Dialektik als Notwehr

Foto: Marc Wathieu, Roman Ondák, CC BY-NC-ND 2.0

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Hegel

Dialektik als Notwehr

Von Helmut Dahmer | 03.09.2020

„Algebra der Revolution“[1]

Vor 250 Jahren, am 27. August 1770, wurde Hegel als Sohn eines herzoglich-württembergischen Beamten in Stuttgart geboren. Seit 1817 Fichtes Nachfolger an der Berliner Universität, führte er die von Kant begonnene „philosophische Revolution“ zu Ende (Heine, 1834).[2] Das Projekt Hegels und seiner Studienfreunde am Tübinger Stift, Schelling und Hölderlin, war es, ihre „Zeit in Gedanken zu erfassen“, sie also sich und ihren Zeitgenossen verständlich zu machen. Sie studiertem Philosophie und Theologie, und ihre Studienzeit fiel mit der von den französischen „Enzyklopädisten“ (Diderot, D′Alembert, Holbach, Rousseau, Turgot, Voltaire) vorbereiteten französischen Revolution der Jahre 1789-1794 zusammen. Im Schlusskapitel seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen[3] schrieb Hegel über „Aufklärung“ und Revolution: „Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. […] Es war dieses […] ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert.“[4] Die dialektische Philosophie der Fichte, Schelling und Hegel war ein groß angelegter, kontrovers vorgetragener Versuch, die Periode der Gesellschaftsgeschichte, die sie durchlebten, zu begreifen. In ihrer Lebenszeit ging es um die Beseitigung einer jahrhundertealten Sozialordnung durch einen Volksaufstand; die Proklamation allgemeiner Menschenrechte unter der Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; den (utopischen) Versuch, Gleichheit und Vernunftreligion terroristisch (mit Hilfe von Guillotine und Bürgerkrieg) durchzusetzen; die Entmachtung der plebejischen Massen durch die Jakobiner und das Rückläufigwerden der Revolution (seit dem „Thermidor“ von 1794); die kriegerische Verteidigung und Internationalisierung des auf bürgerliche Interessen zurückgestutzten Revolutionsprogramms[5] durch den General Napoléon Bonaparte, der sich selbst zum Kaiser krönte, und schließlich die lange Phase der Restauration (optimistisch auch „Vormärz“ genannt)…

Was Hegel als „herrlichen Sonnenaufgang“ beschrieb, war die Erfahrung, dass die jahrhundertelang in Europa bestehende feudale Sozialordnung (das „bodenvermittelte Herrschaftsverhältnis“), die als eine schlechtweg „natürliche“ und zudem „geheiligte“ (nämlich gottgewollte) gegolten hatte, von der französischen Revolutionsregierung des „Dritten Stands“ praktisch von einem Tag auf den andern beseitigt werden konnte. Seit dem Hochmittelalter hatte sich in den europäischen Handwerks- und Handelsstädten eine neuartige Form von indirekter Vergesellschaftung (über Geld und Markt) herausgebildet. Diese Inseln städtischer Autonomie, die aus ständischen Bindungen freigesetzten Individuen (Kaufleuten, Plebejern, Söldnern) Lebensmöglichkeiten boten und in der Lage waren, ihre Selbstverwaltung militärisch zu verteidigen, waren die „steinerne Wiege“ der Bourgeoisie und der „>freien< Lohnarbeiterschaft“. Jakobiner und Girondisten träumten von einer Renaissance der antiken griechischen Stadtstaaten und der römischen Republik und beseitigten – im Bunde mit den plebejischen Sansculotten – die althergebrachten Privilegien von Adel und Geistlichkeit samt der Monarchie. So setzten sie politisch und in nationalem Maßstab die Herrschaft der Bourgeoisie durch.

Hegel hat die für seine Generation prägende Erfahrung der antifeudalen Revolution in dem berühmten Kapitel seiner Phänomenologie des Geistes (1806/07) über das „Selbstbewußtsein“ klassisch dargestellt, demzufolge – nach einem Kampf auf Leben und Tod – der „Knecht“ am Ende obenauf kommt, weil nur er (in seiner, vom „Herrn“ erzwungenen Knechtsarbeit, deren moderne Form Marx später als „Lohnsklaverei“ bestimmte) neue Erfahrungen mit seiner eigenen und mit der von ihm bearbeiteten äußeren Natur machen kann.

Aus der Erfahrung mit Aufklärung und Revolution (die, Heine zufolge, wie „Blitz“ und „Donner“, nämlich als Gedanke und Tat rasch aufeinander folgten) hat Hegel – in Kooperation mit Schelling – das Programm seiner Philosophie entwickelt: „Es kommt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“[6]

Was als „Substanz“ (also zeitlos Zugrundeliegendes) erscheint, sind die zu Institutionen auskristallisierten Gesellschaftsverhältnisse, die – vor vielen Generationen, auf einem bestimmten Niveau der Naturbeherrschung, notgedrungen und planlos entstanden – als „Natur“ imponieren, ohne es zu sein. Sie als „Subjekt“ aufzufassen, heißt, ihnen den Naturschein abzustreifen, der sie gegen Veränderung immunisiert. Mit Fichte zu reden, kommt es darauf an, die vermeintlichen „Tatsachen“ (wieder) als „Tathandlungen“ zu begreifen, um sie, neuen Bedürfnissen entsprechend, umzugestalten oder abzuschaffen.

