Repression gegen palästinasolidarischen jüdischen Verband

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Frankreich

Repression gegen palästinasolidarischen jüdischen Verband

Von Béatrice Orès (Interview), Mitvorsitzende der UJFP | 08.10.2025

„Die UJFP erinnert bloß an das Völkerrecht – insbesondere an das Recht auf bewaffneten Widerstand“

Räume der „Union juive française pour la paix“ (UJFP, jüdische französische Union für den Frieden)[i] sind durchsucht worden. Die NPA-L’Anticapitaliste unterstützt euch natürlich voll und ganz. Kannst Du uns erklären, was da vor sich geht?

Im Jahr 2024 hat die „Jeunesse française juive“ (Französische jüdische Jugend) Klage gegen die UJFP eingereicht, nachdem wir am 7. Oktober und am 12. Oktober 2023 zwei Kommuniqués auf unserer Webseite veröffentlicht hatten, darin haben wir bloß auf das Völkerrecht hingewiesen – insbesondere auf das Recht eines unter Besatzung lebenden Volkes, sich zu verteidigen, auch mit bewaffnetem Widerstand. Wir haben die koloniale Situation der Bewohner:innen von Gaza und des palästinensischen Volkes unterstrichen.

Aufgrund dieser Anzeige ist unser presserechtlich Verantwortlicher im Juni 2024 zweimal auf dem Polizeirevier vernommen worden. Seitdem war nichts mehr passiert, und wir haben gehofft, das Dossier sei ohne weitere Maßnahmen zu den Akten gelegt worden. Vor einem Monat haben Polizisten ihn in seinem Haus in Dinard [Département Ille-et-Vilaine, Region Bretagne] aufgesucht. Da sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten, forderte er sie auf zu gehen. Am Donnerstag, den 11. September, kamen sie zurück, als er auf dem Weg zur Fête de l’Humanité war. Seine Partnerin öffnete ihnen die Tür, weil sie drauf und dran waren, die Tür aufzubrechen. Die Polizei beschlagnahmte einige persönliche Unterlagen und Bücher aus seiner Bibliothek.[ii]

Dieses Vorgehen überrascht uns, denn wir sind ein jüdischer Verein, natürlich antizionistisch, der seit 2016 die Arbeit und die Projekte von Bauern in Gaza unterstützt, damit sie in dem Gazastreifen, der seit 2007 blockiert wird, eine Selbstversorgung mit Lebensmitteln aufbauen können.

Wir haben ein wenig den Eindruck, dass die UJFP gezielt verfolgt wird, denn zusätzlich zu diesem Gerichtsverfahren haben wir erfahren, dass euer Bankkonto geschlossen wurde.

Die UJFP ist kein Einzelfall, wir betrachten uns nicht als Ausnahme. Was uns hier betrifft, ist Teil der allgemeinen Unterdrückung von Bewegungen, die Palästina unterstützen und gegen Rassismus kämpfen, schaut euch an, was mit dem CCIE (Collectif contre l’islamophobie en Europe, Kollektiv gegen Islamophobie in Europa) passiert[iii] und die sehr hohe Zahl von Strafverfahren wegen „Verherrlichung des Terrorismus“ – wir wissen nicht einmal genau, wie viele es sind, weil viele nicht darüber sprechen.

Aber ja, unser Konto ist geschlossen worden. Im November 2024 haben wir ein Einschreiben erhalten, in dem uns ohne Vorwarnung und ohne vorherigen Austausch brutal mitgeteilt wurde, dass der Crédit Coopératif beschlossen hat, unser Bankkonto zu schließen. Bis heute wissen wir nicht, aus welchem Grund diese Entscheidung getroffen wurde. Banken sind nicht verpflichtet, die Schließung eines Kontos zu begründen. Wir haben mehrmals geschrieben und nach den tatsächlichen Gründen gefragt, aber keine Antwort erhalten. Viele Aktivist:innen und Kund:innen des Crédit Coopératif haben diese Frage gestellt. Die Antworten waren unterschiedlich, aber keine hat die Frage wirklich beantwortet. Wir hatten seit 2018 nichts an unseren Verfahren für Geldüberweisungen nach Gaza geändert, die der Bank bestens bekannt waren.

Werden eure Solidaritätsaktivitäten durch diese Situation behindert?

Nach zahlreichen Verhandlungen ist uns eine Frist von neun Monaten eingeräumt worden, sodass das Konto Ende Juli 2025 endgültig geschlossen wurde. Wir haben uns gekümmert, ein Konto bei einer anderen Bank eröffnet und zusammen mit unserem Ansprechpartner vor Ort einen neuen Weg gefunden, um den Bauern und Bäuerinnen in Gaza weiterhin zu helfen. Unsere Hilfe ist vielfältig: Wir sorgen jede Woche für Mahlzeiten, Bildungsworkshops für Kinder und Workshops zur psychologischen Unterstützung, meist für Frauen. Letzte Woche konnten sie aufgrund der Situation nicht stattfinden, aber diese Woche haben sie es wieder geschafft, was unter den extremen Bedingungen, unter denen die Menschen in Gaza heute leben, keine Selbstverständlichkeit ist.

