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DIE LINKE

Ein bisschen radikaler werden – die Menschen erwarten dies von uns

Von Thies Gleiss | 18.11.2009

Streitschrift an Mitgliedschaft und Parteivorstand zum Wie-Weiter mit der LINKEN

1. “In Brandenburg, in Brandenburg, ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt”
(Rainald Grebe)

Aus unseren Postkästen kommt eine unwiderstehliche Aufforderung: 
“Wie können wir den politischen Einfluss der Partei weiter vergrößern? Was muss geschehen, damit die Mitglieder noch besser Einfluss auf die Politik der LINKEN nehmen können? Wie kann die Mitgliedschaft für jede und jeden noch attraktiver werden?” Die “Mitglieder des Parteivorstandes” wenden sich in einem Brief  vom Ende Oktober mit drei großen Fragen an die Mitglieder der Partei. Wir wollen gerne antworten, wenn auch manchmal etwas fragend. Doch bevor es richtig losgeht, erfordert die aktuelle Entwicklung eine Unwetterwarnung. Die Entscheidung unserer Partei in Brandenburg, sich an einer Regierung unter Ministerpräsident Platzeck und mit der SPD zu beteiligen ist falsch und geradezu die Zusammenfassung einer Antwort auf alle drei oben zitierten Vorstandsfragen: So nicht! Wir wünschen eine sofortige Korrektur dieser Entscheidung.

Zur Erinnerung: Die Regierungsbeteiligung in Berlin war bereits für eine unserer Vorläuferparteien, die PDS, eine fast das politische Überleben kostende Fehlentscheidung. Das Überleben wurde durch die Vereinigung mit der WASG und die Bildung der LINKEN gesichert, aber die Fehlentscheidung der Regierungsbeteiligung in Berlin blieb. Aber paradoxer und erfreulicher Weise hat die Gründung der Partei DIE LINKE die negativen Folgen der Senatsbeteiligung relativiert. Die Politik der Partei in Berlin wird in der Mitgliedschaft und auch in der Öffentlichkeit, als ungeliebte Erbmasse der Vor-LINKE-Zeit  wahrgenommen. Sie war und ist alles andere als das “strahlende Ziel” linker Parteibildung in Deutschland, sondern stand und steht unter permanentem Rechtfertigungsdruck.  Sie stand und steht in personeller und politischer Hinsicht für die verkniffene, demütige und hasenherzige  Rolle, in der sich das deutsche Bürgertum eine Linke nur vorstellen kann. Trotz dieser Relativierung hat sich die LINKE in Berlin blamiert und hat sich gegen die Interessen der “kleinen Leute” und gegen die fortschrittliche soziale Opposition aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gestellt. In keinem anderen Bundesland ist dies in den letzten fünf Jahren geschehen.

Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf, einer Partei anzugehören, die seit Beginn der Parteibildung vor fünf Jahren in allen großen und kleinen Fragen der sozialen Auseinandersetzung auf der richtigen Seite der Barrikade steht, und wir halten dies und nur dies für die Wurzel unseres Erfolges. Wir stehen auf der Seite der Anti-Kriegsbewegung und ermuntern sie zu Hartnäckigkeit und Radikalität bei der Verhinderung der Kriegspolitik der deutschen Regierung, der EU und der Nato. Wir stehen auf der Seite der Umweltbewegung und gehören zu den konsequenten GegnerInnen der Atomenergie, der Kohlegroßkraftwerke und anderer Klimakiller. Wir stehen auf Seite der Bürgerrechtsbewegung gegen Überwachungsstaat, polizeiliche Willkür und angeblichen Anti-Terror-Krieg. Wir stehen auf der Seite der Beschäftigten und Verbraucher bei der Verhinderung von Privatisierungen und für den Ausbau des öffentlichen Sektors.  Wir stellen uns mit der antifaschistischen Bewegung den Alt- und Neonazis in den Weg. Und in allen konkreten Interessenskonflikten zwischen Kapital und Beschäftigten (immer mit der Ausnahme Berlin) hat die LINKE praktische Solidarität mit der richtigen Seite geübt und sich nicht irgendwelchen “Sachzwängen” gebeugt – von den kleinen Konflikten wie den Fahrradwerken in Nordhausen und dem Flughafendienstleister Gate Gourmet  bis zu den großen Kämpfen um Nokia, Opel oder Quelle. Viele dieser Konflikte gingen verloren oder nur mit mäßigen Ergebnissen zu Ende, aber unsere Glaubwürdigkeit hat nicht gelitten.

