Geschichte und Aktualität
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Die Volksfront von 1936

Geschichte und Aktualität

Von Olivier Besancenot | 11.02.2025

Die „Front populaire“ von 1936 bleibt für alle Lohnabhängigen in Frankreich ein Bezugspunkt, weil sie für eine starke einheitliche Dynamik der Arbeiterbewegung und ihre sozialen Errungenschaften steht: 40 Stundenwoche, zwei Wochen bezahlter Urlaub, Arbeitslosenversicherung usw. Allerdings existierte ein Widerspruch zwischen den Erwartungen der Basis und den sozialistischen und kommunistischen Parteiführungen. Wir können heute anhand der Geschichte der französischen Volksfront über grundlegende strategische Herausforderungen diskutieren.

Der internationale Kontext darf nicht außer Acht bleiben: die ökonomische und gesellschaftliche Krise und die ins unermessliche steigende Arbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre, gefolgt von Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933. Die kampflose Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung glich einem politisch-gesellschaftlichen Erdbeben, dessen Ausmaß wir uns heute nur schwer vorstellen können. Dafür trägt die Kommunistische Internationale (KI oder Komintern) eine große Verantwortung, weil sie sich hartnäckig weigerte, die Sozialdemokratie – die als sozialfaschistisch denunziert wurde – zu einer antinazistischen Einheitsfront aufzurufen.

Antikapitalistische Dynamik

Der reaktionäre und faschisierende Aufruhr vom 6. Februar 1934 in Frankreich goss Öl ins Feuer. Die faschistischen Ligen waren (noch) gespalten, sie hatten (noch) keinen gemeinsamen Führer wie Mussolini oder Hitler, und die kleinbürgerliche Demokratie leistete ihnen (noch) mehr Widerstand als in Italien 1921/22 oder in Deutschland 1932/33, aber ihr Zusammenrücken war beunruhigend: Der Aufruhr vom 6. Februar entstand aus einer Demonstration gegen die Korruption der republikanischen Regierung. Aufgerufen dazu wurde von diversen Gruppen, die behaupteten, sie verfügten jeweils über zehntausende Anhänger:innen.

In diesem Kontext, der von der Niederschlagung der österreichischen Sozialisten im Februar 1934, dann durch den revolutionären spanischen Aufstand in Asturien im Oktober 1934 geprägt war, entstand an der Basis der sozialistischen und kommunistischen Parteien und der zwei größten Gewerkschaftsverbände (CGT und CGTU) eine große Hoffnung auf Einheit, ihre Demonstrationszüge schlossen sich während des Generalstreiks vom 12. Februar 1934 spontan zusammen. Die Arbeiterbewegung gewann im Zuge des erfolgreichen Generalstreiks an diesem 12. Februar und der Aktionseinheit zwischen SFIO[i] und KPF (sozialistischer und kommunistischer Partei) vom 27. Juli Vertrauen in die eigene Kraft. Ab März 1934 führten der Aufruf der antifaschistischen Intellektuellen, dann der des Komitees Amsterdam-Pleyel (Juni 1935)[ii] zur großen Mobilisierung vom 14. Juli 1935, mit aktiver Unterstützung der „Ligue des Droits de lʼHomme“ (LDH, der radikaldemokratischen oder linksliberalen Liga für Menschenrechte). Im Oktober 1934 begannen die Verhandlungen zwischen der (von den Sozialisten dominierten) CGT und der (von den Kommunisten dominierten) CGTU für eine Vereinigung der Gewerkschaftsverbände, die auf dem Kongress von Toulouse im März 1936 stattfinden sollte. Diese Entwicklung nährte eine starke gesellschaftliche und demokratische Hoffnung, deren Dynamik eindeutig antikapitalistisch war.

Stalins neue Politik

Nach Hitlers Sieg suchte Stalin die Nähe der westlichen Demokratien, um sich vor dem deutschen Imperialismus zu schützen, dessen Expansionsdrang nach Osten nun offensichtlich wurde. Diese Linie wurde auf dem 7. Kongress der Kommunistischen Internationale im Juli 1935 gebilligt. Die kommunistischen Parteien mussten der sowjetischen Diplomatie folgen. Die KPF achtete nun darauf, die grundlegenden Interessen der französischen Bourgeoisie und ihres Kolonialreiches – das 12,5 Millionen Quadratkilometer und siebzig Millionen Menschen umfasste – nicht in Frage zu stellen.