Seit Oktober 2023 haben wir über die Spendenaktion der UJFP für Gaza, die über unsere Webseite läuft, mehr als 700.000 Euro erhalten. Wir erhalten genaue Finanzberichte von unserem Repräsentanten in Gaza und können sehr genau nachweisen, wofür das von uns gesendete Geld verwendet wird. Es handelt sich um beträchtliche Summen, aber auch die Arbeit, die die Teams der UJFP vor Ort in Gaza leisten, ist immens.

Von Anfang an sind die Spendengelder der UJFP für Entscheidungen und Projekte in Gaza verwendet worden. Nicht wir, nicht die französische Solidaritätsbewegung, sondern die Menschen in Gaza und unser Repräsentant in Gaza legen fest, was sie brauchen. Wir beschränken unsere Rolle auf das Sammeln von Spenden.

Kannst du uns etwas über das Buch erzählen, das die UJFP in diesem Jahr herausgegeben hat?

Im April 2025 haben wir ein Buch mit dem Titel „Gaza – Tod, Leben, Hoffnung[iv] veröffentlicht, in dem wir versucht haben, die Situation im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 7. Oktober zu kontextualisieren. Wir arbeiten seit langem mit Bauern und Bäuerinnen in Gaza zusammen. In diesem Buch stellen wir die Projekte vor, die durchgeführt worden sind: einen Wasserturm, die Bewässerung von zahlreichen landwirtschaftlichen Parzellen, die Installation von Sonnenkollektoren (denn man muss bedenken, dass es in Gaza nur wenig Strom pro Tag gibt, Israel entscheidet, wer den Strom abschaltet oder wieder einschaltet), eine solidarische Baumschule, ein Bauernhaus – dies war ein wichtiges Anliegen der Bauern, die unabhängig von allen politischen Parteien in Gaza sind, sie wünschen sich einen Ort, an dem sie untereinander über die Projekte diskutieren konnten, die sie umsetzen wollten. All das ist Anfang 2024 zerstört worden.

Ein Teil dieses Buches ist von solidarischen Aktivist:innen geschrieben worden: von Pierre Stambul, Sarah Katz und mir von der UJFP sowie von Brigitte Challande und Kamel Elias, einem gebürtigen Palästinenser, der in Frankreich lebt und Agronom ist. Es gibt auch einen ganzen Abschnitt mit Berichten unseres Korrespondenten in Gaza, Abu Amir. So zeigt ein ganzes Kapitel, wie sich die Bewohner von Gaza, insbesondere die Bauern und Bäuerinnen, nach dem 7. Oktober organisiert haben, um zu überleben, nachdem sie ihre gesamte Arbeit verloren hatten. Sie konnten ihr Land nicht mehr bewirtschaften und waren daher mittellos. Zunächst haben sie Zuflucht in Schulen gefunden, aber die Schulen wurden bombardiert. Sie sind am Strand gelandet, unweit der Stadt Deir al-Balah. Die französische Solidaritätsbewegung hat sie dabei unterstützt, sanitäre Einrichtungen zu schaffen, Schulen für die Kinder einzurichten, Küchen, um die Bauern und Bäuerinnen, die nichts mehr hatten, mit Essen zu versorgen, usw. All diese Elemente werden in den Berichten lebendig, die Abu Amir uns Tag für Tag schickt. Es ist sehr bewegend zu sehen, wie sich eine Zivilgesellschaft unter extremen Bedingungen organisiert und weiter als Gesellschaft funktioniert – auch wenn dies derzeit immer schwieriger wird; das ganze Jahr 2024 über konnten sie weiter als Gesellschaft funktionieren.

Wie in dem Buch erklärt wird, gibt es in allen Flüchtlingslagern Mukhtar [Vorsteher], also eine Leitung. Abu Amir spricht mit diesen Leitungen, um zu sehen, wie er die Hilfe leisten kann, die die französische Solidarität möglich macht. Dieses Buch unterscheidet sich von anderen über Gaza, da es sich um Berichte handelt, die direkt aus Gaza stammen.

Und wie engagiert sich die UJFP gegen den derzeitigen Völkermord?

Wir haben uns gesagt, wir würden versuchen, spektakuläre Aktionen durchzuführen, um etwas in Bewegung zu bringen. Zuerst haben wir ein wildes Lager an der Bastille errichtet, das anderthalb Tage lang bestand, bevor es brutal geräumt wurde. Dann haben wir eine zweite Aktion durchgeführt: drei Tage lang haben wir die 18.347 Namen der Kinder verlesen, die in Gaza ermordet worden sind – das war die Zahl am 31. Juli 2025. Das war sehr bewegend.

