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Gender-Mainstreaming – ein Weg zur Frauenbefreiung?

Von Clarissa Lang | 09.07.2006

Ganz ohne Zweifel hat sich seit Ende der 60er Jahre nicht nur in der Wahrnehmung der „Benachteiligung von Frauen“ einiges getan. In vielen Ländern, auch in der BRD, sind auch einige reale Veränderungen durchgesetzt worden, die bedeutsamste mit Sicherheit die Straffreiheit von Abtreibungen. Dass die mindestens teilweise geänderten Einstellungen immerhin jetzt schon Jahrzehnte Bestand haben, weist auf die tief greifende Wandlung im allgemeinen Bewusstsein hin, die durch die Frauenbewegung Ende der 60er und vor allem in den 70er Jahren erreicht wurde. Vorher wurde es als „normal“ angesehen, dass Frauen nichts zu sagen haben, dass der Mann bestimmt, wo es langgeht, dass sie fast nirgends berufliche Aufstiegschancen haben usw.

Doch wer die heutigen Aktivitäten und Positionierungen mit dem Stand und dem Anspruch der Bewegung in den 70ern vergleicht, der/dem fällt auf:

a. Auch in den fortgeschrittensten Kreisen wird kaum noch oder gar nicht von Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung gesprochen (bzw. geschrieben). Im Mittelpunkt steht die Diskussion über geeignete Konzepte zum Abbau von Benachteiligungen, zur Herstellung von Chancengleichheit usw.

b. In den großen Medien ist das Thema Ungleichbehandlung „mega-out“. Statt dessen gelingt es der offiziellen Politik, die Medien sehr stark mit folgenden Themen zu belegen: „Familie“, „familienfreundliche Betriebe“, „girls‘ day“, „mangelnde Geburten“ (speziell die mangelnde Fortpflanzungsbereitschaft, besonders von Akademikerinnen), Generationengerechtigkeit. Hinter letzterem stecken handfeste Interessen beim Abbau des „Sozialstaates“ und der Erhöhung der Ausbeutungsrate, aber auch Wahlkampfparolen sowie die Angst um das „Aussterben der Deutschen“.

c. Eine unruhige, eine gesellschaftlich sichtbare und nicht kalkulierbare Bewegung von unten gibt es heute leider nicht. Die einen führen Debatten in relativ abgeschlossenen, zumindest nicht gesellschaftlich wirkenden (bisweilen auch nicht wirken wollenden) Kreisen über die verschiedensten Verästelungen von Theorien über das Patriarchat im allgemeinen, andere – auf der theoretischen Ebene im wesentlichen angeregt vom Dekonstruktivismus – konzentrieren sich auf immer neue Modelle zur Herstellung von „Geschlechterdemokratie“, wobei das Konzept des Gender Mainstreaming seit Jahren das absolut vorherrschende Konzept ist.

Eine Bewegung lässt sich nicht voluntaristisch „vom Zaun brechen“, aber auch unterhalb einer unruhigen Bewegung kann mensch sehr wohl für die Frauenbefreiung aktiv sein, in gewisser Weise auch „Frauenpolitik“ machen. Dabei ist es allerdings nicht einerlei, welche Positionen dabei vertreten werden. Der Keim für einen neuen Schub an Bewegung wird mindestens auf zwei Ebenen gelegt:

a. bei den materiellen Bedingungen, die sich in den letzten Jahren gerade nicht verbessern;

b. bei der notwendigen politischen Klärung über anzustrebende Ziele. Die Vision davon, wie es sein könnte und welche Forderungen sich daraus für die nächste Zeit ableiten, spielt keine kleine Rolle in den molekularen Bewusstseinsprozessen, bevor es zu einer erkennbaren Bewegung kommt.

Aktivitäten für den Kampf gegen die Frauenunterdrückung können heute immerhin aufbauen sowohl auf einem breit vorhandenen Bewusstsein, dass es mindestens eine Benachteiligung (wenn nicht gar Unterdrückung) von Frauen gibt (Einstellungen wie, sinngemäß, „Frauen verdienen es nicht besser“ oder dergleichen, sind bei den meisten Menschen „mega-out“), als auch darauf, dass es speziell im gewerkschaftlichen Bereich eine verbreitete Sensibilität für diese Fragen gibt, auch wenn die Politikvorschläge weit auseinander gehen.

