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Bildung, Jugend

Der rassistischen (Bildungs-)Politik entgegentreten

Von Clarissa L. | 29.04.2006

Kaum jemand zweifelt daran, dass die Vorkommnisse an der Rütli-Schule (Berlin) nur die Spitze eines Eisbergs sind. In der Öffentlichkeit gelingt es bisher nicht, die reaktionäre Bildungspolitik (etwa das dreigliedrige Schulsystem) in Frage zu stellen. Stattdessen beherrschen reaktionäre PolitikerInnen mit ihren Forderungen nach „hartem Durchgreifen“ (Schäuble) die öffentliche Diskussion.

Kaum jemand zweifelt daran, dass die Vorkommnisse an der Rütli-Schule (Berlin) nur die Spitze eines Eisbergs sind. In der Öffentlichkeit gelingt es bisher nicht, die reaktionäre Bildungspolitik (etwa das dreigliedrige Schulsystem) in Frage zu stellen. Stattdessen beherrschen reaktionäre PolitikerInnen mit ihren Forderungen nach „hartem Durchgreifen“ (Schäuble) die öffentliche Diskussion.

Wie schon bei der Vorstellung der PISA-Studien nutzen vor allem CDU/CSU und FDP die Gelegenheit, mit tatkräftiger Unterstützung durch die Mehrzahl der Massenmedien, das genaue Gegenteil von dem zu propagieren, was einer Integration oder auch nur der Verringerung der Gewalt an den Schulen förderlich wäre: Sie verstärken den Ruf nach noch mehr Aussortieren, nach Eliteschulen, Studiengebühren und vor allem: Die fehlende Lernbereitschaft und die zunehmende Gewalt an den Schulen ist die Schuld der MigrantInnen. Sie wollen sich einfach nicht integrieren. Wieder einmal wittert Stoiber eine guten Gelegenheit, sich mit fremdenfeindlichen Parolen in Szene zu setzen: Die Welt am Sonntag (2.4.06) zitiert ihn: „Ausländischen Familien, die in Deutschland mit ihren Kindern lebten und über einen längeren Zeitraum die Integration verweigerten, sollten in einem ersten Schritt bestimmte soziale Leistungen gekürzt werden. Bei dauerhafter Verweigerung der Integration müsse in einem zweiten Schritt auch der Aufenthalt in Deutschland beendet werden. Stoiber warnte, wer sich nicht dauerhaft integriere, müsse Deutschland wieder verlassen. Er werde in Berlin darauf dringen, das Zuwanderungsgesetz entsprechend zu ändern.“

„Innenminister Schäuble (CDU) will bei den ohnehin völlig unzureichend ausgestatteten Integrationskursen für Migranten drastisch kürzen. Gleichzeitig wird der Druck mit Einbürgerungs- und Gesinnungstests verschärft. So schafft man ‚Parallelgesellschaften’ – aber keine Integration“, so der GEW-Vorsitzende Thöne. „Wir brauchen ein integriertes Schulsystem, in dem Demokratie und soziales Verhalten gelernt und gelebt werden. Wir brauchen Unterstützungsangebote, beispielsweise die enge gleichberechtigte Kooperation zwischen Schule und Sozialarbeit. Sozialarbeiter, wie jetzt in Berlin geplant, als Feuerwehrleute und Ausputzer einzusetzen, ist das Herumwerkeln an Symptomen. Die Ursachen werden so nicht bekämpft“, betonte Thöne.
Reaktionärer Vorstoß
Die geballten rassistischen Vorstöße von Stoiber und Konsorten verfolgen ein doppeltes Ziel: zum einen die populistische Profilierung rassistischer Law & Order-Politik, zum anderen das ganz bewusste Ablenken von den eklatanten Defiziten des deutschen Schulsystems. Kaum ein Bereich ist in den letzten 20 Jahren durch die neoliberale Politik (mitgetragen von allen herrschenden Parteien) so zugerichtet worden wie der Bildungsbereich. Die zaghaften Versuche mit Förderstufen und integrierten Gesamtschulen werden Schritt für Schritt zerschlagen. Und wie schon bei der Vorstellung der PISA-Studien setzen reaktionäre Kräfte noch eins drauf: In Bayern werden ab dem kommenden Schuljahr für Zuwandererkinder Sonderklassen  eingeführt1.