Mit der Regierungsbeteiligung in Brandenburg tritt die LINKE nun erstmals seit ihrer Gründung in eine Landesregierung ein und eine Bilanz der Koalitionsverhandlungen und die schlussendlichen Vereinbarungen lassen Schlimmes befürchten. Die LINKE in Brandenburg ist bei den Landtagswahlen knapp zweitstärkste, bei den Bundestagswahlen stärkste Partei geworden.  Auf dieser Basis wäre zu erwarten gewesen, dass sich die LINKE mit der SPD vielleicht über das Tempo und einzelne Schritte streitet, aber die großen Fragen der politischen Richtung müssen schon gemeinsame, oder wenigstens von der SPD geduldete sein: Das Jahrhundertthema Umwelt- und Klimaschutz erfordert ein klares Ziel des Ausstiegs aus der Kohleenergie und nicht Maßnahmen der Beibehaltung, sondern des Rückbaus gerade der Braunkohleförderung. Der öffentliche Sektor muss ausgebaut und nicht etwa gesundgeschrumpft werden. Eine Regierung auch in einem Bundesland muss eine klare anti-militaristische Zielsetzung haben und darf nicht den EU-Vertrag von Lissabon gutheißen. Sie muss sich auf Initiativen gegen den Afghanistan-Krieg und gegen Militär- und Rüstungsprojekte im Land verständigen. Sie muss ein Landesentwicklungsprogramm vereinbaren, in dessen Mittelpunkt eine Politik der Umverteilung der Vermögen von oben nach unten und auch der Arbeitszeit in Form von Arbeitszeitverkürzung steht. Sie muss eine widerständige Grundhaltung gegen die finanzielle Ausblutung der Landes- und Kommunekassen entwickeln und sich allen diesbezüglichen Maßnahmen der Bundesregierung praktisch in den Weg stellen. Das papierne Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Potsdam entspricht solchen großen politischen Zielsetzungen nicht. Also: Entweder wurde schlecht verhandelt, oder es geht mit der SPD schlicht nicht.

Die papierne Bilanz ist schlimm, die personelle nicht minder. Die LINKE lässt sich erst ihre Spitzengenossin demontieren, wegen einer “falschen” Vergangenheit. Die Vergangenheit der Agenda-2010-Sozialdemokraten stand erst gar nicht zur Debatte. Dann übernimmt sie die Ministerien, wo sie nur an Glaubwürdigkeit verlieren kann – überlässt die Regie aber einem Ministerpräsidenten aus der SPD.  Und anstatt die SPD auf praktische, auch außerparlamentarische Einheitsaktivitäten zur Unterstützung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu verpflichten, fällt die LINKE diesen Bewegungen, allen voran  der von ihr selbst mit aufgebauten Bewegung gegen den Braunkohleabbau in den R&
uuml;cken.  Diese Bilanz ist schlicht ungenügend und der Eintritt in die Regierung in Brandenburg sollte gar nicht erst begonnen werden.

