Generalstreik vom 3. Oktober 2025
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Ein Bericht aus Bologna

Generalstreik vom 3. Oktober 2025

Von Sarah Friedli | 05.10.2025

Nachdem am Mittwochabend, dem 1. Oktober, die Global Sumud Flotilla angegriffen wurde, rief die Gewerkschaft USB (Unione Sindacale de Base) für den 3. Oktober zum zweiten Generalstreik innerhalb von 10 Tagen auf. Es blieb also nur gerade ein Tag zur Vorbereitung. Die Beteiligung war dennoch massiv: Berichten zufolge waren es landesweit über zwei Millionen Menschen, die sich diesem erneuten Streik und den Mobilisierungen anschlossen. Ich war zufälligerweise in Bologna und nahm natürlich an den Demonstrationen teil – ein Bericht.

Bologna ist eine überschaubare Stadt mit 400’000 Einwohner:innen. Rund ein Viertel hat heute an der grossen Demonstration und Blockaden teilgenommen: über 150’000 Menschen. Neben der massiven Solidarität mit den Aktivist:innen der Sumud Flotilla ging es den Teilnehmenden natürlich um ein Ende des Genozids an den Palästinenser:innen und um ein Freies Palästina – «Palestina Libera» riefen alle. Doch die Freiheit Palästinas wurde automatisch und direkt mit dem Klassenkampf in Italien verbunden. Als Arbeiter:innen haben sie beschlossen, angesichts der Untätigkeit der Regierung, den Genozid zu stoppen, dies selbst in die Hände zu nehmen. Im Streikaufruf der USB heisst es: «A fronte della totale assenza di azioni per fermare il genocidio da parte del Governo Italiano un’ampia parte del mondo del lavoro ha deciso di non poter essere complice» (Angesichts des völligen Fehlens von Massnahmen seitens der italienischen Regierung, um den Völkermord zu stoppen, hat ein großer Teil der Arbeitswelt beschlossen, sich nicht mitschuldig zu machen. Ü.d.Red.). So ging es den Streikenden auch um die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung. Und nicht zuletzt war die riesige Beteiligung eine Antwort auf die Repression der letzten Tage.

Versammlung auf der Piazza Maggiore (von den Demonstrierenden in P. Gaza umbenannt).

Die Antwort der Staatsmacht

Denn bereits am Donnerstagabend wurde (wie auch in der Schweiz) in verschiedenen Städten zu spontanen Demonstrationen in Solidarität mit der Crew der Sumud Flotilla aufgerufen. Diese Spontandemonstration startete auf dem zentralen Piazza Maggiore und ging mitten durchs Zentrum. Sie war gross und laut, und bis zum Bahnhof auch kaum durch ein Polizeiaufgebot begleitet. Doch als rund um den Bahnhof plötzlich überall Polizei in Vollmontur auftauchte, änderte sich die Stimmung. Ich als einzelne, in Bologna unorganisierte Teilnehmerin fühlte mich immer noch wohl und aufgehoben in der demonstrierenden Menge, beobachtete aber, wie sich einige Menschen vermummten. Zunächst hielt ich diese nur für ein paar Jugendliche, die Revolution spielen wollten, doch gleich wurde ich eines Besseren belehrt. Kaum kamen wir in die Nähe des Bahnhofgebäudes, begannen die Polizist:innen mit Tränengas in die Menge zu schiessen. Ohne Vorwarnung und ohne sichtbaren Auslöser. Die Menge entfernte sich vom Bahnhof und ein grosser Teil formierte sich schnell wieder zur Demo stadtauswärts, wie ich später erfuhr in Richtung Gleise. Ein anderer Teil verblieb auf dem Bahnhofsplatz und schaute zu, ich ebenfalls. Irgendwann ging ich nachhause. Im Nachhinein hörte ich von Streik-Teilnehmenden, dass es später am Abend noch zu Verfolgungsjagden kam. Ob es Festnahmen gab, konnten sie mir leider nicht sagen. Aber bereits der erste Generalstreik vom 22. September zog Verhaftungen nach sich, weshalb es damals noch am gleichen Abend unzählige Menschen in Solidarität mit den Gefangenen erneut auf die Strassen trieb.

Auch an der Streikdemonstration vom 3. Oktober wurde der Bahnhof von der Polizei dicht abgeschirmt, und das den ganzen Tag über. Aber nun von Beginn an.

