Unser türkischer Genosse Uraz Aydin hat auf Fragen zur aktuellen Mobilisierung in der Türkei nach der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters, der als Erdoğans Hauptkonkurrent bei der kommenden Präsidentschaftswahl gilt, geantwortet. Das Gespräch, das Antoine Larrache am 21. März für die Zeitschrift Inprecor geführt hat, ist in vieler Hinsicht unverändert aktuell und lesenswert.
Kannst du schildern, was bei der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters passiert ist?
Am Morgen des 19. März ist Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul, zusammen mit rund hundert weiteren Mitarbeitenden der Stadtverwaltung unter dem Vorwurf der „Korruption“ und „Verbindungen zum Terrorismus“ in Polizeigewahrsam genommen worden. Bereits am Vortag war sein Universitätsabschluss (den vor 30 Jahren erworben hatte) willkürlich annulliert worden – offensichtlich mit dem Ziel, seine Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu verhindern. Ekrem İmamoğlu, der die Istanbuler Kommunalwahlen sowohl 2019 als auch 2024 als Kandidat der CHP (der säkular-sozialliberalen Republikanischen Volkspartei) gewonnen hat, ist im Laufe der Zeit zum wichtigsten Gegenspieler von Erdoğan geworden.
Am 23. März sollte die CHP ihre Vorwahlen abhalten, um ihren Präsidentschaftskandidaten zu bestimmen – für eine Wahl, die regulär 2028 stattfinden soll, aber sehr wahrscheinlich vorgezogen werden wird, um Erdoğan eine letzte Kandidatur zu ermöglichen. Es sei denn, die Verfassung wird geändert – auch das ist im Gespräch. Ziel dieser Repressionsmaßnahme ist ganz offensichtlich: den wichtigsten Oppositionskandidaten nicht zuzulassen, seine Amtsführung in Istanbul zu kriminalisieren und möglicherweise einen staatlichen Verwalter anstelle des gewählten Bürgermeisters einzusetzen – wie in den letzten Jahren in den kurdischen Gemeinden im Südosten der Türkei.
Wie sieht die Mobilisierung dagegen aus?
Wir haben jetzt den dritten Tag der Proteste. Die CHP ruft täglich zu Kundgebungen vor dem Rathaus von Istanbul auf. Mehrere zehntausend Menschen nehmen an diesen Versammlungen teil. Neben Mitgliedern und Unterstützer:innen der CHP mobilisieren sich selbstverständlich auch alle anderen Teile der Opposition, inklusive der radikalen Linken, gegen das, was inzwischen als „Staatsstreich vom 19. März“ bezeichnet wird.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Land seit dem Gezi-Aufstand 2013 in einem Zustand permanenter Repression lebt. Das Ende der Verhandlungen mit der kurdischen Bewegung, die Remilitarisierung der Kurdenfrage und die Wiederaufnahme des Krieges, der Putschversuch durch ehemalige Verbündete Erdoğans und der Ausnahmezustand, der daraufhin ausgerufen wurde, das Verbot von Streiks sowie die Repression gegen feministische und LGBTI+-Bewegungen markieren die Hauptetappen des autoritären Umbaus zum autokratischen Erdoğan-Regime. Wir leben also in einem Land, in dem Proteste selten geworden sind, und in dem es für gewöhnliche Bürger:innen zu einem ungewöhnlichen und risikobehafteten Verhalten geworden ist, auf die Straße zu gehen. Aber trotzdem und trotz des Verbots von Demonstrationen in Istanbul gibt es bedeutende Mobilisierungen und vor allem eine Proteststimmung, die auf den Straßen, am Arbeitsplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln etc. zu spüren ist.
Am zweiten Abend sind in vielen Stadtteilen Istanbuls und in Dutzenden anderen Städten Bürger:innen auf die Straße gegangen – mit Parolen wie: „Regierung, tritt zurück!“, „Nieder mit der Diktatur der AKP!“, „Keine individuelle Befreiung! Alle zusammen oder keiner von uns!“
Und wie sieht es mit der Jugend aus – wie stark ist deren Beteiligung an den Protesten?