2. Von oben nach unten und zurück

Der Brief der “Mitglieder des Parteivorstandes” – wir schreiben dies in Anführung, weil auf der PV-Sitzung, wo diese plötzliche Idee eines Briefes an die Mitgliedschaft ein einziges Mal diskutiert wurde, fast alle Vorstandsmitglieder die Idee als gut, die konkrete Umsetzung aber höchstens als gut gemeint bewerteten,  der Brief dennoch fast unverändert veröffentlicht wurde – ist lebendiger Ausdruck einer Politik- und Diskussionskultur sowie eines Parteimanagements des verantwortlichen Apparates, die im Mittelpunkt einer kritischen Bewertung des Istzustandes der Partei und daraus folgender Änderungen stehen sollten. Die LINKE kennt als erlaubtes Bauprinzip nur den vertikalen Diskurs.  Der Vorstand schickt einen Brief nach Unten. Dort dürfen sich dann Kritik und Emotionen in möglichst knappen Stellungnahmen äußern, die nach Oben zurück gehen. Abschließend verarbeiten MitarbeiterInnen des Apparates nach mehr oder weniger willkürlichen, aber immer verborgenen Kriterien die Impulse aus der Basis, schreiben dem Vorstand einen neuen Text und der verkündet: Wir haben begriffen; die Einheit ist wieder hergestellt.  Für Programmdiskussionen, egal ob zu Wahlen oder allgemeinem Selbstverständnis, schickt der Vorstand einen geschlossenen Text nach Unten. Dort dürfen möglichst kurze Änderungsanträge formuliert werden, die dann von einer machtvollen Allianz aus “zusammenfassender Redaktionsarbeit” der ApparatmitarbeiterInnen, Antragsberatungskommission und Parteitagsregie zu einem dieser schrecklich langweiligen, sprachlich barbarischen und politisch meist unverbindlichen “Programme” in Parteisprech verwandelt werden.

Dieser zurecht etwas “militärisch” anmutende und immer mit den entsprechenden moralischen Imperativen “Einheit!”, “Geschlossenheit!” oder “Streitet euch nicht!” angefeuerte vertikale Diskurs bildet im besten Fall die Partei und ihr Wollen statisch ab. Meistens sind die Ergebnisse aber schlechter als der beste Fall: schräg, lebensfremd, langweilig. Dafür sorgen nicht zuletzt zwei weitere Strukturmerkmale: Die LINKE leistet sich einen fast feudalen und in einer offenen, von Informationstechnologien mit gigantischen kollektiven Möglichkeiten geprägten Gesellschaft sehr altmodisch daherkommenden Chef- und Hierarchiekult mit gewährten oder auch nur genommenen Sonderrechten für Vorsitzende und einer unendlichen Fülle von Zugeständnissen an die bürgerliche Medienwelt, die in ihrer Aufgabe, die bestehenden Verhältnisse gut und stabil zu schreiben, solche affirmativen und undemokratischen Personalisierungen wünscht und fördert. Auch hier gilt, wenn er pfiffig vorgetragen wird – und auch wir freuen uns an temperamentvollen Auftritten und den wenigen kühnen Versuchen programmatischen Vordenkens seitens unserer “Promis” – übertüncht dieser Chefkult im besten Fall die Tristesse des vertikalen Diskurses. Aber er bestätigt gleichzeitig dessen Grundfehler, die Partei nur statisch wahrzunehmen, was in dem Ausdruck “stehende Ovationen”, die ein Parteitag ihrem Vorsitzenden schenkt, schon begrifflich verankert ist. Die Delegierten klatschen wie wild, aber politisch bewegen sie sich nicht. Im Normalfall wird der Chefkult aber nicht pfiffig vorgetragen, sondern tritt als schnöde Vorform der Bürokratisierung und Funktionärsgetue auf, mit all den üblen Nebenerscheinungen aus Kampf der Eitelkeiten, Intrigen, Kofferträgertum und einem parteiinternen Selektionsprozess, der nicht die klügsten und kreativsten Kräfte, sondern die am besten Angepassten in den Vordergrund bringt und immer auf Kosten der von der wirklichen Welt bereits diskriminierten Menschen, Frauen zuerst, geht.