Gender – das soziale Geschlecht

Der Begriff „Gender“ bezieht sich auf unterschiedliche Verhaltensweisen von Männern und Frauen, die vorherrschend als geschlechtstypisch unterstellt werden. Mit dem Begriff „Gender“ soll deutlich gemacht werden, dass solche geschlechtsspezifischen Zuschreibungen nicht biologisch, sondern sozial bedingt sind.

Gender ist das soziale Geschlecht, wie es sich aus gesellschaftlichen Rollenerwartungen und Rollenzuschreibungen formt. Die biologische Geschlechtszugehörigkeit werde nur benutzt, um unterschiedliche soziale Rollenzuweisungen und ungleiche Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen Ressourcen zu rechtfertigen. Mit dem Gender-Ansatz werden im Prinzip alle herrschenden Werte und Normen überprüft.

Gender-Mainstreaming

Gender-Mainstreaming (GM) ist eine politische Strategie zur Gleichstellung der Geschlechter. GM markiert einen Strategiewechsel in der Gleichstellungspolitik – weg von der traditionellen Frauenförderung hin zum Gender-Ansatz, der das Verhältnis der Geschlechter zueinander insgesamt verändern soll. GM wird als ein Prozess verstanden, der darauf zielt, dass bei sämtlichen politischen Aktivitäten – auf allen Ebenen, in allen Bereichen und in allen Phasen – die Auswirkungen für Frauen und Männer beachtet werden. Die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen beider Geschlechter sollen zu einem zentralen Bestandteil bei der Planung, Durchführung, Überwachung und Auswertung aller politischen Grundsätze und Programme werden. Es geht dabei insbesondere um die Reorganisation bzw. Verbesserung von politischen Entscheidungsprozessen, an denen Frauen und Männer gleichberechtigt teilhaben können und Ungleichheiten nicht weiter fortbestehen.

Ziel soll die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Soziales und Recht) und auf allen Ebenen (regional, national und international) im Rahmen einer „geschlechtergerechten Gesellschaft“ sein.

Wesentlicher Unterschied also zu den sonst üblichen Konzepten zur Verhinderung von Benachteiligung ist, dass hier an den sozialen Strukturen angesetzt und eine aktive Politik der Strukturveränderung verlangt wird. GM ist aber kein Bündel von (konkreten) Maßnahmen, sondern ein Analyseinstrument, das eine aktive Politik erleichtern soll, das die Gleichstellung und Gleichwertigkeit in allen Lebens- und Arbeitsbereichen von Frauen und Männern anstrebt. Es geht also zunächst nur um das Bewusstmachen und Hinterfragen von sozial und kulturell geprägten Geschlechterrollen (z. B. „Frauen“-Berufe und „Männer“-Berufe). GM ist eine Methode, nicht die Lösung.

Berücksichtigt werden sollen die unterschiedlichen Situationen in allen Politikfeldern und allen Entscheidungsprozessen. GM will die herrschenden Normen und Werte sichtbar machen und mit diesem Wissen Entscheidungen treffen (lassen
), um Chancen, Ressourcen und Macht umzuverteilen. GM soll z. B. eine Aufwertung von Berufen, die als typisch weiblich gelten, zur Folge haben und gleichzeitig die Hausarbeit und Kindererziehung auch als eine für Männer nahe liegende und (mit mehr oder weniger sanftem Druck) verpflichtende Tätigkeit durchsetzen. 

Auch wenn die mit dem Gender-Begriff verbundene Analyse und das mit Gender-Mainstreaming propagierte politische Konzept nicht auf eine radikale Gesellschaftsveränderung zielen, so sind die darüber vermittelten (bzw. vermittelbaren) Bewusstwerdungsprozesse nicht von vornherein als uninteressant abzutun. Dies umso mehr, als mit dieser Politik reale Veränderungen erreicht wurden.

Was sich „offiziell“ tut

UNO und EU
Auf der 4. UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking wurde eine Aktionsplattform verabschiedet und von 189 Staaten unterzeichnet. Diese Aktionsplattform hält wesentliche Punkte internationaler Frauenpolitik fest und verpflichtet alle Staaten sowie die Vereinten Nationen auf Gender-Mainstreaming: „Regierungen und andere Akteure sollten eine aktive und sichtbare Politik der konsequenten Einbeziehung einer geschlechterbezogenen Perspektive in alle Politiken und Programme fördern, damit die Auswirkungen von Entscheidungen auf Frauen bzw. Männer analysiert werden, bevor entsprechende Entscheidungen getroffen werden.“

Ab 1996 wurden von der EU in Brüssel die ersten diesbezüglichen Beschlüsse gefasst, mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 wurden sie rechtlich verbindlich . Seitdem zählt die aktiv verfolgte Gleichstellung von Männern und Frauen offiziell zu den Kernaufgaben der EU.

