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Innenpolitik

Die Köpfe verwirren – die Union und die Kopfpauschale

Von Thadeus Pato | 01.11.2004

Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist, sagt ein deutsches Sprichwort – und genau das muss sich die Führung von CDU und CSU gedacht haben, als sie kaum ein halbes Jahr nach den letzten mit ihrer Zustimmung an den Krankenversicherten begangenen Grausamkeiten begeistert die nächste ankündigte.

Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist, sagt ein deutsches Sprichwort – und genau das muss sich die Führung von CDU und CSU gedacht haben, als sie kaum ein halbes Jahr nach den letzten mit ihrer Zustimmung an den Krankenversicherten begangenen Grausamkeiten begeistert die nächste ankündigte.

Während die SPD den Weg in die völlige Privatisierung des Medizinsystems mit Rücksicht auf ihre Klientel auf Samtpfoten beschreitet – der Etikettenschwindel nennt sich bei ihr Bürgerversicherung (s. avanti Nr. 113) und soll 2006 ihr Wahlkampfschlager werden – haben sich CDU und CSU zu einem arbeitsteiligen Vorgehen entschlossen.

Merkeln…

Und das sieht derzeit so aus: Die CDU propagiert eine Kopfpauschale nach dem Schweizer Modell, will den Arbeitgeberanteil abschaffen („auszahlen“ heißt das bei Frau Merkel, aber Seehofer wies richtig darauf hin, dass das bedeuten würde, einen bestimmten Lohnanteil auf Dauer festzuschreiben und das ginge verfassungsrechtlich nicht), diese Pauschale nicht staffeln und die, die nicht zahlen können, aus Steuermitteln bezuschussen. Diese Steuermittel sollen über einen sogenannten Gesundheitssoli, das heißt, einen Aufschlag auf die Einkommenssteuer, eingetrieben werden. Dass damit weder Wählerstimmen zu holen sind, noch dass das Ganze wirtschaftlichen Sinn macht, weiß auch die CDU, denn die Erfahrungen aus der Schweiz, wo dieses System der Kopfpauschale bereits 1997 eingeführt wurde, sprechen für sich: Die Kosten stiegen zügig, die Pauschale dementsprechend innerhalb von sechs Jahren um 30 Prozent und nach Aussagen des bekannten schweizer Gesundheitsökonomen und Neokeynesianers Willy Oggier hatte das Ganze weder eine Auswirkung auf die Wirtschaftsentwicklung noch auf den Arbeitsmarkt – der Zweck, zu dem das Ganze angeblich gemacht wurde. Auswirkungen allerdings hatte es auf die Profitrate der Unternehmen, aber dass das mit der Schaffung von Arbeitsplätzen nichts zu tun hat, ist ja inzwischen nicht nur MarxistInnen bekannt.

…oder Stoibern ?

Das wissen die Christlichen und ihre wissenschaftlichen Helfershelfer natürlich auch. Und da kommt die Arbeitsteilung und gleichzeitig die Konkurrenz mit der CSU ins Spiel. Stoiber und Seehofer präsentieren sich als das soziale Gewissen der Union und schlagen in ihrer Variante der Kopfpauschale eine gewisse Staffelung und die Beibehaltung des Arbeitgeberanteils vor. Ein gemeinsames Modell wird dann irgendwo in der Mitte liegen, aber darum geht es eigentlich gar nicht.
Seehofer sagte bereits mehrfach recht deutlich, worum es geht: Nämlich darum, die nächste Wahl zu gewinnen und im Hinblick darauf hält er das CDU-Modell für kontraproduktiv. Merkel wiederum beteuert, ihr Modell sei viel sozialer als das der CSU, weil angeblich über die Steuererhöhung die hohen Einkommen erheblich mehr belastet werden, als die niedrigen.
Aber das sind alles Rechenkunststücke, die erstens auf sehr schwachen Füßen stehen, wie nicht nur die SPD, sondern auch Seehofer zu Recht anmerken, sondern es widerspricht auch der Devise „Steuersenkung für die Reichen um jeden Preis“, die vor Jahren von den drei großen Parteien ausgegeben und von der SPD-Regierung bereits teilweise umgesetzt wurde. Es wird ja niemand im Ernst annehmen, dass die gleichen Gestalten, die seit Jahren „Leistung muss sich wieder lohnen“ rufen und entsprechend dafür sorgten, dass die Unternehmerprofite über Senkung der Einkommenssteuern und Abschaffung der Vermögenssteuer saniert werden, ausgerechnet jetzt den umgekehrten Weg beschreiten und einen Teil der Gesundheitskosten auf eben diese Klientel abwälzen, wie es Frau Merkel vorzurechnen versuchte.

Und worum geht es wirklich ?