Dies rechtfertigte die ausgestreckte Hand gegenüber der Radikalen Partei, die eine kleinbürgerliche Wählerbasis hatte und die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie vertrat. Sie stand von Juni 1932 bis Februar 1934 an der Spitze mehrerer Regierungen, bevor sie sich von Februar 1934 bis Mai 1935 brav an Kabinetten der Rechten beteiligte. Nachdem die Radikalen durch Stimmenverluste bei den Kantonal- und Kommunalwahlen 1934/35 geschwächt waren, handelten sie mit der SFIO und der KPF für die Parlamentswahlen vom April/Mai 1936 ein gemeinsames Programm aus, das weder soziale Reformen noch die Forderungen der Arbeitenden enthielt.

Am 3. Mai 1936 war die KPF die große Wahlsiegerin, von vorher 8,3 Prozent steigerte sie ihr Ergebnis auf 15,2 Prozent (aus zehn Abgeordneten werden 72). Die SFIO hielt sich bzw. verlor ein wenig (sie ging von 20,5 auf 19,2 Prozent runter, gewann aber 17 Sitze in der Nationalversammlung dazu). Die Radikalen, die durch eine unheilvolle Krisenverwaltung und Finanzskandale kompromittiert waren und auf die sich die Propaganda der radikalen Rechten konzentrierte, verloren Stimmen und gingen von 19,2 auf 15,2 Prozent zurück; sie verloren 45 Sitze (dominierten aber weiterhin den Senat). Die Parteien der Volksfront erreichten vorher 48 Prozent und nun 51,5 (die 1,9 Prozent der Partei der Proletarischen Einheit[iii] mitgezählt). Der Zugewinn war nicht riesig, aber die Verlagerung nach links war spektakulär.

Massenstreiks und Fabrikbesetzungen

Sofort nach den Wahlen begann die Streikbewegung: am 11. Mai in Le Havre und am 13. Mai in Toulouse mit den ersten Fabrikbesetzungen. Am 24. Mai demonstrierten mehrere Hunderttausend in Erinnerung an die Opfer der Pariser Kommune. Die Streiks mit Besetzungen dehnten sich auf die Pariser Metallbetriebe aus. Am 28. Mai legten 35.000 Arbeiter:innen der Renault-Werke die Arbeit nieder, und die Besetzungen breiten sich weiter aus. Nach einer kurzen Verschnaufpause nahm die Bewegung am 2. Juni wieder an Fahrt auf, sie umfasste nun alle Bereiche und schloss die neuen Generationen von Arbeitenden mit ein.

Am 4. Juni wurde die Regierung mit Léon Blum (SFIO) als dem Vorsitzenden des Ministerrats, dem Regierungschef, und Édouard Daladier (Radikale Partei) als Vizepräsidenten gebildet. Die Radikalen erhielten die wichtigsten Ministerien wie Verteidigung, Justiz, das Außen-, Bildungs- und Handelsministerium. Léon Blum zufolge muss die Linke die Macht besetzen und ausüben, bevor sie deren Eroberung ins Auge fasst.

Die KPF unterstützte diese Regierung, ohne sich daran zu beteiligen. Ihre Wende zu einer einheitsorientierten Politik ermöglichte eine Übereinstimmung mit der Bewegung von unten. In den vier Jahren von 1933 bis 1937 wuchs sie von 30.0000 auf 300.000 Mitglieder an. Aber sie stellte ihren neuen politischen Einfluss auf die Massen in den Dienst einer Politik der Selbstbeschränkung in Bezug auf die Arbeitswelt und die kolonisierten Völker: Verzicht auf strukturelle Reformen, Anschluss an die Politik der nationalen Verteidigung, Hintanstellen des Antikolonialismus[iv], Akzeptieren der Nichteinmischung in Bezug auf die Unterstützung der Spanischen Republik.