Allerdings liegt Christa Randzio-Plath (in Lang et al. a. a. O.: S. 17 ff) vollkommen falsch, wenn sie ausführt, die EU sei „Schrittmacher“. Zwar werden hier verschiedene Stellen eingeschaltet, bevor bestimmte Maßnahmen beschlossen werden, um klären zu lassen, welche Auswirkungen sie auf die Geschlechterdemokratie haben (der juristische Dienst, die Pressestelle, die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen usw.).

Aber: Eine aktive, in die Strukturen eingreifende Politik findet gerade nicht statt. Kein Wunder, dass die Auswirkungen ausbleiben. Zwar sind auf EU-Ebene die Beschäftigtenzahlen von Frauen gestiegen. Während sie 1975 bei 35% lag, liegt sie 1999 bei 52,5%. Das Fatale ist nur: Der größte Teil dieses Zuwachses erfolgte im Dienstleistungsbereich, in schlecht bezahlten Stellungen und vor allem in Teilzeitstellen, oft in ungeschützter Beschäftigung. Zum großen Teil ergab sich damit gerade keine höhere wirtschaftliche Selbständigkeit von Frauen, denn diese statistische Steigerung der Erwerbstätigenzahlen von Frauen ergibt sich zum großen Teil nur, weil das ansonsten gesunkene Familieneinkommen durch zusätzliche Beschäftigung ausgeglichen wurde.

In der EU sind 80,5% der Frauen im Dienstleistungssektor beschäftigt. „Hinzu kommt, dass ein hoher Anteil der erwerbstätigen Frauen sich auf eine relativ geringe Anzahl von Berufen konzentriert. Fast 21% aller erwerbstätigen Frauen waren 1999 in Europa als Sekretärinnen, Schreib- oder Bürokräfte beschäftigt, mehr als 21% in Verkaufs- und Dienstleistungsberufen wie Verkäuferin oder Kellnerin und fast 17% waren als Technikerinnen oder Fachkräfte, vor allem als Krankenschwestern, Pflegerinnen oder Lehrerinnen tätig. Insgesamt sind das 59% aller Frauenarbeitsplätze.“

Sehr oft sogar sind aus einer Ganztagsstelle zwei bis drei Teilzeitstellen geworden (nicht selten sogar noch ungeschützt), vor allem im Einzelhandel. Statistiken sind also oft nur die halbe Wahrheit bzw. verdrehen sogar die Wirklichkeit.

So ist z. B. auf EU-Ebene der Anteil der befristet Beschäftigten von 9,1% (1985) auf 13,2% (1999) gestiegen, bei den Frauen auf 14,2%, bei den Männern auf 12,4%. Mensch muss auf EU-Ebene feststellen: Die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung (bei Frauen EU-weit 1985 bei 27,3%, 1999 bei 33,5%, in Deutschland übrigens bei 37%) und die Segregation von Frauen am Arbeitsmarkt verstärken sich gegenseitig.

Noch dramatischer ist dies übrigens in den USA, wo das an realer Kaufkraft gemessene Einkommen pro Stunde seit Mitte der 70er Jahre um über 40% gesunken ist. Dort müssen Millionen von Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt drängen bzw. einen Zweit- und sogar Drittjob annehmen, um das (Familien)-Einkommen zu sichern.

Schweden
Wie Pettersson ausführt, ist mit Hilfe des GM-Konzepts – das in Schweden seit Jahren fester Bestandteil der offiziellen Politik ist – tatsächlich der Anteil der Väter, die eine Papa-Auszeit nehmen, deutlich gestiegen, steigt die Berufstätigkeit von Frauen, kommen sie erfolgreicher in traditionell von Männern beherrschten Berufen unter usw.. Schweden ist Vorreiter und (weit vor Norwegen, Dänemark und Finnland) das konsequenteste Land bei der Umsetzung von GM

Genau genommen wird eine aktive Gender-Politik in Schweden schon seit Mitte der 70er Jahre betrieben, damals allerdings noch anders beschrieben und längst nicht so konsequent umgesetzt. 1994 dann fasste die schwedische Regierung den Beschluss, „dass sich die geschlechtsspezifische Perspektive in allen Aspekten der Regierungsarbeit wiederfinden muss.“  Pettersson führt sodann aus: Seitdem „ist auch der Staatshaushalt nicht mehr das, was er mal war: Quer durch alle Ressorts und Titel verlaufen inzwischen die Spuren des Gender Mainstreaming.“

Bei allen öffentlichen Investitionen oder sonstigen politischen Entscheidungen wird dabei nach der 3-R-Methode verfahren:

Repräsentation: Wie viele sind betroffen?