Generalstreik vom 3. Oktober

Mit der Verkündung zum landesweiten Generalstreik am 3. Oktober ging in Bologna auch der Demonstrationsaufruf für morgens um 09.00 Uhr auf der Piazza Gaza (ehemals Piazza Maggiore) raus. Also ging ich an diesem Morgen erneut auf diesen sonst sehr touristischen Platz. Ich war etwas zu früh, um etwa zehn Minuten vor neun waren erst wenige Menschen da, tranken ihren Kaffee oder bereiteten den Soundwagen vor. Ich setzte mich in die Sonne und wartete. Und dann strömten immer und immer mehr Menschen auf den Platz – es war überwältigend. Von der Grössenordnung erinnerte es mich an den feministischen Streik 2019 in Zürich, wo sich etwa ähnlich viele Menschen am Central versammelt hatten. Neben den Gewerkschaftsvertreter:innen gab es Schüler:innen-Kollektive, medizinisches Personal, Lehrpersonen und weitere Gruppen, die sich mit Transparenten und eigenen Blöcken in die Demo einreihten. Die breite Verankerung dieses Streiks war ersichtlich: Viele Familien mit Kindern, alte Menschen, Arbeiter:innen, Jugendliche.

Die Commissione Garanzia Sciopero (in etwa «Streikgarantiekommission) hatte den Streik als «illegitim» bezeichnet, da die Ankündigungsfrist von 10 Tagen nicht eingehalten wurden. Die Antwort der USB lautete: unsere Legitimität ist die Menschlichkeit, und die Freiheit von Palästina. Und die grosse Beteiligung gab der USB recht.

Die erste Linie bestand aus organisierten Gewerkschafter:innen der USB.

Bevor der Demonstrationsumzug losging, verging ca. 1 Stunde, in der immer mehr und mehr Menschen auf den Platz (oder in die Nähe) strömten. Im Nu wurde so die gesamte Innenstadt lahmgelegt. Es fuhren keine Busse mehr, und die Menschenmasse verstopfte auch alle Nebenstrassen mitten im Einkaufs- und Tourismusquartier. Dann setzte sich die Demo in Bewegung. Es kursierten verschiedene Gerüchte über das Ziel des Umzugs: Ob es der Flughafen oder die Autobahn sei, war nicht von Beginn weg klar. Nachdem die Demonstration erneut nicht in Bahnhofsnähe gelangte, begaben wir uns auf die Ausfahrtstrasse «Via Stalingrado» in Richtung Autobahn. Kurz vor der Autobahnauffahrt blockierte die Polizei die Demonstration, und wieder begannen sich Menschen zu vermummen. Ein Polizeihubschrauber kreiste über unseren Köpfen.

Kurz vor der Autobahnauffahrt blockierte die Polizei die Spitze der Demonstration, aber hinter uns standen Tausende.

Von Palästina bis Italien: Globale Kämpfe gegen die Kriegswirtschaft der bürgerlichen Eliten

Schnell wurde mir klar, dass es mitnichten nur um die Sumud Flotilla sondern auch um den antifaschistischen, proletarischen Kampf in Italien ging. Eine der häufigsten Parolen war «Governo Meloni – dimissioni». In den Gesprächen mit den Teilnehmenden erfuhr ich dann auch, wie stark die Verbindung zwischen dem Klassenkampf in Italien und der Solidaritätsbewegung mit Gaza war. Als erstes kamen alle direkt auf die Lebenskosten in Italien und die sich verschlechternden Bedingungen zu sprechen. Ein Gewerkschaftsmitglied der USB erzählte mir von der allgemeinen Skepsis gegenüber der Regierung. Gaza decke die Farce der bürgerlich-liberalen Politik auf. Auch eine Studentin meinte: «Sie können nicht mehr länger lügen und sagen, sie hätten kein Geld für Sozialausgaben, wenn sie Geld für Rüstung ausgeben können». Es sei ein gemeinsamer Kampf gegen die kapitalistische Kriegswirtschaft, welche mit Tod in Gaza und mit Austerität in Europa bezahlt werde. Währenddessen waren wir mit der Demonstration auf der Autobahn angekommen und konnten diese für mehrere Stunden total blockieren – „Blocchiamo tutto“ tönte es aus allen Megafonen und Lautsprechern. Nun wurde der Flughafen zum nächsten Ziel erklärt, was wiederum durch ein massives Polizeiaufgebot erwidert wurde. Zwei Demonstrierende wurden festgenommen. Daraufhin blieb der USB-Block inklusive Wagen und tausenden Menschen auf der Autobahn und blockierte diese, bis die zwei Gefangenen um 18 Uhr wieder freigelassen wurden

Die Autobahn wurde über mehrere Stunden hinweg blockiert.