Das zweite, die objektiv schon begrenzten Potenzen eines nur vertikalen Diskurses hemmende Strukturmerkmal ist die Existenz eines zweiten, ungleich mächtigeren “Oben”: Die Parlamentsfraktionen. Sie sind das von Staatsknete gemästete eigentliche Kraftzentrum der Partei, dessen Einbindung in die Parteikultur nicht nur ebenfalls eindimensional Oben-nach-Unten geschieht, sondern zusätzlich noch stark einseitig ist. Die Mitglieder rackern sich  ab, damit eine kleine Auswahl von ihnen in den Genuss der politisch-psychologischen und materiellen Privilegien der bürgerlichen Parlamentsmaschinerie kommt. Zurück erhalten sie im Wege der Schenkung ohne weitere Ansprüche Parteibüros, hauptamtlich Angestellte, Presseerklärungen und viel buntes, professionell hergestelltes Propagandamaterial. Ein wahrer Regen von oben, in dessen Produktion oder Überprüfung der Sinnhaftigkeit sich die ParlamentaristInnen von keiner Parteiinstanz, keinem Parteitag und keinem Vorstand, hereinreden lassen. Und wenn die Einsicht doch dazu führt, sich einmal hereinreden zu lassen, dann kommt immer irgendein Gesetzes- und Geschäftsordnungsfetischist, der verkündet, dies wäre in Deutschland nicht erlaubt, und wenn dagegen verstoßen würde, müssten die Parlamentswahlen wiederholt werden. Oh Schreck! Die politische Fixierung auf die Parlamentsarbeit passt wie die Faust aufs Auge zum vertikalen Diskurs, der die Partei DIE LINKE prägt. Sie ist sozusagen eine Form der Genugtuung für dessen Beschränktheit. Die Parlamentsarbeit scheint all den alltäglichen Parteimühen einen Sinn zu geben. Sie erscheint als das eigentliche Ziel der politischen Arbeit. Und – vielleicht in ihren Auswirkungen am dramatischsten – sie ordnet die vom vertikalen Diskurs hinterlassene Hierarchie von Oben nach Unten im Sinne einer Rangfolge von Wichtigkeiten – bei Personen und Programmen. Das ist vor allem auf kommunaler Ebene fast schon eine tödliche Infektion der Partei. Jede und jeder Linke weiß, die politische Arbeit gegen die herrschenden Verhältnisse und deren Profiteure muss ihr Zentrum in den Kommunen haben – bei den Menschen, im Stadtteil, in den Schulen, Betrieben und kulturellen Einrichtungen. Die Orientierung auf den Parlamentarismus übersetzt das richtige “Die Kommune muss das Zentrum sein” in das zwar ähnlich klingende, aber fatale “Die Kommunalparlamente müssen das Zentrum sein”.  Bei den Kommunalwahlen nehmen in Deutschland ungefähr 40 Prozent der Wahlberechtigten teil. Sechzig Prozent wissen von der machtpolitischen und ökonomischen Beschränktheit der Kommunalparlamente oder ahnen sie zumindest. Trotzdem widmen sich die Kreisverbände der LINKEN mit neunzig und mehr Prozent dieser weitgehend uninteressanten und überflüssigen Arbeit. Tausende von Mitgliedern, durchweg fast der gesamte aktive Bestand am Ort, werden darauf orientiert und von wirklicher politischer Arbeit abgehalten. Und der vertikale Diskurs in der Partei verhindert
systematisch ein Infragestellen dieser Kräfteverteilung und “beweist” täglich die angebliche Wichtigkeit der kommunalen Parlamentsarbeit. Dieser Prozess wurde bei den Grünen zurecht als “Durchmarsch der Gartenzwerge” bezeichnet, der lange vor der großen Rechtsentwicklung der Grünen und als deren Voraussetzung eintrat.

Diese ganze schöne Scheinwelt wird aber brutal zerrissen, wenn sich die “Macht-” oder “Regierungsfrage” zum Eintritt in die Parteidebatte anmeldet, und damit wären wir dann wieder in Brandenburg… Da geht es um gesellschaftliche Kräfte, die analysiert und gebändigt werden wollen und prinzipiell nicht eindimensional von Oben nach Unten auftreten.

Jedes Parteimitglied weiß und erlebt natürlich, dass das wahre Parteileben, der eigentlich spannende Diskurs, auf horizontaler Ebene stattfindet  – in der praktischen politischen Außenarbeit, zwischen den Parteimitgliedern, in Arbeitsgemeinschaften, in politischen Strömungen und, nicht zuletzt, in privaten Kreisen, Hinterzimmern, informellen Treffen und allen Formen einer kollektiven Parteikultur – auch wenn letztere in der LINKEN stark vernachlässigt wird. Das ist die eigentlich Sphäre, wo die Partei selbst als soziale Bewegung erfahren, wo Kreativität gefordert und erzeugt wird. Das steht in der Realität der LINKEN im krassen Gegensatz zum immer größer werdenden Teil der “ausführenden Parteiarbeit”, des erzwungenen oder mangels Alternative nörgelnd akzeptierten  oder auch mal erfreut angenommenen Konsumismus gegenüber den Geschenken der ParlamentaristInnen und der Erduldung unendlichen Pöstchengerangels und Wahlkampfformalia.