Ressourcen: Wie sind die Mittel zwischen den Geschlechtern verteilt?

Realisierung: Was sind die Ursachen für die ungleiche Repräsentation und Ressourcenverteilung zwischen den Geschlechtern und welche Veränderungsmöglichkeiten gibt es?

Zur Effizienzprüfung öffentlicher Investitionen gehört z.B. die Befragung der „KundInnen“ Eine Veränderung der Rahmenbedingungen soll verhindern, dass langfristig hierarchische (und ungleiche) Geschlechterverhältnisse weiter bestehen. Vor allem mit Hilfe einer im ganzen Land per Internet einsehbaren Statistik wird überprüft, ob die umgesetzte Politik das Land dem Ziel Gleichberechtigung der Geschlechter näher gebracht hat.

GM ist ganz klar ein Top-Down Modell, und dennoch: Positiv daran ist, dass es die aktive Beteiligung aller fordert, und zwar als ständige „Querschnittsaufgabe“ (eine Untersuchung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Männern und Frauen in allen Fragen und Lebensbereichen). Um dieses Mitziehen aller
Betroffenen (nicht nur der obersten Entscheidungsträger) zu erreichen, werden den Schlüsselgruppen entsprechende Kompetenzen vermittelt.

Da es nicht bei Absichtserklärungen geblieben ist, sondern seit 30 Jahren (verstärkt und als politische Generallinie seit Mitte der 90er Jahre) aktiv eingegriffen wird, sind die Folgen nicht ausgeblieben:

In Schweden nehmen 31% der Männer Papa-Urlaub (das sind pro Papa im Schnitt 72 Tage im Jahr). In Deutschland bewegen wir uns bei etwa 2%. Der wesentliche Baustein: Seit 1974 (!) gibt es dafür eine Einkommenskompensation von 80%, finanziert zu 75% von den Unternehmen (gesetzlich geregelt: 2,2% der betrieblichen Lohnsumme wandern dafür in einen „Topf“), der Rest kommt vom Staat. Zwei Monate sind nicht übertragbare Papa-Monate. Damit werden Väter leichter zu „praktizierenden Vätern“. Die Gesamtlaufzeit beträgt 15 Monate, davon gibt es während der letzten 3 Monate eine Unterstützung von 60 Kronen am Tag (das sind umgerechnet ca. 6,5 Euro).

Aber diese Maßnahmen sind nicht die einzig relevanten Fakten in der für kapitalistische Verhältnisse vergleichsweise erfolgreichen schwedischen Geschlechterpolitik: Die Ganztagsbetreuung von Kindern ist Welten von der Situation in Deutschland entfernt (s. unten). In keinem Land der Welt ist deswegen die Frauenerwerbsquote so hoch wie in Schweden.

Und die BRD?
Am 23. Juni 1999 fasste die damalige Bundesregierung (Rot-Grün) den Beschluss, sich auf das Prinzip des Gender Mainstreaming zu verpflichten, wonach die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Leitprinzip „in alle Politikfelder, Konzepte und Prozesse einzubringen“ sei.

Indirekt als GM-Projekte sind die folgenden Gesetze zu sehen, die im Bereich „Frauenpolitik“ von der Rot-Grünen Koalition beschlossen wurden:

  • • das „Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz“ (2001) für den Ö(ffentlichen) D(ienst) des Bundes,

  • • das „Prostitutionsgesetz“,

  • • die Neuregelung des Betriebsverfassungsgesetzes (2001) mit einer Geschlechterquote für Betriebsräte (entsprechend ihrem zahlenmäßigen Anteil im Betrieb; 2005 waren 37,8% der Betriebsrats-Mitglieder weiblich) und der Zuständigkeit von Betriebsräten in Fragen der Chancengleichheit;

  • • das Bundeserziehungsgeldgesetz (BerzGG, 2004, Mütter und Väter können gleichzeitig bis maximal zwei Jahre Elternzeit nehmen, erhalten dann 300 Euro im Monat und können dabei bis zu 30 Wochenstunden erwerbstätig sein; das „Optimierungsgesetz“, mit dem Hartz IV verschärft werden soll, stellt übrigens gerade die am meisten Bedürftigen noch schlechter; s. dazu Labournet.de).