Selbst nach kapitalistischen Kriterien ist das in Deutschland vor­angetriebene Aussortieren und Trennen in verschiedene Schulformen höchst ineffektiv, wie die PISA-Studien belegen. Ein Blick in das ebenfalls kapitalistische Skandinavien zeigt, dass gemeinsames Lernen bei weitem bessere Ergebnisse in der Bildung wie auch in der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund erzielen. (siehe Kasten)
Nun geht es uns ganz gewiss nicht um „Leistung“ und „internationale Vergleiche“, aber die gegenwärtige Debatte unter den herrschenden PolitikerInnen offenbart: Erstens wird alles getan, um eine grundlegende Strukturreform des deutschen Bildungssystems zu verhindern. Sie würde – mindestens in der Anlaufphase – beträchtliche Mehrausgaben erfordern. Und hier sind sich alle, von der CSU bis zur Linkspartei.PDS einig, dass „wir kein Geld haben“.

Zweitens widerspräche dies dem Elitedenken, wie es von fast allen herrschenden PolitikerInnen gefördert wird, von der Bildungsministerin Schavan, die schon in Baden-Württemberg entsprechend gewirkt hat, bis zur Förderung von Eliteuniversitäten und dem Wettbewerb unter den Hochschulen, wie es auch von SPD-PolitikerInnen mitgetragen wird. Die Föderalismusreform wird dies noch verschärfen.
Gerade das dreigliedrige Schulsystem und die frühe Selektionierung bewirken, dass Kinder nicht von anderen Kindern lernen können und dass so genannte Problemfälle in die „Restschulen“ abgesondert werden, wo sie in sehr frühem Alter abgeschrieben werden. Aus der Rütli-Schule hat aus dem letzten Abschlussjahrgang niemand einen Ausbildungsplatz gefunden. Wer keine Zukunftsperspektive hat, wird kaum Lernbereitschaft entwickeln. Und Unsicherheit macht resignativ und aggressiv.
Und da für Kinder mit Migrationshintergrund vor allem keine entsprechende Sprachförderung bereit steht, sind sie diejenigen, die weit überdurchschnittlich auf diesen Restschulen landen. In vielen dieser Schulen stellen sie 70% und mehr der SchülerInnen.

Das Erlernen der deutschen Sprache ist wichtig für das Berufsleben, für die Teilhaben an Bildung und Kultur sowie an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen. Aber dieses Erlernen ist ein kontinuierlicher Prozess, von dem nicht abgeschreckt werden darf. Die Vorstöße aus Bayern, den Zugang zur Schule von einem Sprachtest abhängig zu machen, oder der Deutschzwang auf dem Schulhof sind extrem rassistisch. Sie würden die Selektion noch früher ansetzen und noch mehr die Ghettobildung fördern.
Gemeinsam lernen, gemeinsam leben
In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte hat der Begriff Integration zwei entgegen gesetzte Bedeutungen: Die Herrschenden verstehen darunter eine Unterordnung unter die hiesigen Benachteiligungsverhältnisse, im Extremfall auch unter eine vermeintliche deutsche Leitkultur. Dabei sollen nur zwei Alternativen offen bleiben: Assimilierung und Verzicht auf die eigene Kultur oder….Ausgrenzung und im Extremfall Abschiebung.
Im fortschrittlichen Sinne verstanden und praktiziert ist Integration ohne jede Alternative. Nicht nur gemeinsam lernen und gemeinsam leben, sondern auch gemeinsam am gesellschaftlichen Leben teilhaben, gemeinsam gegen die herrschenden Verhältnisse kämpfen und gemeinsam für eine andere Zukunft streiten als sie der Kapitalismus uns bietet. Dafür sind Ghettobildungen äußerst schädlich.