Die LINKE hat durchaus diesen Widerspruch und die Beschränktheit des vertikalen Diskurses wahrgenommen. Sie hat zahlreiche Kreis-, Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften eingerichtet oder deren Existenz hingenommen. Sie erlaubt ausdrücklich politische Strömungen und regelt deren Integration in die Gesamtpartei. Aber all das ist nicht nur nicht zu Ende gedacht, sondern in seiner Wirkung fast auf den Kopf gestellt. Die Arbeitsgemeinschaften entwickeln sich zu dauerhaften Zirkeln von ExpertInnen, die nicht in und auf die Partei einwirken, sondern Themenbereiche externalisieren und von der Partei hinterlassene Nischen abdecken sowie letztlich Seiteneingänge für Parteikarrieren aufzubauen versuchen. Das trifft besonders auf die mächtige BAG Betrieb und Gewerkschaft zu, die einer AFA in der SPD immer ähnlicher wird. Noch bedenklicher ist es mit den politischen Strömungen – mit Ausnahme des bewusst als offenes und auf die Gesamtpartei orientierten Netzwerkes “Antikapitalistische Linke” – die sich komplett als Partei in der Partei verstehen, als dauerhafte organisatorische Zweitheimat, die wenigstens ein bisschen horizontalen Parteidiskurs erlaubt. Sie degenerieren zudem immer schneller zu schnöden Interessensgemeinschaften, die den Kampf um persönliche Karrieren und Parlamentsposten erleichtern sollen. Damit sind sowohl Arbeitsgemeinschaften als auch besonders die Strömungen nicht nur keine Herausforderung für den vertikalen und zentralisierten Parteiaufbaukurs, sondern die fast notwendige Ergänzung zur Macht des Parteiapparates und –vorstandes und der Verselbständigung der Parlamentsfraktionen.

Aber die politischen Strömungen verweisen auf einen Zustand, der für den Parteibildungsprozess und den bis heute andauernden Erfolg der LINKEN von existenzieller Bedeutung ist: Die LINKE ist eine Partei unterschiedlicher Meinungen, auch zu großen Fragen. Sie ist, wie alle so schön betonen, eine plurale Partei. Diese Eigenschaft war wichtigste Voraussetzung dafür, dass die LINKE das tiefe Loch überwinden (noch nicht schließen!) konnte, das die Todeskrise des Stalinismus oder “realen Sozialismus” und die tiefe Krise des Sozialdemokratismus hinterlassen haben. Wer den pluralen Charakter der Partei ernst nimmt, der oder die muss der bewussten Organisierung eines horizontalen Parteidiskurses einen hohen Stellenwert einräumen. Die Partei ist nicht “geschlossen” oder “einheitlich” – daran ändern auch Appelle nichts, sondern nur ein Debattenprozess, der nicht nur in Vorstandsvorlage-Änderungsantrag-Dimensionen läuft, sondern entlang politischer Alternativen. Die nächste Zukunft der Partei wird nicht durch “SED-Abstimmungen” mit 99 Prozent Zustimmung geprägt sein, sondern durch Herausbildung, Duldung und konstruktive Integration von Minderheits- und Mehrheitspositionen, die oft auch sehr knapp sein werden. Wer sich dem entgegenstellt, wie wir das immer häufiger und auf allen Ebenen der Partei erleben, der oder die züchtet zum oben beschriebenen parteiinternen Selektionsprozess noch einen zweiten, zerstörerischen hinzu: er treibt politische Gesamt-Alternativen zum Vorstandskurs und deren AnhängerInnen zur Spaltung und zum Austritt aus der Partei. In der Entwicklung einer Debattenkultur entlang von Alternativen hätten auch die Strömungen ihren eigentlichen Sinn und auch – das wird die “Unabhängigen” freuen – eine Perspektive gewonnen, sich auch mal auflösen zu können. Wenn die LINKE also zum Beispiel einen Parteitag organisiert, auf dem anstatt einer stundenlangen Rede der Vorsitzenden, gleichberechtigte politische Einleitungen unterschiedlicher  Positionen gehört werden, eine Debatte entlang dieser Alternativen geführt wird, Abstimmungen mit Mehr- und Minderheit erfolgen, deren Ergebnisse sich dann auch in der Zusammensetzung der Leitungsorgane widerspiegeln – dann wäre ein solcher Parteitag lebendiger, wirkungsvoller und demokratischer – und die Umfrageergebnisse zu den nächsten Parlamentswahlen würden auch eher nach oben als nach unten gehen.