Schon die Halbheit (bzw. die Unernsthaftigkeit) des letzten BerzGG sowie das Gesetz zum Elterngeld (s. Avanti 133) machen deutlich, wie groß die Kluft zu den Maßnahmen in Schweden ist, wo das Einkommen in ganz anderer Weise abgesichert ist, weshalb es kein Wunder ist, dass dieses Angebot in Deutschland kaum angenommen wird.

Der Umfang der für GM zur Verfügung gestellten Mittel: Im Jahr 2000 waren es gerade mal 22 Mio. DM zur Förderung der Gleichstellung, 12 Mio. für die Chancengleichheit in Bildung und Forschung, plus 60 Mio. DM für Forschung und Lehre (zum Vergleich: Der Bundesetat betrug damals 487,7 Mrd. DM).

Selbst auf der Ebene bürgerlicher Politik ist klar: So lange es kein Gleichstellungsgesetz (mit zwingenden Maßnahmen) für die „Privatwirtschaft“ gibt, wird sich an den realen Verhältnissen nichts Nennenswertes ändern.

Auch die eifrigsten Verfechter des GM in Deutschland müssen indirekt zugeben, dass sich hierzulande beim Gender Mainstreaming real nichts tut. So kommt auch Gisela Pettersson  zu dem Ergebnis, dass sich in der BRD das meiste noch im „Modellstadium“ befindet. In NRW wurde die GM-Politik unter Rot-Grün beschlossen, real nichts dafür getan und unter Rüttgers (CDU) liegen gelassen. In Sachsen-Anhalt wurde Ähnliches 2000 beschlossen (z. B. ein „Gleichstellungs-Check“ bei allen Kabinettsvorlagen), aber nichts hat reale Folgen. Verschärfend zu dieser auf Bundes- und Länderebene erkennbaren Alibipolitik kommt hinzu: Eine systematische Koordination (etwa über bundesweit gleichartig erstellte und überall per Internet einsehbare aussagekräftige Statistiken) ist „ – auch im Hinblick auf die Länderhoheit – nicht beabsichtigt.“

Laut regierungsoffizieller Darstellung liegt das Fraueneinkommen in Deutschland heute bei etwa 80% von dem der Männer. Lindecke und andere ForscherInnen kommen allerdings zu ganz anderen Zahlen: Real bewegen sich die Frauen-Einkommen im Schnitt immer noch bei etwa 70%, sehr oft sogar bei gleicher Tätigkeit!

Auch wenn für uns die Frage, wie viele Frauen in Leitungspositionen sind, normalerweise uninteressant ist, gewisse Zahlen sind dennoch signifikant: In Deutschland werden gerade mal 11% der Posten in dieser sehr weit gefassten Gruppe durch Frauen besetzt .

Bei den entscheidenden Fragen tut sich in Deutschland also gar nichts, nämlich bei den Billigjobs, den ungesicherten Beschäftigungen, der vollkommen unzureichenden Kinderbetreuung, der Lohndifferenz usw. Wenn vor diesem Hintergrund „gegendert“ wird, erfolgt also nur Blabla ohne reale Auswirkungen, dient die GM-Rhetorik nur zur Ablenkung. Das ist die nackte Situation in Deutschland und – auch in diesem Ausmaß – in fast in allen EU-Ländern.

Fakt ist: Das Armutsrisiko ist für allein Erziehende (v. a. für Mütter) überdurchschnittlich hoch. 1997 gab es 1,077 Millionen Sozialhilfe bedürftige Kinder unter 18 Jahren, 49% dieser Kinder leben bei allein erziehenden Müttern!

Der Kern dieser Crux, an welche die zu hundert Prozent neoliberal ausgerichtete offizielle Politik der BRD nicht ran geht: Familienpolitik ist in Deutschland im Kern auf – geringe – monetäre Leistungen ausgerichtet. Für „sachwerte“ Leistungen (bessere Sozialeinrichtungen) werden im pro Jahr gerade mal 8 Mrd. Euro aufgebracht. Und um das (neoliberale) Maß voll zu machen: Jetzt wird über einen Systemwechsel in der Finanzierung nachgedacht, von der Objektförderung zur subjektorientierten Förderung. Dabei müsste – wie schon der „11. Kinder- und Jugendbericht“ (BMSJ, 2002) anmahnte – gerade umgekehrt die Bereitstellung von Betreuungseinrichtungen den absoluten Vorrang vor monetären Leistungen für einen Antrag stellende Personen haben. (Der 12. Bericht vom Mai 2005 hat diese Tendenz übrigens bestätigt, herunterzulade
n unter http://www.bmfsfj.de/doku/kjb/). So hält auch die Armutskonferenz für 2005 fest „Unter den Sozialhilfebeziehern warn Kinder unter 18 Jahren mit rund 1,1 Mio. die mit Abstand größte Gruppe“ (Dezember 2005, http://www.nationale-armutskonferenz.de/publications/Bilanz-NAPincl-05.pdf).

