaften nicht einmal vermisst. Ihre dortige Abwesenheit ist eigentlich verwunderlich, denn sie stehen hier vor den elementaren Aufgaben der gewerkschaftlichen Bewusstwerdung und Organisierung, mit denen die Gewerkschaften in ihren Anfängen erfolgreich und stark wurden.

Doch die jahrzehntelange Routine der Verwaltung des FacharbeiterInnenklientels hat die Gewerkschaftsbürokratie ihren ursprünglichen Aufgaben entfremdet. Sie beherrscht das klassische ABC der Gewerkschaftsarbeit nicht mehr. Sie ist aber auch nicht offen für neue Aktions- und Organisationsformen, die nicht den traditionellen entsprechen. Irgendwie fühlt die Bürokratie den Mangel selbst. Anstatt sich selbst zu bewegen, beschwört sie seit über einem Jahrzehnt die Notwendigkeit eines "Bündnisses mit den Bewegungen".
Neue Kampfformen und Gewerkschaftsstrukturen
Der Rückgang der Mitgliedschaft, der im niedergehenden Kapitalismus keine Zwangsläufigkeit sein muss, aber noch lange anhalten kann, kann durchaus zu neuen Aktionsformen und Organisationsstrukturen außerhalb der bestehenden führen, für die mensch offen sein muss. Solche Tendenzen, wie sie sich bei dem System der Richtungsgewerkschaften in Frankreich in einer Stärkung der SUD-Gewerkschaften und sogar der anarcho-syndikalistischen CNT ausdrücken, könnten theoretisch in dieser oder jener Form auch hierzulande entstehen – nicht als linke Projektemacherei sondern aus Kämpfen und Streiks, die Beispiele setzen. Doch so lange sich an spontaner Kampfbereitschaft und Selbstorganisation nichts Wesentliches weiterentwickelt hat, bleibt der Aufruf zur Bildung revolutionärer Gewerkschaften eine leere Phrase.

De facto überlässt mensch damit die Masse der gewerkschaftlich bewussten und organisierten KollegInnen den sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführungen. Statt die KollegInnen direkt erreichen zu können und in den Gewerkschaften den Kampf um die Köpfe – und real um eine andere Politik – führen zu können, rufen Kräfte, die sich als besonders radikal verstehen, zur Absonderung von der Masse der KollegInnen auf. Die tagtägliche Auseinandersetzung mit den manchmal auch verqueren Vorstellungen der KollegInnen wie auch mit de
r abwieglerischen Politik der Gewerkschaftsbürokratie ist die tatsächliche Herausforderung. Nur so lässt sich wirklich eine klassenkämpferische Strömung in der ArbeiterInnenklasse befördern. Die KollegInnen politisch und organisatorisch mitzunehmen, kann durch keinen Abkürzungsversuch verbalradikaler Konzepte ersetzt werden.

So manch einer wird sich auch in Sachen Wendigkeit der bestehenden Gewerkschaften noch erheblich verschätzen. Spitzt sich die Krise zu und reagiert die Gewerkschaftsbürokratie aus Gründen des Selbsterhalts mit gewissen Mobilisierungen, wird sie aller Erfahrung nach große Teile ihres Mitgliedsbestandes halten können, vielleicht sogar ansatzweise stärken können. Die GEW Hessen z.B. exerziert es zurzeit vor: Ihre aktive Mobilisierung gegen Kochs Sparpolitik und ihr Streikaufruf für den 18. November hat der Gewerkschaft neue Mitglieder gebracht.

Und: Es ist fast undenkbar, dass sich alle kritischen Elemente sprach- und lautlos von den DGB-Gewerkschaften abwenden, ausgerechnet dann, wenn diese weiterhin bei ihrem Kurs der Anpassung blieben. Im Gegenteil: Sobald sich eine klassenkämpferische Gewerkschaftstendenz in den DGB-Gewerkschaften bildet und Gehör verschafft, wird sich das mit Sicherheit unmittelbar auf kritische Elemente auswirken und sie vom Austritt abhalten.

Eine organisierte klassenkämpferische Gewerkschaftstendenz ist kein Modell, das am Grünen Tisch entwickelt wurde.

Sie basiert zum einen darauf, dass – bei einer Vertiefung der Krise des kapitalistischen Systems – in den angepassten Gewerkschaften ein Teil der ArbeiterInnen in Widerspruch zur Bürokratie geraten muss. Zum anderen bedarf sie der Initiative zum Zusammenschluss der klassenkämpferischen AktivistInnen in den Gewerkschaften und ihres offenen Auftretens. Hier wurde vielleicht mit der Gewerkschaftslinken ein erster Schritt getan, als sie die Demonstration zum 1. November in Berlin mitinitiierte.
Kein Selbstzweck
Für revolutionäre MarxistInnen sind Gewerkschaften kein Selbstzweck. Selbst in ihren besten Zeiten umfassten die DGB-Gewerkschaften nicht mehr als ein Drittel aller Lohnabhängigen und organisierten deren obere Schichten. Aber wir dürfen auch nicht die bestehenden Gewerkschaften mit ihren Mitgliedern einfach abschreiben. Würde die Gewerkschaftslinke nicht um ihre Politik in den Gewerkschaften kämpfen, dann würden sie die Mitglieder und die AktivistInnen ausschließlich dem Einfluss der Bürokratie überlassen. So anmaßend es sich anhören mag – eine klassenkämpferische Gewerkschaftstendenz, die es ja noch nicht gibt, ist perspektivisch die einzige Garantie dafür, dass die Gewerkschaften in der BRD überhaupt ihre Krise lösen können. Es geht uns aber nicht allein um den Aufbau einer klassenkämpferischen Gewerkschaftstendenz. Wir sind zwar für die Revolutionierung der Gewerkschaften, aber als Einheitsgewerkschaft unterschiedlicher politischer Strömungen werden sie nie völlig revolutionär werden können. Die Schaffung einer klassenkämpferischen Gewerkschaftstendenz muss immer vom Aufbau einer revolutionären Partei begleitet sein. Wer im Kampf für eine andere, linke Gewerkschaftspolitik auf eine Sozialistische ArbeiterInnenpartei verzichten zu können glaubt, übersieht, dass sich dann der politische Raum für eine andere parteimäßige "Alternative" in den Gewerkschaften öffnet – egal ob die dann SPD oder PDS heißen mag.

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