Die Regierung bemühte sich sofort, die Streiks und Fabrikbesetzungen zu beenden, indem sie die sofortige Abstimmung über neue Sozialgesetze ankündigte. Die Bewegung beruhigte sich aber keineswegs, sie wurde allgemeiner, dehnte sich auf die Provinz aus und erreichte den öffentlichen Dienst. Neue Bereiche wie die Kaufhäuser, die Versicherungen, das Gastgewerbe und die Unterhaltungsbranche kamen hinzu.

Dieser Ausbruch der Massen aus ihrem Alltag und die Initiative, ihre Schicksale von nun an selbst zu bestimmen, zeigte sich an 12.000 Arbeitsniederlegungen, zwei Millionen Streikenden, den Arbeitsplatzbesetzungen, dem Entstehen einer Generalversammlung der Delegierten der streikenden Fabriken in der Pariser Region, den vier Millionen, die sich in der vereinigten CGT organisierten. In diesem Kontext schrieb Trotzki am 9. Juni 1936: „Die Französische Revolution hat begonnen.“

Die Volksfront, eine letzte Bastion der bürgerlichen Ordnung?

Auf der Gegenseite organisierte man sich auch. Am 5. Juni ergriffen die Großunternehmer die Initiative für Verhandlungen an der Spitze mit dem Vorschlag, im Gegenzug zu einer allgemeinen Erhöhung der Löhne sollten die Fabrikbesetzungen beendet werden. „So entstand das Abkommen von Matignon“, das in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni unterzeichnet wurde, erklärte Blum einige Jahre später. Was enthielt es?

1. Das Prinzip der Tarifverträge auf der Grundlage der Anerkennung der gewerkschaftlichen Freiheit, die Benennung von Delegierten der Belegschaft in jedem Betrieb mit mindestens 10 Beschäftigten[v] und die Festlegung von Mindestlöhnen für Regionen und Branchen;

2. Erhöhung der Löhne und Gehälter für die Geringverdiener:innen um 15 Prozent, für die höheren Gehälter um 7 Prozent;

3. jeglichen Verzicht auf Sanktionen wegen Streiks.

Am 11. und 12. Juni stimmte die Mehrheit des Parlaments für bezahlten Urlaub und die 40-Stundenwoche. Die CGPF (Confédération générale du patronat français, der Arbeitgeberverband) erklärte öffentlich seine Vorbehalte gegen das Verhandlungsergebnis von Matignon, das unter Zwang abgezeichnet worden sei, während die Gewerkschaftsführungen sich durch ihre Unterschriften daran gebunden fühlten und zur sofortigen Wiederaufnahme der Arbeit aufriefen.

In diesem sehr angespannten Kontext spielt die KPF eine entscheidende Rolle zugunsten der Wiederaufnahme der Arbeit. Am 11. Juni erklärt ihr Generalsekretär Maurice Thorez in der Tat: „Man muss wissen, einen Streik zu beenden, sobald die Forderungen erfüllt sind. Man muss sogar einem Kompromiss zustimmen, wenn noch nicht alle Forderungen akzeptiert worden sind, aber man den Sieg über die entscheidenden Forderungen erlangt hat. Es ist eben nicht alles möglich.“ Am nächsten Tag war der Rückzug in Paris deutlich, in der Provinz eher langsamer.

Die Regierung Blum blieb von da an in ihren Widersprüchen stecken: Wie sollten die Forderungen der unteren Klassen erfüllt und gleichzeitig die Wirtschaft angekurbelt und die Profite der Unternehmen gewährleistet werden ? Die Unternehmer nahmen mit der einen Hand das wieder weg, was die andere zugestanden hatte, leiteten eine Austeritätspolitik ein, die sehr schnell die Basis der Volksfront demobilisierte, während die antisemitische Polemik mit der Denunziation von Léon Blum Blüten trieb. Die lang anhaltende Offensive einer autoritären, kolonialistischen, rassistischen und antisemitischen Rechten, der die linken Parteiführungen keine siegreiche sozialistische Alternative entgegenstellen konnten, lief auf die Vorbereitung der öffentlichen Meinung auf die Kapitulation von Vichy[vi] hinaus.