Kein Wunder, der Vergleich zum gendernden Schweden fällt katastrophal aus: Hierzulande nehmen nur ca.2% aller Väter Erziehungsurlaub. In nur 15% aller Westhaushalte (45% im Osten, mit sinkender Tendenz) sind beide Elternteile erwerbstätig. In Westdeutschland sind von 1000 Kindern im Alter von 1-3 Jahren nur 38 in einer Kinderkrippe. Selbst eine Anhebung der Frauenlöhne hätte nicht annähernd den Effekt, den eine gesicherte (also garantierte) Betreuung der Kinder hätte.

Aufgrund der viel komplexeren Ausgangslage in den nicht-skandinavischen Staaten sind auch diese – selbst in Schweden im Grunde noch bescheidenen Maßnahmen und Erfolge – in den anderen Ländern so nicht als Top-Down-Projekt zu erwarten.

Was ist dann Sinn und Zweck einer Propagierung von Gender Mainstreaming-Projekten in Deutschland? Hier müssen wir die Frage nach dem Gesamtsinn dieses Modells aufwerfen.

Auf dem Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes 1999 wurde ein Aktionsplan für die Gleichstellung von Männern und Frauen vorgelegt und vom Exekutivausschuss einstimmig verabschiedet. Mensch sieht: Alle möglichen Ebenen sehen sich gezwungen, verbal „tätig“ zu werden. Ein gewisser ideologischer Druck ist da. Doch die reale Politik ist vom Neoliberalismus geprägt und die wirkt in der entgegen gesetzten Richtung.

Gender Mainstreaming – ein Ideologie-Mix

Nach einem Jahrzehnt der Propagierung und der „Umsetzung“ dieses Konzepts auf EU-Ebene lässt sich dieses Politikmodell zusammenfassend so bewerten:

1. Es wurden keine konkreten messbaren Ziele vorgegeben, so dass niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann (bzw. muss). Alle Zielvereinbarungen bleiben in Allgemeinplätzen hängen. Die Formulierungen auf EU-Ebene und im Besonderen in Deutschland sind so unverbindlich wie das Geschwafel der Wahlprogramme bürgerlicher Politik.

2. Zweifellos wurde das allgemein in der Gesellschaft vorhandene Drängen der Frauen nach Gleichberechtigung aufgegriffen und ihm – auf der verbalen Ebene – deutliche Zugeständnisse gemacht. Dass dies Zugeständnisse sind, ergibt sich daraus, dass nicht wenige der Zielformulierungen des Gender Mainstreaming fast wortgleich den Darlegungen, Analysen und Forderungen der feministischen Bewegung der 80er Jahre (weniger der 70er) gleichen.

3. Hergestellt werden soll nicht eine Gleichheit der Geschlechter, sondern –für die meisten Verantwortlichen – nur eine „Chancengleichheit für Frauen und Männer“.  Wie also in der bürgerlichen Demokratie üblich, zielt das Konzept auf formal gleiche Chancen, erzwingt aber keine überprüfbaren sozialen Maßnahmen zur tatsächlichen sozialen Gleichstellung.

4. Dieses Konzept ist vollkommen in die kapitalistische Denkweise eingebettet. Das zeigt der Abschnitt II der in Lissabon von den EU-Regierungschefs verabschiedeten beschäftigungspolitischen Leitlinien für das Jahr 2001 (und folgende). Dort heißt es unter der Überschrift „Entwicklung des Unternehmergeistes und Schaffung von Arbeitsplätzen“: „Erleichterung der Gründung und Führung von Firmen.[Hervorhebung von uns] … Neue Beschäftigungsmöglichkeiten in der wissenbasierten Gesellschaft und im Dienstleistungssektor … Regionale und lokale Beschäftigungsinitiativen … Steuerreformen zur Förderung von Beschäftigung und Ausbildung.“

Unter Abschnitt IV heißt es dann: „Verstärkung der Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen und Männer“; „Verwirklichung der Chancengleichheit (Gender Mainstreaming) … Abbau geschlechtsspezifischer Unterschiede … Vereinbarkeit von Familie und Beruf.“

Und das wird dann so konkretisiert, dass insbesondere konkrete Strategien zur Förderung des Unternehmergeistes [unsre Hervorhebung] der Frauen erarbeitet sowie deren Beschäftigungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit verbessert werden sollen.