Worum es an erster Stelle geht, ist, den Menschen weiszumachen, dass eine radikale Neuregelung der Krankenversicherung sein müsse. Begründet wird das mit der „notwendigen“ Senkung der so genannten Lohnnebenkosten. Das ganze Getöse um die verschiedenen Varianten, wie dies erreicht werden könne (vermehrte „Zu“zahlungen, die ja auch automatisch den Arbeitgeberanteil senken (SPD), verschiedene Kopfpauschalenmodelle (CDU/CSU) soll verhindern, dass überhaupt eine grundsätzliche Debatte in Gang kommt, wer die finanziellen Folgen der gesundheitlichen Risiken, die das (Arbeits)leben in einer ausschließlich auf Konsum und Profit ausgerichteten Industriegesellschaft mit sich bringt, tragen soll. Über hundert Jahre halbwegs solidarische Krankenversicherung haben dazu geführt, dass der Gedanke der solidarischen Absicherung sich im Bewusstsein der Masse der Lohnabhängigen festgesetzt hat – das zeigen übrigens seit Jahren alle Umfragen zu diesem Thema. Sämtliche Modelle der Neuregelung des Krankenversicherungssystems sind nichts anderes als der Versuch, die letzten Reste von Solidarität, die in dieser Gesellschaft noch vorhanden sind, zu beseitigen und damit den Gedanken, dass die Reichen für die Armen mitbezahlen sollen, langfristig aus den Köpfen auszutreiben. Die Auseinandersetzung um die verschiedenen Kopfpauschalenmodelle dient nur als Scheingefecht, um das Prinzip als solches salonfähig zu machen und als unausweichlich erscheinen zu lassen. Hat man erst einmal die einkommensabhängige Beitragsstaffelung ganz (CDU) oder teilweise (CSU) abgeschafft und den Arbeitgeberanteil gleich mit (Außenminister Fischer will ihn „einfrieren“, das heißt scheibchenweise beseitigen, die CDU ihn ganz streichen), dann ist der Weg vorgezeichnet. Dann werden schrittweise mit Hinweis auf die Kosten die Leistungen weiter eingeschränkt, wie auch derzeit schon der Fall und am Ende hat man das, was man wollte, nämlich eine allgemeine Minimalabsicherung – alles weitere hängt vom Geldbeutel ab.

Mehr statt weniger Solidarität

Deshalb ist Gegenwehr gegen diese Pläne genau so dringend wie gegen die der SPD zur sogenannten Bürgerversicherung. Jeder Versuch, das Solidaritätsprinzip abzuschaffen oder auch nur einzuschränken, ist nicht nur für breite Teile der Bevölkerung eine ökonomische und/oder gesundheitspolitische Bedrohung, er ist auch ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Verdrängung des Gedankens der sozialen Verantwortung und der gesellschaftlichen kollektiven und solidarischen Risikoabsicherung aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Dabei soll nicht bestritten werden, dass auch das bisherige Versicherungssystem sozial ungerecht und dringend verbesserungsbedürftig ist. Die Solidarität beschränkte sich bisher auf die Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen, die zunehmenden „Zu“zahlungen haben das Solidaritätsprinzip bereits weidlich ausgehöhlt und die solidarisch aufgebrachten Beiträge landeten und landen zum größten Teil in den Taschen der Profiteure des medizinisch-industriellen Komplexes. Es ist also nicht ausreichend, schlicht für die Beibehaltung des bisherigen Systems zu plädieren un
d sich damit in eine rein defensive Position zu begeben.
Sowohl gegenüber dem SPD-Konzept als auch den Kopfpauschalenplänen der Union muss ein anderer Weg beschritten werden: Nicht mehr oder weniger Abbau von Solidarität ist die Frage, sondern Ausweitung des Solidarsystems durch komplette Aufhebung der Pflichtversicherungs- und Beitragsbemessungsgrenze und damit unbegrenzte Einbeziehung auch der Reichen in einen wirklichen Solidarausgleich. Gleichzeitig muss die private Verfasstheit des Medizinsystems, die nachweislich das System nicht nur teuer, sondern auch gefährlich und teilweise medizinisch kontraproduktiv macht, thematisiert und in Frage gestellt werden.

Und die Zukunft ?

Der derzeit laufende Angriff auf die allgemeine Krankenversicherung und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) sind übrigens nur ein Teil der Pläne, die sozialen Sicherungssysteme zu zerstören. Die nächste Sau wurde vor kurzem schon durchs Dorf getrieben: Die Unternehmerverbände sind emsig dabei, das bisher unangetastete System der gesetzlichen Unfallversicherung ins Visier zu nehmen. Als erstes stellten sie das System der Unfallrenten in Frage – mit irgend etwas muss man ja anfangen.
Aber die StrategInnen einer kompletten Zurichtung der Sozialsysteme nach dem Profitprinzip sind bereits sehr viel weiter, als allgemein bekannt ist. Was sie vorhaben erinnert an das Prinzip der Steuerpacht im China der Kaiserzeit. Dort pachtete ein Provinzfürst gegen eine Pauschale die Steuerhoheit über ein Gebiet und durfte dann die Steuern selbst erheben und die Differenz einstreichen. Für einen Versuch der Übertragung dieses Grundprinzips auf den Sozialbereich hat man einen neuen Begriff erfunden: „Sozialraum“ heißt das neue Zauberwort. Damit ist nicht das Zimmerchen für die Kaffeepause im Betrieb gemeint, sondern eine bestimmte Region, beispielsweise eine Kommune, mit allen ihren sozialen Einrichtungen. Diese „Sozialräume“ sollen komplett an private Organisationen abgegeben werden, die für eine Pauschale dann die Versorgung mit den entsprechenden sozialen Leistungen regeln. Machen sie es billiger, dürfen sie die Überschüsse behalten. Das dürfte der Qualität der Leistungen bestimmt sehr förderlich sein. Wie es dann in Altenheimen, Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen aussehen wird, kann sich jeder selbst ausmalen. Zukunftsmusik? In der bayerischen Stadt Rosenheim im Kinder- und Jugendbereich und in anderen Städten auch in anderen Bereichen wird ein solches Modell derzeit erprobt. Brave new world.

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