3. Zur Auflockerung ein paar praktische Vorschläge

Bleiben wir bei praktischen Beispielen und der konkreten Beantwortung der Fragen aus dem Brief der “Mitglieder des Parteivorstandes”. Wir hätten da einen Wunschzettel, der gern von oben nach unten abgearbeitet werden kann:

  • ab sofort sind die Mitglieder Ausgangspunkt und Zentrum aller Parteiüberlegungen und nicht die “Wähler”, die Erwartungen der Medien oder die “Umfragen”;

  • wir beginnen einen kleinräumigen Organisationsaufbau in deren Zentrum Arbeits- und Lebensumfeld der Mitglieder stehen, den Aufbau von Betriebsgruppen, Stadtteil-, Schul- und Universitätsgruppen;

  • wir setzen konsequent die Geschlechterquotierung um, gerade auf den Ebenen, wo es angeblich nicht gehen soll;

  • wir sorgen für eine breite Streuung von Ämtern und Funktionen, Ämterhäufung wird geächtet und verhindert;

  • wir sorgen für regelmäßige Rotation bei den Ämtern und Befristungen;

  • wir halten die Trennung von Parteiamt und parlamentarischen Mandaten strikt ein, gerade auf kommunaler Ebene;

  • auch parlamentarische Ämter werden auf maximal zwei Legislaturperioden befristet, wie seit Jahren in der italienischen Linken bewährt;

  • wir befolgen den Rat der niederländischen SP “Erst Mitglieder, dann Wahlbeteiligung” und nehmen nicht an jeder kommunalen Wahl teil und beschränken die Arbeit in kommunalen Parlamenten zugunsten einer außerparlamentarischen Arbeit in den Kommunen;

  • wir befolgen einen zweiten Rat der niederländischen SP und sagen “No Faction Without Action”, d.h. jede/r Abgeordnete jedes Parlamentes muss in praktische außerparlamentarische Arbeit vor Ort integriert sein;

  • wir stellen einen großen Teil der Arbeit der Berliner Parteizentrale um auf logistische, materielle und politische Hilfestellung der kleinräumigen Mitgliederorganisation einschließlich Arbeit der Hauptamtlichen vor Ort;

  • statt zentralistischer Kampagnen und Propagandamaterial wird überwiegend orts- und einsatznaher Aufklärungs- und Bildungsbedarf versorgt;

  • wir bekennen uns ausdrücklich zu Vielfalt und Eigenkreativität, auch wenn dies das “einheitliche Erscheinungsbild” und “corporate Design” verletzt;

  • statt uniformer Internetauftritte und zentralistischer Reglementierungen rufen wir alle Mitglieder auf, sich am wirklichen Online-Leben zu beteiligen, mit eigenen Seiten, Blogs und allem, was dazu gehört;

  • wir bekennen zu uns politischer Pluralität und auch grundsätzlicher Alternativen in unseren Reihen, wir organisieren politische Debatten unter Berücksichtigung dieser Alternativen, auch um sie konstruktiv aufzuheben;

  • wir organisieren Parteitage als wirkliche Foren der Mitgliedschaft und Zentrum der Delegiertendebatten, politische Alternativen werden gleichberechtigt integriert, Parteitage werden möglichst auf thematische Schwerpunkte ausgerichtet;