Mensch sieht: Letzteres ist nicht einfach nur kapitalistisches Denken. Es ist mit dieser Betonung des „Unternehmergeistes“ sogar neoliberal geprägt. Kein Wunder, wurde diese Politik doch auf dem Gipfel des ideologischen Höhenflugs des Neoliberalismus in Lissabon beschlossen.  Wenn mensch sich fragt, warum dann der ganze Aufwand von Seiten der Regierenden betrieben wird, so kann wohl folgendes angenommen werden:

1. Dem Drängen der Frauen verbal nachgeben und Aktivitäten vortäuschen, ist politisch-ideologisch allemal „kostengünstiger“, als durch schroffes Ignorieren oder durch Niederbügeln eine neue und eventuell schlecht zu kontrollierende Revolte riskieren.

2. Einen besseren Geschlechter-Mix auf dem Arbeitsmarkt  hinzubekommen, ist für das Abschöpfen der geistigen Ressourcen von Frauen sicherlich vorteilhaft (gemäß dem Unternehmerkonzept des Re-Engineering das „Gold aus den Köpfen“ der „Mitarbeiter“ holen). Aus einer größeren Gesamtzahl von BewerberInnen auswählen zu können, kann für das Kapital nur vorteilhaft sein und wird sich bei den „öffentlichen Arbeitgebern“ sogar relativ leicht umsetzen lassen. In der „Wirtschaft“ wird dies auch umgesetzt, und zwar in den Bereichen Personalpolitik, Produktpolitik und Marketing.  Entscheidend für das Kapital ist dabei, dass nicht die Gesamtzahl der Beschäftigten steigt. Und für die GM-motivierten bürgerlichen PolitikerInnen kommt es lediglich (bzw. bestenfalls) darauf an, dass „die Unterschiede bei den Arbeitslosenraten von Männern und Frauen verringert werden.“

3. Vor allem national gesinnte Bürgerliche befürchten ein weiteres Sinken der Geburtenrate. Eine materielle Besserstellung von Frauen (in dem Fall auf Kosten der männlichen „Mitbewerber“) soll die Gebärfreudigkeit anheben.

Die Erfahrungen und die Vergleiche (mit Frankreich, vor allem aber mit Schweden) belegen allerdings: Entscheidend für eine größere Gebärfreudigkeit ist das verlässliche Betreuungsangebot für Kinder jeglichen Alters und der gesicherte Wiedereintritt in die Erwerbstätigkeit nach der Elternauszeit. Nicht nur, aber gerade auch in der BRD zeigt sich, dass besonders „qualifizierte“ Frauen (vor allem Akademikerinnen) kaum eine Elternzeit nehmen, weil dies der Karrierelaufbahn den entscheidenden Knick zu geben droht

Was für die herrschenden PolitikerInnen so schwer zu begreifen ist und was die wirklich Herrschenden, die KapitaleignerInnen, nie zugeben werden: Die Ziele einer wirklichen Gleichstellung sind innerhalb des Systems nicht verwirklichbar und zwar aus zwei Gründen:

Erstens würde eine wirkliche Gleichstellung dem Kapital gewaltige Kosten verursachen, sprich: die Profite ganz beträchtlich einschränken. Ohne Not, ohne unmittelbare Gefahr für seinen Machtanspruch, wird das Kapital diese Kosten nicht aufbringen. Die geschlechterspezifischen Einkommensdifferenzen zu verringern, ist in keinem Fall im Interesse des Kapitals.

Es hätte die Aufhebung der Familie zugunsten einer höheren Organisationsform des Zusammenlebens zur Voraussetzung. Dies ist eine fundamentale Umwälzung, die unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist. (Zu diesen beiden Punkten sei auf die Frauenbefreiungs-Resolution der IV. Internationale in diesem Heft verwiesen.)

