Ein Gefälligkeitsurteil für Kabinett und Kapital

Ärzte, die im Marburger Bund organisiert sind können eventuell bald nicht mehr streiken. Hier ein Artrstreik in Wien im Jahr 2008, Foto: János Korom Dr., CC BY-SA 2.0

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Bundesverfassungsgerichts zur Tarifeinheit

Ein Gefälligkeitsurteil für Kabinett und Kapital

Von Jakob Schäfer | 17.07.2017

Die Justiz agiert nicht im luftleeren Raum. Ganz besonders für Gerichtsurteile im Zusammenhang mit dem Arbeitsleben, den Gewerkschaften oder der Sozialgesetzgebung gilt: Rechtsfragen sind Machtfragen. Das ist allen aktiven und bewussten Gewerkschafter*innen lange bekannt. Aber selten wurde ein Gerichtsurteil so schlecht begründet und mit so viel Widersprüchen formuliert wie das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).

Der Grund für die extrem vielen inneren Widersprüche dieses Urteils liegt in der Tatsache begründet, dass der Grundgesetzartikel 9 Abs 3 (Koalitionsfreiheit) eigentlich gar keinen Interpretationsspielraum offenlässt, die Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts aber (mit 6 gegen 2) sich entschlossen hatte, der Bundesregierung die Stange zu halten. Hierzu mussten unbewiesene Behauptungen aus der Gesetzesbegründung herangezogen und neue Rechtsgrundsätze aufgestellt werden. Hinterrücks wurden sie faktisch zu Normen erklärt, die durch nichts begründet sind und die in keinem Fall aus dem Grundgesetz abzuleiten sind.

So wird der anzustrebende oder zu bewahrende „Betriebsfrieden“ als Begründung dafür herangezogen, den kleineren Gewerkschaften faktisch das Grundrecht auf Ausübung gewerkschaftlicher Funktionen abzusprechen. Wie selbst das BVerfG zugeben muss, ist eine Vereinigung nur dann eine Gewerkschaft, wenn sie auch streiken darf. Welchen Sinn aber ein Streikrecht haben soll, wenn es absehbar zu keinem Ergebnis führen kann, weil der möglicherweise erzielte Tarifabschluss nachher keine Anwendung finden wird (weil durch einen anderen Tarifertrag „verdrängt“), das wird tunlichst ausgeklammert. So wurde praktisch in allen Verfassungsbeschwerden hervorgehoben, dass jede Gewerkschaft vor dem Aus steht, die keine Tarifverträge abschließen kann, denn niemand engagiert sich für eine von vornherein wertlose Sache.

Das abweichende Votum der Minderheit der Richter ist ein klares Plädoyer für die Anerkennung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts.

Die Begründung des BVerfG ist hanebüchen. Schon im ersten Leitsatz zu diesem Urteil führt das Gericht aus: „1. Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.“

Weder lässt sich ein solcher Leitsatz aus dem Grundgesetz ableiten, noch kann sich das Gericht auf nachgewiesene Erfahrungen mit „Blockademacht“ stützen. Und dass der Streik zum „eigenen Nutzen“ erfolgen darf, ergibt sich ja gerade aus dem Art 9 Abs. 3 GG. Völlig ungeprüft übernimmt das Gericht die im Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Begründungen.

Sehr gut wird dies in dem abweichenden Votum der Minderheit (Richter Paulus, Richterin Baer) auseinandergenommen. Deren Stellungnahme (auf den Seiten 59 – 68 des Urteils) ist ein klares Plädoyer für die Anerkennung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts (und zwar eines Rechts, das auch materielle Bedeutung hat). Zusammenfassend führen sie aus: „Dieser Eingriff in die Tarifautonomie, die im Mittelpunkt des Art. 9 Abs. 3 GG steht, und die damit einhergehende vielfache Beeinträchtigung der tarifpolitischen Freiheit der Gewerkschaften im Vorfeld ist grundrechtlich von erheblichem Gewicht. Vorkehrungen des Gesetzgebers, um dies dennoch als zumutbar zu rechtfertigen, sind trotz ihrer grundrechtlichen Bedeutung unklar, unzureichend oder fehlen ganz.“ [1] Das Minderheitsvotum enthält auch eine fundierte Kritik an dem gesamten Verfahren der Mehrheit um Vizepräsident Kirchhof. Hier nur eine kleine Auswahl ihrer umfänglichen Einwände:

  1. „Zudem darf sich der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung, die Koalitionsfreiheit einzuschränken, nicht auf schlichte Befürchtungen stützen; eine Einschränkung von Art. 9 Abs. 3 GG ist – wie auch sonst – nur auf der Grundlage tatsächlicher Anhaltspunkte zu rechtfertigen […]. Für eine Sorge um das System muss es „reale Gründe“ geben […].“ (a. a. O. S. 60)
  2. „Der Gesetzgeber darf sich auch nicht dazu hergeben, Arbeitgeber vor einer Vielzahl der Forderungen konkurrierender Gewerkschaften zu schützen (so aber die Begründung BTDrucks 18/4062, S. 8; […].“ (a. a. O. S. 60)
  3. „Schon die zur Begründung des Gesetzes vorgebrachte These, derzeit würden in Fällen der Tarifkollision ausgehandelte Löhne als ungerecht empfunden, was den Betriebsfrieden störe (BTDrucks 18/4062, S. 8, 11 f.), ist weder substantiiert noch mit Blick auf die Gegenargumente in den Stellungnahmen und die nachgewiesen langfristig eher moderaten Lohnsteigerungen auch bei starken Berufsgruppen […] belegt worden.“ (a. a. O. S. 61)
  4. „Auch andere zur Verteidigung des Gesetzes vorgebrachte Behauptungen stehen auf tönernen Füßen. Tarifpluralität ist schon im Ausgangspunkt regelmäßig keine Folge destruktiver Gewerkschaftskonkurrenz, sondern Ausfluss grundrechtlicher Freiheit und insbesondere von Arbeitgebern sehr häufig gewollt […].“ (a. a. O. S. 62)
  5. Das Gericht erkennt in seiner Mehrheit einige Passagen des Gesetzes als verfassungswidrig an, sieht aber seltsamerweise keinen Grund, das Gesetz bis zu einer Neuregelung zu kippen. Für die Fortdauer eines (auch nur in Teilen) verfassungswidrigen Gesetzes gibt es überhaupt keinen sachlichen Grund. Kirchhof und Co operieren stattdessen mit neuen Grundsätzen von wegen der „Betriebsfrieden“ müsse gewahrt und „Blockademacht“ verhindert werden. Die Minderheit des Senats schreibt dazu: „‘Fürsorglichkeit gegenüber dem Gesetzgeber sollte sich das Verfassungsgericht versagen‘ (vgl. BVerfGE 93, 121 <152> – abw. Meinung Böckenförde). Die hier angeordnete Fortgeltung verfassungswidriger Normen ist weder bis zum Ausgleich einer Ungleichheit zwingend […] noch zum Schutz überragender Güter des Gemeinwohls nach Abwägung geboten […] noch ist der dann eintretende Zustand von der verfassungsmäßigen Ordnung weiter entfernt […] als die Situation seit 2010. Die Reparatur eines Gesetzes, das sich als teilweise verfassungswidrig erweist, weil Grundrechte unzumutbar beeinträchtigt werden, gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.“ (a. a. O. S. 67)

Welcher Sachstand nach diesem Urteil?

Das Gericht hat mit seinem Urteil zwar der Regierung (besser gesagt dem Kapital) ein Gefälligkeitsurteil geliefert, auf der anderen Seite aber auch für viel Unklarheit gesorgt. Mit unsauberen Rechtsbegriffen wird den Arbeitsgerichten auferlegt, all die Konflikte zu lösen, die sich aus der Anwendung des Gesetzes und nun des Urteils ergeben. So gibt das Bundesverfassungsgericht ihnen auf, bei der Feststellung, welche Gewerkschaft die Mehrheit hat, „nach Möglichkeit zu vermeiden“, dass die Mitgliederstärke einer Gewerkschaft offengelegt wird und damit die Gegenseite die tatsächliche Durchsetzungskraft abschätzen kann. Allein dies wird zu vielen Verfahren (und widersprüchlichen Urteilen) bei den Arbeitsgerichten führen.

Nicht besser ist es bei der Frage des Abschätzens, wann denn ein anderer – bestehender -Tarifvertrag fortdauern kann. Der Maßstab, dass er „Leistungen von besonderer Qualität“ umfassen muss, um nicht von einem schlechteren Tarifvertag verdrängt zu werden, ist vollkommen unbestimmt.

Nicht minder verschwommen ist das Urteil da, wo es festlegt, dass bis zu einer Neuregelung die Verdrängungswirkung nur eintreten darf, wenn plausibel ist, dass die Interessen der Berufsgruppen der Konkurrenzgewerkschaft „ernsthaft und wirksam“ im Tarifvertrag berücksichtigt wurden. (a. a. O. S. 4)

Neben dieser Unübersichtlichkeit für alle Beteiligten einschließlich der Arbeitsgerichte sind folgende Punkte festzuhalten:

  1. Es können keine Schadensersatzforderungen an Gewerkschaften gestellt werden, die einen Streik für einen Tarifvertrag organisiert haben, der im Nachhinein als nicht wirksam (weil durch einen anderen „verdrängt“) festgestellt wird.
  2. Dies beschränkt zwar das finanzielle Risiko einer Gewerkschaft bei einem Arbeitskampf, aber es schließt dies nicht aus, denn einen Arbeitskampf zu führen, der sich im Nachhinein als zwecklos erweist, kostet auch Geld.
  3. Entscheidend dabei ist aber die politische Folgewirkung für alle Minderheitsgewerkschaften, denn ihnen wird nach diesem Urteil weiterhin ein Grundrecht genommen. Das „Anhörungsrecht“ beim Aushandeln eines Tarifvertrags durch eine andere Gewerkschaft ist im Grunde ein Witz und kein Ausgleich für den Entzug eines Grundrechts.
  4. Kaum besser ist es für diejenigen Gewerkschaften, die nicht wissen, ob sie die Mehrheitsgewerkschaft in einem bestimmten Betrieb sind oder nicht. Sie werden es sich dreimal überlegen, ob sie einen Streik organisieren.
  5. Selbst für die GDL ist die Sache auf der rechtlichen Ebene nach Auslaufen des jetzigen Tarifvertrags (2020) unklar, denn zweifelsfrei ist sie die Minderheitsgewerkschaft bei der Bahn. Sie wird nach diesem Urteil lediglich das Recht haben (so soll der Gesetzgeber jedenfalls nachbessern), mit ihren Sonderbelangen (zu Arbeitszeiten usw.) entsprechend gehört zu werden. Erst wenn nachgewiesen wäre, dass dies nicht der Fall war, dürften die GDL-Kolleg*innen streiken. Was ist aber der Maßstab dafür, dass ihre Interessen „ernsthaft und wirksam“ im Tarifvertrag berücksichtigt wurden?
  6. Am schlimmsten trifft es die kleinen – politisch anders ausgerichteten – Gewerkschaften, wie etwa die FAU. Diesen wird ohne jegliche Chance auf eigenständige Interessenvertretung ein Grundrecht, wie würden sagen ein Menschenrecht, streitig gemacht.
  7. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht im Grunde einzig und allein einen Korrekturbedarf bei den Regelungen für Berufsgewerkschaften.[2] Für die Korrektur setzt das Gericht eine Frist bis Ende 2018. Ist bis dahin das Gesetz nicht „geheilt“, ist es hinfällig, also nicht mehr gültig. Es ist zwar unklar, ob die neue Regierung eine andere Fassung rechtzeitig hinbekommt, aber darauf sollte niemand setzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Bundesverfassungsgericht eine von ihm selbst gesetzte Frist einfach verlängert. Und bei diesem hoch politischen – und klassenpolitisch bedeutsamen – Urteil ist nicht damit zu rechnen, dass das Gericht am 31. 12. das Fallbeil sausen ließe.

Konsequenzen

Die Verantwortung von Seiten maßgeblicher DGB-Gewerkschaften, allen voran IGM und IG BCE, ist bedeutsam. Hätten sie sich von vornherein gegen das Gesetz gestellt, wäre manches anders gelaufen. Die IG BCE hat sich sogar über das Urteil ausgesprochen gefreut.

Markige Worte allein werden das Urteil nicht kippen oder den „Gesetzgeber“ umstimmen. Die Niederlage, die die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften mit diesem Gesetz und jetzt mit dem Urteil erlitten haben, wird nur mit entschlossenem Kampf und langem Atem zu überwinden sein.

Nicht nur aufgrund der jetzt verworreneren Rechtslage und noch nicht absehbarer Tendenzen bei der Auslegung der unklaren Rechtsbegriffe durch die Arbeitsgerichte, sondern auch weil die Gewerkschaften (vor allem im DGB) weitgehend desorientiert sind, ist die Gemengelage auf absehbare Zeit unklar. Unabdingbar werden aber folgende Punkte sein:

  1. An der Verteidigung des Grundrechts, bzw. des Menschenrechts, für die Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen zu streiken und Tarifverträge ohne jegliche Einschränkung abzuschließen, führt kein Weg vorbei. Jegliche Zweideutigkeiten und opportunistischen Anbiederungen führen nur dazu, sich schon mittelfristig ins eigene Fleisch zu schneiden.
  2. Kleinere Gewerkschafen (egal ob Sparten-, Berufs- oder politische Gewerkschaften) sollten sich nicht von den größeren erpressen lassen. Die eigenen Forderungen sollten mehr denn je offensiv vertreten werden. Das schließt aber nicht aus, dass Kooperationen und Absprachen gesucht werden, wenn damit größere Kampfkraft erreicht wird und keine Interessen unter den Tisch fallen.
  3. Dies darf aber nicht dazu führen, dass auf diesem Weg das Gesetz und das Urteil als rechtmäßig anerkannt werden. Unabhängig von einem möglichen Gang zum Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss vor allem daraufgesetzt werden, den Kampf für uneingeschränkte gewerkschaftliche Betätigung mit allen gewerkschaftlichen und politischen Mitteln weiterzuführen.
  4. Letztendlich wird die wirksamste Waffe zur Durchsetzung uneingeschränkter Koalitionsfreiheit (Gewerkschaftsfreiheit) und des Streikrechts immer noch der Streik selbst sein. Hierfür gilt es eine breite Front aufzubauen, sodass mit der Macht des Faktischen die Herrschenden gezwungen sind, diese Rechte tatsächlich anzuerkennen. Schließlich hat die Geschichte hinreichend gelehrt:

Vor dem Streikrecht, war der Streik!

 Fußnoten

[1]http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/07/rs20170711_1bvr157115.html  (S. 59)

[2] „§ 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1130) ist insoweit mit Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.“ (a. a. O. S. 4)

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