  • wir organisieren die medien-orientierten Auftritte, Reden unserer Prominenz usw. auf eigenständigen Veranstaltungen  vor oder nach Parteitagen;

  • wir wählen Leitungsorgane, Kommissionen gemäß der tatsächlichen politischen Meinungen und Abstimmungsergebnisse mit Minderheitenschutz auf allen Ebenen;

  • wir orientieren unsere Wahlkämpfe auf die direkte Unterstützung unserer Mitglieder vor Ort und geben die Mittel entsprechend aus;

  • wir organisieren obligatorische öffentliche Bilanzkongresse zu unserer Parlamentsarbeit mit anderen linken Kräften und sozialen Bewegungen;

  • wir treten innerhalb sozialer Bewegungen und den Gewerkschaften offen als Unterstützer der LINKEN auf, machen kollektive Vorschläge und werden gegebenenfalls auch mal die Vorstände kritisieren oder gegen sie antreten.

Es gäbe da noch einiges mehr, aber zum Anfangen reichen diese Vorschläge sicherlich aus.

4. Wir selbst sind das Programm

Wir geben es gerne zu: das, was wir am Zustand der LINKEN bemängeln, hat auch viel mit der notwendigen Programm-Diskussion der LINKEN zu tun. Form und Inhalt gehören schon zusammen und so ist es kein Zufall, dass das sich bei der LINKEN immer mehr breit machende Organisationsmodell eine ziemliche Kopie sozialdemokratischer Organisation der Nach-Godesberg-SPD ist. Unsere Sorge, dass dem auch eine Übernahme der damaligen politischen Programmatik folgt, ist also durchaus berechtigt.  Wir wollen ein solches Programm nicht, weil es zutiefst unrealistisch ist, die Menschen desorientiert und soziale Konflikte in Niederlagen münden lässt.

Die LINKE hat 80.000 Mitglieder. Sie ist kein Zusammenschluss von Bürgersöhnchen, die eine radikale Wende herbeiflugblättern, wie es sie vielleicht in den 1970ern gab. Die LINKE ist auch kein Klientelzusammenschluss, der bestimmte Privilegien verteidigen will. Wer Mitgliedschaft und auch WählerInnenschaft der LINKEN analysiert, stellt fest, hier versammeln sich die Opfer der neoliberalen Politik, hier versammeln sich diejenigen, die zum Widerstand dagegen bereit sind. Wir werden von ebensolchen Menschen gewählt, zudem von Menschen die Sorge vor weiteren sozialen Absturz haben, von RentnerInnen, von perspektivlosen jungen Menschen und von Opfern der kapitalistischen Eingliederung der ehemaligen DDR. Wir beginnen unsere Forderungen an die Programmdiskussion  der LINKEN deshalb mit einer simplen, frechen, aber völlig angemessenen Feststellung: Das Programm sind zunächst wir selbst. Unsere Mitglieder und AnhängerInnen wollen einen Mindestlohn, wollen Umverteilung von oben nach unten, wollen die Abschaffung von  Hartz-IV, wollen Arbeitszeitverkürzung, sind gegen Studiengebühren, gegen Atom- und Kohlekraftwerke und gegen Krieg –
weil sie selbst es wollen und für ein glücklicheres Leben benötigen.

Wir wünschen uns deshalb im gesamten Auftreten der Partei DIE LINKE, in Flyern und Wahlplakaten, in Reden und Dokumenten, eine deutliche Hinwendung zu mehr Subjektivität und mehr “Politik-in-der-ersten-Person”. Allein eine solche Veränderung würde die Programm-Debatte der LINKEN von viel unnötigem Techtelmechtel befreien.

Auf dieser Grundlage und auf dem Hintergrund der tiefen weltweiten Krise des Kapitalismus fällt die zweite Entscheidung nicht schwer: Wir stellen die Systemfrage. Wir haben uns organisiert, treten zu Wahlen an, weil kleine Reformen, beschränkte Gesetzesänderungen und bescheidene Tarifforderungen nicht ausreichen. Wir sind nicht gegen diese Reformen und Forderungen, aber sie reichen nicht aus. Deshalb wollen wir nicht mit Willy Brandt nur ein zweites Mal “Mehr Demokratie wagen”, sondern wir wollen ein zweites Mal “Den Sozialismus wagen”.