Prüfsteine

Prüfsteine einer Gesellschaftspolitik, welche die Frauenunterdrückung tatsächlich bekämpft, können an folgenden Maßnahmen bzw. Forderungen festgemacht werden:

• Ganztagseinrichtungen zur Betreuung von Kindern jeglichen Alters;

• Bezahlte Freistellung bei Krankheit des Kindes;

• Gleiche Bezahlung und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der es ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Höhe ist an die Steigerung der Lebenshaltungskosten zu koppeln. Im Jahr 2006 müsste dieser Lohn bei mindestens 10 Euro in der Stunde liegen.

• Absolute Sicherheit des Arbeitsplatzes, d. h. uneingeschränktes Rückkehrrecht in das Erwerbsleben zu gleichen (besser: zu mitgewachsenen) Bedingungen, egal wie lange die Elternauszeit war.

• Gleiche Berufsausbildung (nicht nur Schulbildung);

• Zugang zu allen Berufen (notfalls quotiert);

• Keine Rentenkürzungen;

• Elternzeit ohne Einkommensverlust;

• Ganztagsschulen (einschließlich Mittagstisch);

Plus Gender Mainstreaming, genauer: plus diejenigen Analyseeinrichtungen und Maßnahmen des GM, die die Sensibilisierung und gesellschaftliche Durchsetzung dieser Prüfsteine erleichtern, also: für das ganze Land erstellte und per Internet einsehbare Statistiken, Kompetenzschulung von Schlüsselgruppen, Anwendung der 3-R-Methode, usw., aber eben nicht die Förderung von „Existenzgründungen“.

Selbst in Schweden, der Hochburg des GM, wird als Begründung für die Berechtigung von GM angeführt, dass dies die Effektivität der Unternehmen steigere. Aber die Belege, die Pettersson als Beweis anführt, sind enthüllend: Effizienz- und Qualitätssteigerung durch GM macht sie im Wesentlichen bei den kommunalen Einrichtungen aus. Ansonsten wird das Konzept nur in bestimmten großen Konzernen umgesetzt (aber mit weniger messbaren Auswirkungen).

Der Schluss liegt nahe, dass solche Konzepte sich nur für solche Einrichtungen wirtschaftlich positiv auswirken, die groß genug sind, um die unmittelbaren Kosten entsprechend globalisieren zu können, sie also auf eine sehr breite wirtschaftliche Grundlage stellen können, so dass die positiven Auswirkungen überhaupt zum Tragen kommen können. Das sind der Natur der Sache nach nur entweder staatliche Strukturen (mit entsprechend breiten Möglichkeiten der Kostenglobalisierung und einer Kosten-Nutzenrechnung auf einer sehr breiten, wenn nicht gar schon gesellschaftlich wirkenden Basis) oder es sind solche Konzerne, die über ausreichend große betriebliche Einheiten verfügen, die eine breite Gesamtbilanzierung ermöglichen.

Die Aufspaltung in kleine betriebliche Einheiten (die nach dem Profit-Center-System alle für sich profitabel arbeiten sollen und dabei sich selbst überlassen sind) macht eine solche Anwendung in den meisten Konzernen eher unwahrscheinlich, erst recht in Zeiten des Share-Holder-Kapitalismus, der die Geschäftsführungen zu schnellen Ergebnissen zwingt.

Schlussfolgerungen

Es braucht eine Mobilisierung für die oben genannten Prüfsteine. Selbst als Top-Down-Projekt ist das GM eine nützliche Angelegenheit, aber es kann in keinem Fall den Kampf um die oben ausgeführten Forderungen ersetzen, ist ihnen in jedem Fall nachgeordnet. Das GM kann somit nur ergänzend wirken, eine Hilfestellung leisten. GM ist nicht ideologiefrei oder wertneutral. Auf jeden Fall muss der dort (bzw. von vielen VerfechterInnen) vertretene Ideologie-Mix angegriffen werden. Es braucht eine Propaganda für eine egalitäre, wettbewerbsfreie Gesellschaft und für die Maßnahmen und Schritte (Mobilisierungen), die uns einer solchen Gesellschaft näher bringen. Ein Beitrag dazu ist die hier abgedruckte Resolution der IV. Internationale vom November 1979, die nichts von ihrer grundsätzlichen Bedeutung verloren hat. An keiner Stelle nämlich wird vom GM die Familie in Frage gestellt. Und das, was in einem imperialistischen, hoch entwickelten Industrieland wie Schweden für einen Ausschnitt des Kampfes gegen die Frauenunterdrückung eine partielle Perspektive sein kann, ist es noch lange nicht global, noch nicht einmal in Deutschland.

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