Der wichtigste und zugleich überraschendste Aspekt ist eben die Mobilisierung der Studierenden. Die Universitäten sind seit Jahren entpolitisiert, die radikale Linke dort ist schwach und ihre Handlungsmöglichkeiten drastisch eingeschränkt. Die heutige Studierendengeneration hat – auch wenn sie vermutlich mit den Geschichten über den Gezi-Aufstand aufgewachsen ist, die ihre Eltern erzählt haben – nahezu ohne eigene Erfahrung in Sachen Organisierung und Protest. Das gilt sogar für junge revolutionäre Aktivist:innen, die bislang keine Möglichkeit hatten, an den Universitäten „ihre Arbeit“ zu leisten.
Aber dennoch – mit einer Art von „elektrischem Schlag“, wie Rosa Luxemburg es genannt hat[i] –, zeigt sich eine spontane Radikalisierung an den Universitäten. Es gibt natürlich viele sozioökonomische (objektive) und kulturell-ideologische (subjektive) Faktoren, die in dieser Mobilisierung zusammenfließen. Darüber wird man später noch nachdenken müssen. Aber die Tatsache, dass in einem Land, das verarmt, in dem Arbeit schwer zu finden ist, das der Jugend keinerlei „Versprechen auf Glück“ gemacht wird, in dem ein Studienabschluss auf dem Arbeitsmarkt kaum mehr zählt – dass dort ein Abschluss über einfachen Druck der Regierung auf eine Universität annulliert werden kann, ist sicher ein Faktor, der bei einem Teil der Jugend, der dafür ohnehin empfänglich war, diesen Schock ausgelöst hat.
Welchen Einfluss hat diese studentische Radikalisierung auf die Gesamtproteste?
Ich denke, sie verändert alles – sie zwingt die CHP dazu, aus ihren eingefahrenen Oppositionsmustern auszubrechen. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel hatte – wie gesagt – zur Kundgebung vor dem Rathaus aufgerufen. Aber es muss auch gesagt werden: Man war nicht im Geringsten vorbereitet, dass Zehntausende kommen würden. Das Hauptziel war, die Bürger:innen zum Urnengang bei den Vorwahlen am 23. März aufzurufen, um damit dem Regime gegenüber zu demonstrieren, dass İmamoğlus Legitimität besitzt, aber auch den „Kampf“ auf juristischer Ebene fortzusetzen, also durch Einlegen von Berufung etc.
Dagegen waren die Slogans, die die Jüngeren (die Mehrheit der Versammlung vor dem Rathaus) am meisten skandiert haben: „Die Befreiung kommt von der Straße, nicht aus den Urnen!“ oder „Der Widerstand ist auf der Straße, nicht in den Urnen!“ Angesichts dieses Drucks der Jugend musste die CHP-Führung nachgeben: Sie hat die Polizeisperren vor den Unis mehrfach durchbrochen, sie hat in Ankara an der ODTÜ [der Technischen Universität des Nahen Ostens] massiv demonstriert und ist gegen die Bereitschaftspolizei vorgegangen, sie hat die Polizei gezwungen, Sondereinsatzfahrzeuge zur Bekämpfung von Unruhen auf Universitätsgelände zu schicken (insbesondere in Izmir), sie wollte am Ende der offiziellen CHP-Kundgebungen nicht auseinandergehen, sondern und in Richtung Taksim-Platz marschieren (dem symbolischen Ort des Widerstands seit dem Massaker vom 1. Mai 1977 und der Gezi-Revolte). Özgür Özel hat das Volk aufgerufen, „die Plätze zu fluten“. Und weiter: „Wenn uns auf der Grundlage rechtswidriger Anordnungen Hindernisse in den Weg gelegt werden, dann beseitigt sie – ohne die Polizei zu verletzen.“ Das ist schon ziemlich bemerkenswert. Özel stimmte auch zu, in [dem Istanbuler Stadtteil] Saraçhane eine zweite Bühne für die Studierenden aufzubauen.
Wie lässt sich das mit der Situation in Kurdistan und dem sogenannten Friedensprozess verbinden?