Krisenerfahrungen, Austeritätspolitik und die generelle Unzufriedenheit

Im Gegensatz zum Kampfwillen der USB gelten die etablierten Gewerkschaften als sehr zögerlich mit ihrer Streikbeteiligung. Die drei grossen Gewerkschaften (CGIL, CISL und UIL) würden teilweise vom Staat finanziert, weshalb sie auch die direkte Konfrontation scheuten. Auf meine Nachfrage bei einem USB-Gewerkschaftler, dass der Streik doch auch von offiziellen Stellen der Gemeinde Bologna angekündigt worden sei, begann der USB-Gewerkschafter von der Skepsis gegenüber der Stadtregierung zu sprechen. Die Gemeinde hätte zwar informiert, biete aber überhaupt keine Unterstützung. Im Gegenteil, es werde bloss die Austeritätspolitik umgesetzt; Lebenshaltungskosten stiegen überall. Gleichzeitig investiere die Stadt nur in Tourismus. Beispielsweise werde aktuell von der Partido Democratico (PD) der Bau einer neuen Tramlinie unterstützt. Eigentlich ja positiv, nur leider reines Prestige- und Tourismus-Projekt. Es gehe der Regierung lediglich darum, ein Food-Zentrum ausserhalb der Stadt zu bewerben; das Geld komme aus EU-Fördergelder mit der Bedingung, dass die Tramlinien bis 2026 umgesetzt und fertig gebaut seien. Ein Ende der Bauarbeiten ist allerdings nicht in Sicht, und werde die gesetzte Frist verpasst, müsse das Geld zurückbezahlt werden. Natürlich würden dann Austeritätsprogramme auf die Bevölkerung zukommen. Dies ist angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Italien verheerend für alle Lohnabhängigen. Es gebe kaum eine Mittelklasse und gerade viele junge Menschen müssten über die Hälfte des Einkommens alleine für Miete ausgeben. Die Lebenshaltungskosten steigen, während die Löhne sinken: das bestätigten mir alle Gespräche.

Umso eindrücklicher, zu sehen, wie sich in Italien aktuell eine soziale Bewegung herausbildet, die sich ausgehend von globalen Ungerechtigkeiten und einer humanitären Überzeugung gegen Genozid zu einer Bewegung gegen Austerität, die Regierung und die Staatsmacht ausweitet. Einige Student:innen meinten, so etwas habe es in Italien seit über 20 Jahren nicht mehr gegeben. Es bilde sich gerade eine umfassende antikapitalistische Bewegung wie zuletzt die Antiglobalisierungsbewegung. Doch gleich darauf meinte eine der Studierenden: «Weisst du, die Bilder von Genua 2001, die sind uns eingebrannt. Wir haben angesichts der aktuellen Mobilisierungen Angst und erwarten, dass etwas ähnliches passiert – ich hoffe, nicht heute!» (2001 wurde am Protest gegen G8 in Genua Carlo Giuliani von der italienischen Polizei erschossen).

Soweit ich weiss, kam es in Bologna und auch sonst in Italien zum Glück nicht zu tödlichen Zusammenstössen mit der Polizei und ich hoffe, es bleibt so. Denn die Bewegung wird andauern. Heute findet in Rom eine nationale Demonstration statt und die letzten Tage haben gezeigt, wie gut die Arbeitenden organisiert sind – es wird sicher nicht der letzte Generalstreik gewesen sein. Die Parolen lassen darauf schliessen, dass weitergemacht wird, bis Meloni, Salvini und Mattarella weg sind und Netanjahu im Gefängnis sitzt. Bis dahin: «blocchiamo tutto!»

Dieser Bericht erschien ursprünglich auf: https://sozialismus.ch/international/2025/italien-generalstreik-vom-3-oktober-2025-ein-bericht-aus-bologna/

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