Wir setzen natürlich unsere gemeinsamen Aktionen und Mobilisierungen mit den kollektiven Strukturen fort, in denen wir uns engagieren: im „Collectif national pour une paix juste et durable entre Palestiniens et Israéliens“ (Nationales Kollektiv für einen gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Palästinensern und Israelis), in der „Plateforme des ONG pour la Palestine“ (Plattform der NGOs für Palästina) und natürlich in der BDS-Kampagne – die UJFP gehört zu den Gründungsorganisationen von BDS-France. Wir haben auch sehr gute Beziehungen zu „Urgence Palestine“[v]; viele Aktivist:innen der UJFP sind mehr oder weniger überall im Land in lokalen Gruppen von Urgence Palestine aktiv.

Kannst du uns ein paar Worte darüber sagen, was auf der Seite der antizionistischen jüdischen Stimmen passiert?

Es vollzieht sich ein bedeutender Wandel. Das konnte man auch auf dem Fête de l’Huma [12. bis 14. September] beobachten: Eine Reihe von jungen jüdischen Männern und Frauen ist an unseren gemeinsamen Stand von UJFP und TSEDEK![vi] gekommen – junge Menschen, die zum Teil verunsichert sind über das, was geschieht, und nicht mit dem einverstanden sind, was die israelische Armee derzeit tut. Diese Dynamik zeigt sich auch in der Entwicklung internationaler Netzwerke. „European Jews for Palestine[vii] vereint Gruppen aus 16 europäischen Ländern, um gemeinsame Aktionen und Stellungnahmen europäischer Jüdinnen und Juden zu entwickeln, die sich gegen den Völkermord aussprechen. Auf internationaler Ebene erlebt „Global Jews for Palestine“ (gegründet 2018) derzeit ebenfalls einen neuen Aufschwung.


Dieses Interview ist in der französischen Wochenzeitung LʼAnticapitaliste Nr. 767 vom 18. September 2025 veröffentlicht worden. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen und Hyperlinks versehen von Wilfried


[i] Die Assoziation „Union juive française pour la paix“ (UJFP, jüdische französische Union für den Frieden) beschreibt ihr Selbstverständnis auf ihrer Webseite so:
„Wer wir sind: Die UJFP wurde 1994 aus dem Wunsch nach einem gerechten Frieden im Nahen Osten gegründet. Es handelt sich um eine säkulare jüdische Vereinigung, deren Mitglieder unterschiedliche Hintergründe und Lebenswege haben und sich nachdrücklich für das Selbstbestimmungsrecht der Völker einsetzen.“
Bekannte verstorbene Mitglieder waren Raymond Aubrac, Daniel Bensaïd, Stéphane Hessel, Pierre Vidal-Naquet.
Führende Mitglieder der UJFP haben einen Band herausgegeben, in dem jüdische Stimmen versammelt sind, die „sich im Westen, innerhalb der arabisch-moslemischen Welt und in Israel selber“ gegen den Zionismus ausgesprochen haben: Antisionisme, une histoire juive, hrsg. von Béatrice Orès / Michèle Sibony / Sonia Fayman, Paris: Éditions Syllepse, 2023, (Utopie critique), 368 S., ISBN 979-10-399-0153-6,

[ii] Siehe Pressemitteilung der Nationalen Koordination der UJFP vom 11.9.2025: „Durchsuchung der UJFP: die Repression gegen die Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk spielt verrückt!

[iii] Siehe eine weitere Pressemitteilung der Nationalen Koordination der UJFP vom 11.9.2025.

[iv] Gaza. Mort, vie, espoir, hrsg. von Union juive française pour la paix, mit einem Vorwort von Pascal André u. Imane Maarifi, Paris: Riveneuve, 2025. – 279 S., ISBN 978-2-36013-734-3, € 20.
Mit Beiträgen von Béatrice Orès, Sarah Katz, Brigitte Challande, Mutasem Eleiwa (genannt Abu Amir), Pierre Stambul, Kamel Elias.

[v]Urgence Palestine“ ist eine bedeutende aktivistische Struktur der französischen Palästinasolidaritätsbewegung mit zahlreichen örtlichen Komitees. Der französische Innenminister Bruno Retailleau hat am 29. April die „Auflösung“ (der juristische Ausdruck für ein Verbot) von Urgence Palestine angekündigt, sie ist aber noch nicht umgesetzt worden; siehe auch die Petition gegen das Verbot: https://stop-dissolution.fr/

[vi] „Tsedek! Collectif juif décolonial“ versteht sich als „ein Kollektiv dekolonialer Jüdinnen und Juden, die gegen den staatlichen Rassismus in Frankreich und für das Ende der Apartheid und Besatzung in Israel-Palästina kämpfen.“ (Anfang ihres Manifests; auf Englisch: https://tsedek.fr/manifeste-en/)

[vii] European Jews for Palestine“ ist im Oktober 2024 gegründet worden. Mitgliedsorganisationen aus Deutschland sind die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ sowie „Die Shlaomies“, aus Österreich „Judeobolschewiener*innen“ und die Friedensbewegung West-Österreich, aus der Schweiz „Marad – collectif juif décolonial“ und das Zürcher „Kollektiv Doykait“.

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