Hegels eigentliche Domäne war die Entzauberung der Pseudonatur obsolet gewordener Institutionen. Diese (Re-)Subjektivierung von „Substanz“ hat er dann totalisiert, indem er auch die (außermenschliche) Natur als eine geistige, nämlich als „Geist in seinem Anderssein“ interpretierte, als Teil und Widerpart des „Weltgeists“, der im Laufe der Natur- und Menschengeschichte allmählich zu sich selbst kommen werde.

Durch die Arbeit vieler Generationen (in unterschiedlichen Gesellschafts-Formationen, die bestimmte Techniken ermöglichten und andere ausschlossen) hat die Menschheit das Gesicht unseres Planeten umgestaltet, anstelle der ungastlichen Natur ein für menschliches Leben günstiges Habitat geschaffen.

Die moderne, kapitalistische Form der Naturausbeutung hat indessen zu deren Verwüstung geführt. Auch die verwüstete Natur ist das Produkt „unseres“ Geistes und „unserer“ Arbeit, die wir in ihr nicht mehr erkennen. Auch sie ist der „Geist in seinem Anderssein“, nämlich der sedimentierte „Ungeist des Kapitalismus“. Und wie die jeweilige Folgegeneration die überkommenen Institutionen (Privateigentum, Familie, Staat…), in die sie einrückt, für die „naturgegebenen“ hält, so erscheinen der gegenwärtig lebenden Generation die aktuellen Rückwirkungen unserer Naturverwüstung – die Erderwärmung und ihre Folgen, die neuartigen Epidemien und die einsetzende Fluchtbewegung aus den unwirtlich gewordenen Zonen der Erde – als unverständlich-unabwendbare „Natur“-Katastrophen, also nicht als das, was sie in Wahrheit sind: Ausdruck von Sozialkatastrophen.

Die Verwüstung unseres Habitats ist die Folge der seit ein paar Jahrhunderten betriebenen, planlosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch privates Kapital. In der Renditenwirtschaft geht es um Gewinn, und die destruktiven Folgen des „erfolgreichen“ Wirtschaftshandelns (für Mensch und Natur) gehen in die private Gewinn- und Verlustrechnung prinzipiell nicht ein, bleiben außer Betracht und Kontrolle.

Hegels Wirkung beruht auf der von ihm begründeten Institutionenkritik als Wissenschaft, die Erklären und Verstehen kombiniert, besser: die darauf aus ist, Erklärungen in neuartige Einsichten zu überführen.[7] Vermittelt durch Ludwig Feuerbachs anthropologische Religionskritik (in der die religiösen Phantasmen auf die Ängste und Sehnsüchte der vergesellschafteten Menschen zurückgeführt werden), hat Hegel nicht nur das Denken von Marx und Engels (und vieler anderer Theoretiker des Anarchismus und Kommunismus) geprägt, sondern (direkt und indirekt) auch das Werk der großen Kritiker Schopenhauer, Nietzsche und Freud sowie den Kreis der „Frankfurter“ Sozialphilosophen um Max Horkheimer.[8]

