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Kultur

„Die Bourgeoisie kann nicht alleine herrschen“

Von Y. Guimbert und L. Laufer | 01.04.2008

„It’s a free world“ – der neue Film von Ken Loach irritiert die Kenner dieses Genre,  wechselt die Protagonistin des Films doch ins Lager der Feinde der Arbeiterklasse. Ein Interview, das wir unserer französischen Schwesterzeitung rouge entnommen haben.

„It’s a free world“ – der neue Film von Ken Loach irritiert die Kenner dieses Genre,  wechselt die Protagonistin des Films doch ins Lager der Feinde der Arbeiterklasse. Ein Interview, das wir unserer französischen Schwesterzeitung rouge entnommen haben.

Frage: Die Person der Angie – vielschichtig, verführerisch, sympathisch – begeht nach und nach ziemliche Schweinereien. Für wen steht sie?

Ken Loach: Angie kommt aus der Arbeiterklasse, aber als sie ihre Arbeit verliert, die sie genau so gut wie ihr Chef erledigt, hat sie genug davon, das Opfer zu sein und sie beschließt, ihre eigene Zeitarbeitsagentur, speziell für Immigranten, aufzumachen. Zu diesem Zweck muss sie Geld verdienen und gegen die Gesetze verstoßen: Sie kassiert die Sozialabgaben und zahlt sie aber nicht ein. Sie findet Wege, Zimmer an die Arbeiter unterzuvermieten… Nach und nach rollt der Rubel und wird für sie zur Obsession. Wer so handelt, für den ist der Arbeiter nichts als ein Mittel zum Zweck. Nach dieser Moral funktioniert das Geschäft und Angie ist nicht aus der Art gefallen, sondern getreues Abbild des modernen Unternehmers. Was sie macht, gehorcht voll und ganz der Profitlogik.

Angie kommt aus der Arbeiterklasse, entscheidet sich aber für die andere Seite – infiziert von deren Ideologie. Ihre Partnerin Rose will die Arbeiter bezahlen, aber Angie weigert sich –  „it’s a free world“ schließlich …

K.L.: Dies ist genau die Botschaft, die uns die Welt vermittelt: der Markt bestimmt alles. Angie ist up to date. Rose will sich der Logik des Profits nicht unterwerfen. Sie handelt im Gegensatz zu Angie nicht als Geschäftsfrau. Angie ist eins mit der Welt des Kapitalismus.

Angie bekommt auch Prügel von denjenigen, die sie ausbeutet. Soll das heißen, dass die Gewalt in den sozialen Beziehungen noch akzentuiert wird, weil Angie eine Frau ist?

K.L.: Die Immigranten werden derart beschissen, geprellt und bestohlen auf dem europäischen Markt … eine derartige Ausbeutung! Um ihres Profites willen ist Angie bereit, ihnen alle Brutalitäten, die das System bereit hält, zuzufügen … Die Gewalt, die sie ihrerseits anwenden, ist human dagegen, sie wird aus der Wut heraus geboren.

Abgesehen von der Szene, die in der Küche der iranischen Familie spielt, wird das Privatleben der Immigranten ausgeblendet. Warum?

K.L.: Dies ist die Sichtweise von Angie: die Szene in der Küche macht es möglich, den Immigranten ihre Menschlichkeit wiederzugeben. Dies kommt zum Ausdruck, als Angie die Ukrainerin, von der sie das Geld entgegennimmt, nach ihren Namen fragt. Dadurch wird sie endlich zu einem menschlichen Wesen und nicht zur bloßen Ware.

In Zeiten der EU-Verfassung wird meist von polnischen Klempnern gesprochen, im Film jedoch sind die Polen Krankenschwestern, Lehrer …

K.L.: Dies sind die unmittelbaren Auswirkungen des Kapitalismus auf die Gesellschaften, deren fähigste Kräfte fort gehen: an der Londoner Universität putzen Ingenieure und Rechtsanwälte; sie sind ohne Anhang gekommen und schicken das Geld an ihre zurückgelassenen Kinder. Oft wohnen sie zu acht oder neunt in ärmlichen Zimmern, für die sie 80 Euro pro Woche und Person bezahlen. Dadurch bleibt ihnen weniger als das Mindesteinkommen und raus kommen sie nur einmal in der Woche, nämlich um im Supermarkt einkaufen zu gehen. Die Engländer würden sich solchen Sklavenhalterbedingungen gegenüber verweigern, aber sie kämpfen nicht für die Immigranten, auch wenn die Unternehmer dank ihrer viel mehr Geld verdienen und sie letztlich zur Arbeitslosigkeit beitragen. Dadurch wird dem Rechtsextremismus und Rassismus Vorschub geleistet. All dies geschieht natürlich mit der (finanziellen) Unterstützung unsrer Regierungen und genau darin liegt die Heuchelei des Systems: Gesetze verabschieden, aber keine Mittel zu ihrer Umsetzung bereit stellen – eben weil diese unterbezahlte Arbeit absolut essentiell für ihr Funktionieren ist.

Dieses System verleitet Angie zu dem Glauben, ihm entkommen zu können, indem sie ihrerseits zur Ausbeuterin wird. Ein Wunderglaube?

K.L.: Sie ist nur ein kleines Glied in der Kette, aber an vorderster Front, da die Bourgeoisie nicht alleine herrschen kann und Leute wie Angie braucht, um die Konkurrenz unter den Arbeitern zu organisieren statt sie gegen den Kapitalismus kämpfen zu lassen.

It’s a free world!
Das Ausrufezeichen hinter dem Titel zeugt von der Ironie. Der neue Film von Ken Loach ist voller Elan und ätzender Schärfe, die donnergrollend in der Person der Angie daherkommt, in bemerkenswerter Weise verkörpert durch Kierston Wareing. Diese von Ken Loach entdeckte Schauspielerin verleiht dem Film eine ungeheure Energie. Weder ist sie positiver Held noch führt sie vorbildliche Kämpfe. Angie ist vielmehr eine moderne junge Frau, die zu den Tugenden des Neoliberalismus konvertiert ist und vom schnellen Geld träumt, um zur „self-made-woman“ zu werden. Mit ungewöhnlicher Energie begibt sie sich unter das Gesetz des kapitalistischen Dschungels und wird von der Ausgebeuteten zur Ausbeuterin.

Die Stärke des Films liegt darin, Angie zugleich als sympathisch und als Ungeheuer erscheinen zu lassen, das für den Erfolg zum Schlimmsten fähig ist. Weit davon entfernt, ein positiver Held zu sein, ist sie eine vielschichtige und durch ihre Widersprüche faszinierende Person. Dieses Portrait einer modernen, ehrgeizigen Frau, die sich von einem entmenschlichten wirtschaftlichen System treiben lässt und bereit ist, an dem Horror mitzuwirken, um Geld zu jedem Preis zu machen, ist nüchtern und wirkungsvoll zugleich.

Als ätzendes Portrait des Neoliberalismus vereint der Film in aller Schwärze Gewalt, Entmenschlichung und Werteverlust – all die zerstörerischen Dogmen, die die ganzen Formen der Sklaverei unserer Zeit ermöglichen.

*    Aus Rouge 2233 vom 3. Januar 2008, Übers. MiWe
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