Es handelt sich um einen sehr widersprüchlichen Prozess, den wir jedoch schon einmal erlebt haben. Man darf nicht vergessen, dass während der Gezi-Revolte 2013, als der Westen des Landes brannte, Verhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem Führer der PKK, liefen. Und natürlich – während die radikale Opposition gegen das Regime früher fast ausschließlich aus kurdischen Regionen und der kurdischen Bewegung kam, ist deren Beteiligung diesmal naturgemäß begrenzter. Allerdings haben sich 2015 sind die beiden Protestdynamiken in der Kandidatur von Selahattin Demirtaş von der linken, pro-kurdischen HDP zusammengekommen.
Heute – während es laut den Kurden erneut einen „Friedensprozess“, laut dem Regime aber einen Prozess der „Entwaffnung“ gibt (eine Facette davon sind die Verhandlungen zwischen Rojava und dem neuen syrischen Regime), führt der türkische Staat eine massive Repressionskampagne gegen die säkulare bürgerliche Opposition, gegen Journalist:innen… und auch gegen Teile der kurdischen Bewegung. Für die Kurd:innen will das Regime (vor allem gegenüber der eigenen sozialen und Wählerbasis) zeigen, dass es seine eiserne Faust jederzeit bereithält – und dass es nicht um Verhandlungen, sondern um die „Beendigung des Terrorismus“ geht. Bei der Inhaftierung İmamoğlus und anderer CHP-Bürgermeister lautet ein Anklagepunkt Korruption – der andere aber ist Unterstützung des Terrorismus, da die CHP bei den Kommunalwahlen 2024 eine informelle Allianz mit der kurdischen Bewegung unter dem Namen „städtischer Konsens“ geschlossen hatte.
Ein weiteres bemerkenswertes Detail ist, dass alle Demonstrationen und Versammlungen in Istanbul verboten wurden – außer dem Newroz-Fest, mit dem im Nahen Osten und im Kaukasus traditionell der Frühlingsbeginn gefeiert wird, das aber seit Jahrzehnten für die kurdische Bewegung eine politisch-nationale Bedeutung hat. Man könnte also sagen: Das Erdoğan-Regime versucht einen weiteren Schritt, einen entscheidenden Schritt beim Aufbau seines Regimes zu machen, es will seinen neofaschistischen Charakter festigen, indem es die zwei größten „Brocken“ kleinkriegt: die säkulare bürgerliche Opposition, die durch die CHP und İmamoğlu repräsentiert wird, sowie die kurdische Bewegung.
Die Erstere durch Kriminalisierung, Inhaftierung ihrer Repräsentant:innen, vielleicht, indem sie gezwungen, ihre Führung und ihren Kandidaten auszutauschen, und letztlich durch die Zerstörung jeglicher Legitimität von Wahlen. Was die kurdische Bewegung betrifft, so wird das Regime wohl versuchen, sie zu „entradikalisieren“ und sie zu einem nationalen und regionalen Partner (Syrien, Irak) zu machen, in der Hoffnung, dass sie im Tausch gegen einige Zugeständnisse (über deren Inhalte wir derzeit nichts wissen) ihren Kampf um Demokratisierung des gesamten Landes aufgibt und eine friedlichere Existenz mit dem Regime gewährleistet. Bisher jedenfalls hat die DEM-Partei (ehemals HDP) klar gegen diesen „zivilen Putsch“ gegen İmamoğlu und andere Amtsträger:innen Position bezogen und zu gemeinsamen Protesten aufgerufen und die Versammlungen des Newroz-Fests am 23. März dafür zu nutzen.
Natürlich können wir nicht vorhersagen, ob diese Doppelstrategie von Erdoğan ausgehen wird – aber, wie der italienische Marxist Antonio Gramsci gesagt hat: Es lässt sich nur vorhersagen, dass es Kämpfe geben wird.
Istanbul, 21. März 2025
Aus dem Französischen übersetzt von Thomas und Wilfried
Uraz Aydin arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er hatte eine Stelle an einer Universität, die ihm 2016 gekündigt wurde, nachdem er eine Erklärung zur Solidarität mit dem kurdischen Volk unterschrieben hatte. Er ist seit Januar 2022 Mitglied des Zentralkomitees der Türkischen Arbeiterpartei (Türkiye İşçi Partisi, TİP). Uraz arbeitet an der Webseite İmdat Freni mit, die von den Mitgliedern der Vierten Internationale in der Türkei erstellt wird; diese waren 2022 in die TİP aufgenommen worden sind.
[i] Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin: Dietz Verlag, 1972, S. 122.