Hegels kritisches Verfahren (zur Auflösung vorgeblicher „Substanzen“, vermeintlicher „Objektivität“) war die viel geschmähte, selten verstandene „Dialektik“.[9] Sie verdankt sich der Suche nach einem Ausweg aus dem Labyrinth der (jeweiligen) Gegenwart mit Hilfe der „Energie des Denkens“, dieser „ungeheure[n] Macht des Negativen“[10], und soll – als ein Teil der Knechts-Arbeit – den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ antizipieren und befördern, auf den, Hegel zufolge, die geschichtliche Entwicklung gerichtet ist. Unsere „Welt“ – die innere ebenso wie die sogenannte „Außenwelt“ (die durch die Arbeit vieler Generationen zu einem prekären Habitat umgestaltete „Natur“) – „haben“ wir, „begreifen“ wir nur als eine sprachlich vermittelte. Die konventionellen Begriffe, deren wir uns dabei bedienen, sind ebenfallsInstitutionen. Als abstrakt-allgemeine können sie das Individuelle, Besondere, um das es uns jeweils geht, nicht fassen – es entgleitet ihnen. Das nötigt zur Arbeit an und mit den Begriffen, zum Versuch, die Differenz zwischen Sachverhalt und Formulierung (Individuellem und Generellem) zu verringern, aus Begriffsschablonen „lebendige“, sachhaltige Begriffe zu machen, sie zu historisieren. Hegels „Logik“ soll die erstarrten, konventionellen Begriffe, mit denen wir uns über unsere Welt und über einander verständigen, wieder zum Leben erwecken: Sie sollen „konkret“ werden, die in steter Veränderung begriffene Welt nicht feststellen, sondern zum Ausdruck bringen. Nietzsche hat in der Dialektik die „Waffe der Unterdrückten“ gesehen, denen der gesellschaftliche Status quo unerträglich ist. Im Hinblick auf Sokrates schrieb er: „Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. […] Sie kann nur Nothwehr sein in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr.“[11] Das dialektische Verfahren, wie es die Feuerbach-Schüler Marx und Freud (der „Marx der Psychologie“) praktizierten, ist ein genealogisches: Obsolet gewordene, die vergesellschafteten Individuen nicht mehr fördernde, sondern bedrückende Institutionen der Sozial- und Lebensgeschichte[12] werden in Frage gestellt; ihre verdrängt-vergessene Entstehungsgeschichte wird (in therapeutischen Erinnerungsdialogen – mit Klassen beziehungsweise „Patienten“ – rekonstruiert, um den „denkenden und leidenden Menschen“ (Marx) die Möglichkeit zu verschaffen, sich von ihnen zu distanzieren, sich dem „Zwang dieser Verhältnisse“ zu entziehen, sich zu Autoren ihrer Geschichte zu machen. Denn der von Freud analysierte, fatale Wiederholungszwang, der in der Geschichte der Klassen und in den Lebensgeschichten der vergesellschafteten Einzelnen wirksam ist, beruht, wie Friedrich Engels erkannte, auf der „Bewusstlosigkeit der Beteiligten“.


[1] Alexander Herzen, der mit Marx befreundete russische Sozialrevolutionär, schrieb in seinen (in den Jahren 1854-70 veröffentlichten) Memoiren über die Hegelsche Logik: „Die Philosophie Hegels ist eine Algebra der Revolution, sie übt eine wahrhaft befreiende Wirkung und lässt keinen Stein von der christlichen Welt, der alten Welt der Überlieferungen, die sich selbst überlebt hat, auf dem anderen.“ Erinnerungen, Bd. I, Berlin (Wiegandt & Grieben) 1907, S. 272. – Lenin, von dem Max Horkheimer (1943) sagte, er sei „der materialistische Denker, der über diese Fragen am ernsthaftesten nachgedacht“ hat, studierte im Herbst 1914, nach dem Zusammenbruch der sozialdemokratischen Internationale, Hegels Logik und versah sie mit aufschlussreichen Randglossen.

[2] Die Geschichte dieser philosophischen Revolution schrieb Richard Kroner (1921-24): Von Kant bis Hegel. Tübingen (Mohr-Siebeck) 1961.

[3] Die, zusammen mit seiner „Rechtsphilosophie“, Hegels Soziologie ausmachen.

[4] Hegel, G. W. F. [1822-30]: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Theorie-Werkausgabe, Bd. 12; Frankfurt (Suhrkamp) 1970/71, S. 529.

[5] Statt der „Freiheit“: die uneingeschränkte Nutzung des Privateigentums bei Kauf und Verkauf von Produktionsmitteln, vor allem von Arbeitskraft; statt der „Gleichheit“: das formal gleiche Recht für alle, gleichviel, ob sie es nutzen und durchsetzen können oder nicht; statt der „Brüderlichkeit“: die Konkurrenz aller gegen alle.

[6] Hegel (1807): Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3, A. a. O. (Anm. 4), S. 22 f. („Vorrede“).

[7] Vgl. dazu Karl-Otto Apel ([1966] 1968): „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht.“ In: Apel (1973): Transformation der Philosophie; Frankfurt (Suhrkamp) 1973, Bd. II, S. 96-127.

[8] Horkheimer, Max (1937): „Traditionelle und kritische Theorie.“ Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt (Fischer) 1988. Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6; Frankfurt (Suhrkamp), 1973.

[9] In seinem Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals schrieb Marx (1873): „In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien.“ (Hegel glaubte ja nicht nur, die Bewegung des philosophischen Denkens in seinem „System“ zum Abschluss gebracht zu haben, sondern deutete, die Dialektik stillstellend, den preußischen Staat der Restaurationszeit (1815-1830) als Vernunftstaat…) „In ihrer rationellen Gestalt ist sie“, fuhr Marx fort, „dem Bürgertum und den doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“ Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, I. Bd. (1867). Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin (Dietz 1962, S. 27 f.

[10] Hegel (1807), a. a. O. (Anm. 6), S. 36.

[11] Nietzsche, Friedrich (1888): Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe), Bd. 6. München (dtv/de Gruyter) 1980, S. 70 („Das Problem des Sokrates“, 6).

[12] Privateigentum und Staat, Markt und Familie auf der einen Seite, neurotische Zwänge auf der anderen.

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