Deshalb war es eine schöne Erfahrung, dass die aufgescheuchte Medienwelt nach Veröffentlichung des Entwurfs zum Landtagswahlprogramm in NRW nach Luft schnappte und uns radikalen Systemwechsel vorwarf. Sie haben uns darin schon richtig verstanden: Ohne Entmachtung der großen privaten Wirtschaftsunternehmen wird weder das Klima gerettet, noch ein gutes Leben für alle Menschen erreicht. Immer deutlicher wird zudem: Auch die Verteidigung des Bestehenden, die Arbeitsplätze bei Opel und anderswo zum Beispiel, ist nicht ohne diese alltägliche Machtfrage mit hoher Konfliktbereitschaft zu bekommen.

Wir halten die Programmdebatte der LINKEN für sehr erforderlich, um einen nächsten qualitativen Schritt auch im Parteiaufbau voranzukommen. Diese Debatte wird, wenn sie zu Ergebnissen führen soll, auf Grund der eben erwähnten Ausgangsbedingungen von “oben” losgehen müssen: von einer Begründung, dass das gesamte kapitalistische System ein historischer Irrläufer und Minderheitenprojekt ist. Das öffentliche Massenbewusstsein ist darin weit ehrlicher als viele aus unseren eigenen Reihen: Darin  sind wir die SozialistInnen, was denn sonst? Aber kaum eine/r weiß, was das eigentlich ist: der Sozialismus. Es ist unsere Aufgabe, diese Lücke zu schließen.

Aber unsere Programm-Diskussion darf nicht “oben” verweilen. Sie muss nach “unten”, in die täglichen Lebenserfahrungen der Menschen, die wir erreichen und mobilisieren wollen, wirken. Dort werden ganz andere Fragen im Mittelpunkt stehen. Fragen nach Sofortlösungen zur Sicherung von Einkommen, Fragen nach guter Bildung und Ausbildung, nach bezahlbaren Wohnraum und umfassender Gesundheitsversorgung. Aber all das wird nicht durch ein Kreuz am Stimmzettel und auch nicht durch eine starke linke Fraktion oder linke Regierungsbeteiligung erreicht werden – die können nur einen kleinen Teil dazu beitragen. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse können und müssen an ihrer materiellen Basis verändert werden. Deshalb ermutigen wir die Menschen, sich zu wehren, in den Streik zu treten und den Konflikt, den Kampf um die eigenen Interessen weniger zu fürchten als ein Fortbestehen der heutigen Verhältnisse. Wir müssen mit unseren Parteistrukturen in diesen Konflikten dabei und nützlich sein. Schon immer haben Linke sich deshalb für Forderungen besonders engagiert, um die zu kämpfen heute erforderlich und einsichtig ist, die aber je mehr sie konkretisiert und umkämpft  werden, über die Grenzen des bestehenden Systems hinaus wirken und die Konturen einer neuen, solidarischen Gesellschaftsordnung herausbilden. Solche Übergangs-, oder wie sie viele Linke heute nennen, Richtungsforderungen, werden im Zentrum von Programm und Strategie der LINKEN stehen. Wir sind sicher, dass eine radikale Arbeitszeitverkürzung, ein Ausbau des öffentlichen Sektors, an dessen Beginn (nicht Ende!) wahrscheinlich oft Verstaatlichungen privater Unternehmen stehen werden, radikale Klimaschutzverordnungen und ein Ausbau demokratischer Freiheitsrechte wesentliche Bestandteile eines solchen Forderungsprogramms sind. All das wird nur durch stetig ausgebaute Strukturen der Produktionskontrolle, der Selbstorganisation und Selbstverwaltung zu verfestigen sein. Das ist das Gegenteil  der elenden Stellvertreterpolitik, wie sie alle anderen Parteien anbieten, sondern ein Angebot, mit uns als Teil der wirklichen Bewegung die Welt zu verändern.

Thies Gleiss
(Mitglied des Parteivorstandes)

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