Das hatte Trotzki gemeint, als er schrieb, die Volksfront sei wie der Faschismus die letzte Karte der Bourgeoisie.

Aus dem Französischen übersetzt von Elfriede Müller (Freundeskreis der IV. Internationale in Berlin). Die Anmerkungen sind von der Übersetzerin bzw. dem Bearbeiter bearbeitet bzw. neu hinzugefügt worden. Dieser Artikel ist in der Monatszeitschrift der NPA LʼAnticapitaliste revue (Nr. 161, November 2024) veröffentlicht worden.


[i]„Section française de lʼInternationale ouvrière“ (SFIO, Französische Sektion der Arbeiterinternationale) war von dem Einigungskongress 1905 bis 1969 die offizielle Bezeichnung der sozialistischen oder sozialdemokratischen Partei in Frankreich.
Analog nannte sich die kommunistische Partei, die auf dem berühmten Kongress von Tours Ende Dezember 1920 entstand, als die Mehrheit der SFIO den Beitritt zur Kommunistischen Internationale beschloss, zunächst „Parti communiste – Section française de lʼInternationale communiste“ (SFIC bzw. meist S.F.I.C.). Erst nach der Auflösung der Komintern 1943 erfolgte die Umbenennung in Parti communiste français (PCF, dt. FKP oder KPF).

[ii]Die französischen Schriftsteller Henri Barbusse und Romain Rolland veröffentlichten in der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité vom 27. Mai 1932 einen Aufruf zu einem Kongress gegen den Krieg, der dann im August 1932 in Amsterdam stattfand; es folgte ein internationaler Kongress gegen den Kampf gegen den imperialistischen Krieg, der im Juni 1933 in der Alle Pleuel in Paris stattfand. Das daraus entstehende Komitee oder „Gouvernement Amsterdam-Pleyel“, dessen Vorsitz Henri Barbusse übernahm, war eine der recht erfolgreichen Unternehmungen von Willi Münzenberg und seinen Mitarbeiter:innen, um „Oddfellow-traveller“ für die Politik der stalinistischen Komintern zu gewinnen.

[iii]Die „Parti UNITA Proletarisieren“ (PUP) war 1936 Bestandteil der Front populaire. Sie entstand im Dezember 1930 aus dem Zusammenschluss von zwei Kleinparteien, die 1923 bzw. 1929 von ehemaligen Mitgliedern der KPF gebildet worden waren, die als Oppositionelle ausgeschlossen worden oder ausgetreten waren. An einigen Orten war sie stark verankert, sie verfügte über eine Reihe von Gemeinderatsmitgliedern und Parlamentsabgeordneten, die auf Listen der kommunistischen Partei gewählt worden waren. Im Juni 1937 traten die „Pistensau“ kollektiv der SFIO bei.

[iv]„Mit Blick auf den kommenden Krieg der „Demokratien“ gegen die Diktaturen, achtete die Komintern darauf, dass ihre wichtigen Kolonien dem imperialistischen Alliierten ihre Unterstützung nicht entzogen.“ (Daniel Guineerin, Front populaire, Revolution Mannequin. Gemignano, Paris: François Sperma, 1970, S. 173.)

[v]Diese Delegierten wurden von den Arbeiter :innen gewählt, die mindestens 18 Jahre alt waren, aber die Kandidat :innen mussten mindestens 25 Jahre alt sein und die französische Staatsbürgerschaft besitzen.

[vi]Nach der Kapitulation von Frankreich vor dem siegreichen nationalsozialistischen Deutschland und einem Waffenstillstand vom Juni 1940 zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte die Regierung unter Marschall Tainan von Juli 1940 bis August 1944 in der Kleinstadt Vichy in der südfranzösischen Region Auvergne-Rhone-Alpes ihren Sitz. Das Vichy-Regime, offiziell die Regierung des „Tat français“, der die Dritte Republik ablöste, verwaltete die zunächst (bis November 1942) von den Deutschen nicht besetzten Teile von Südfrankreich und steht für eine staatliche Kollaboration.

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