Den fortschrittlichen Kräften stellt sich eine dreifache Aufgabe: Wir müssen dem rassistischen Diskurs über Zwangsmaßnahmen und Ausgrenzungen entgegentreten. Wir müssen zweiten
s die reaktionäre Verdummungsstrategie entlarven, nach der Problem beladene Jugendliche in eigenen Schulen und Klassen zusammenzufassen sind, um sie dort „begabungsgerecht“ zu fördern, was angesichts der Realitäten reiner Zynismus ist. Und drittens müssen wir immer wieder auf den Dreh- und Angelpunkt verweisen: Wenn sich an den Zukunftschancen der Jugendlichen nichts ändert, kann auch die beste pädagogische Arbeit oder Integration (jetzt im positiven Sinne) nur wenig ausrichten.
Von den staatlichen Stellen ist zu fordern:

  • •    Der Besuch aller Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen muss grundsätzlich gebührenfrei sein, von der Krippe bis zur Uni.
  • •    Nicht nur Abschaffung der Hauptschule ist zu fordern, sondern Einführung eines einheitlichen Schulsystems für alle bis zum Alter von 16 Jahren.
  • •    Mehr LehrerInnen und kleinere Klassen. Statt Heranziehen von pädagogisch nicht ausgebildeten Kräften vermehrte Ausbildung und Weiterbildung von PädagogInnen.
  • •    Flächendeckende Einrichtung von Ganztagsschulen und Einrichtung eines Mittagstischs
  • •    Die Sprachen der MigrantInnen müssen ordentliches Unterrichtsfach werden.
  • •    An allen Schulen sollten grundsätzlich auch Pädagog­Innen mit Migrationshintergrund sein.
  • •    Den Bildungseinrichtungen müssen DolmetscherInnen zur Verfügung gestellt werden
  • •    Grundsätzlich müssen alle Schulen (und Klassen) einen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufweisen, der dem in der Gesamtbevölkerung entspricht. Dazu muss – so lange keine entsprechenden wohnungspolitischen Strukturveränderungen umgesetzt sind – notfalls ein Bussing-System2 eingeführt werden.


Dass die „rot-rote“ Regierung in Berlin von durchgreifenden Maßnahmen nicht viel hält hat der Regierende Bürgermeister bekundet. Das „Bussing“, also das Verteilen  so genannter schwieriger Schüler per Bus auf andere Schulen der Stadt, auch um hohe MigrantInnenquoten zu verhindern, lehnte er als nicht praktikabel ab. „Wir werden im Gegenteil damit zurechtkommen müssen, dass es in manchen Schulen 80, 90 oder auch 100% MigrantInnenkinder gibt.“ Die Linkspartei.PDS trägt genau diese Politik mit und sieht auch hier keinen Grund, aus der Regierung auszutreten.
Mensch kann sicher sein: Entsteht keine breite Bewegung von Eltern, SchülerInnen und LehrerInnen werden bei uns noch nicht einmal skandinavische Verhältnisse durchgesetzt. Die Bildungsgewerkschaft GEW hat im Großen und Ganzen recht brauchbare Positionen, aber diese dringen kaum an die Öffentlichkeit und sie werden an keiner Stelle mit den sonstigen sozialen Auseinandersetzungen verknüpft. Eine gute Gelegenheit, eine Verbindung mit der sozialen Bewegung herzustellen ist mit Sicherheit die Demonstra­tion „Schluss mit den ‚Reformen’ gegen uns“ am 3.6. in Berlin. Dies sollten wir nicht nur der GEW, sondern auch den Elternvereinen und den SchülerInnnen und Studierendenverbänden vorschlagen.

1    „Bei uns gilt ab September: Kinder, die nicht Deutsch können, werden nicht mehr in eine deutsche Regelschule eingeschult. Sie müssen dann zuerst einmal in spezielle Förderklassen“ sagte Ministerpräsident Edmund Stoiber der „Bild“-Zeitung. Er empfahl dieses Modell anderen Ländern zur Nachahmung

2    In den USA wurde mit diesem System des Schulbustransportes in den Südstaaten für gemischte Klassen gesorgt, um so der Benachteiligung schwarzer Kinder entgegenzuwirken. Das System ist seit Ende der 70er Jahre weitgehend durchlöchert.

Gemeinsames Lernen
Mats Ekholm, schwed. Bildungsexperte und OECD-Gutachter schreibt in Erziehung und Wissenschaft 4/06: „Wir haben 1962 unser hoch selektiertes Schulsystem abgeschafft. Seitdem haben wir nur eine Schulform, die „grund skola“ eine Gesamtschule, in der alle Kinder bis zu ihrem 15. Lebensjahr gemeinsam lernen. Nach der grund skola folgt ein dreijähriges Gymnasium, das mehr als 90% eins Schülerjahrgangs besuchen […].

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